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sie hat­te nicht weiter vor, auf mei­nen Kom­men­tar ein­zu­ge­hen. »Lust auf ei­nen Spa­zier­gang?«

      »Klar doch!«

      Can­na­re­gio war an­ders, äl­ter, ver­fal­le­ner, ur­tüm­li­cher als das, was wir zu­vor von Ve­ne­dig ge­se­hen hat­ten. Bun­te, ver­wit­ter­te Häu­ser, dicht an dicht. En­ge Gas­sen, ge­heim­nis­vol­le Win­kel mit Res­tau­rants und Cafés, nicht feu­dal wie die auf dem Hin­weg im Zentrum Ve­ne­digs. Auch be­geg­ne­ten uns we­ni­ger Tou­ris­ten. Mittels Goog­le-Maps fan­den wir schließ­lich die Stra­ße mit dem Na­men Cam­piel­lo de le Scuo­le. Sie führ­te mit­ten durch das al­te jü­di­sche Ghet­to Vec­chio, wie ein gro­ßes Schild an ei­nem Tor ver­kün­de­te. Wäh­rend ich da­rüber er­staunt war, schien Chia­ra nicht über­rascht. Sie war schon in Ve­ne­dig ge­we­sen und hat­te auf­merk­sam den Rei­se­füh­rer stu­diert.

      »Die­ses Ghet­to hat allen Ghet­tos der Welt sei­nen Na­men ge­ge­ben. Es ist im 17. Jahr­hun­dert ent­stan­den. Weil das hier wie ei­ne klei­ne In­sel ist, hielt man die Ju­den vom Rest Ve­ne­digs fern, ge­währ­te ih­nen den­noch die Aus­übung ih­rer Be­ru­fe und den Auf­ent­halt in Ve­ne­dig.«

      »Das ist schon so lan­ge her. Wur­den sie hier auch … ver­folgt … ge­tö­tet …?«

      »Nun ja … die­se Ab­schie­bung ins Ghet­to war nicht ge­ra­de Aus­druck größ­ter Sym­pa­thien … aber Pog­ro­me? Nein, da­mals je­den­falls nicht. Of­fi­ziell wur­de die Auf­ent­haltspf­licht im Ghet­to un­ter Na­po­le­on be­reits En­de des 18. Jahr­hun­derts auf­ge­löst. Was aber nicht hieß, dass alle weg­ge­zo­gen sind. Bis heu­te le­ben hier Ju­den.«

      Chia­ra tipp­te auf die Sei­te in ih­rem Rei­se­füh­rer. »Steht alles hier.«

      »Und was war in der Zeit des Fa­schis­mus?«

      »Hm. So­weit war ich noch nicht. Ich müss­te nach­schau­en …«

      Zwi­schen­zeit­lich waren wir zum Cam­piel­lo de le Scuo­le 1256 ge­langt und blie­ben ste­hen. Wäh­rend viele der um­lie­gen­den Häu­ser eher alt und ver­fal­len aus­sa­hen, war die­ses Ge­bäu­de bes­ser in Stand ge­hal­ten. Die gro­ße dun­kel­grü­ne Tür fiel ins Au­ge. Da­ne­ben das Klin­gel­schild. Bass­ani.

      »All­ora, da wä­ren wir.«

      Wir schau­ten uns an.

      »Na dann, lass uns mal klin­geln.«

      Wir hör­ten das Ru­fen ei­ner fröh­li­chen Kin­der­stim­me im Hin­ter­grund, dann schnel­le Schrit­te. Ein Mäd­chen mit dunk­len Zöp­fen und ge­rin­gel­tem Kleid öff­ne­te die Tür. Ich schätz­te sie auf acht Jah­re. Mit gro­ßen Augen sah sie uns an. Schau­te auf das T-Shirt von Chia­ra und dann zu mir.

      Chia­ra lä­chel­te das Mäd­chen an und frag­te auf Ita­lie­nisch nach Sig­no­re Bass­ani. Die Klei­ne nick­te, trat bei­sei­te und ließ uns ein. Sie führ­te uns durch ei­nen en­gen Flur mit dunk­ler ge­mus­ter­ter Ta­pe­te in ein Wohn­zim­mer. Dort do­mi­nier­te ein lan­ger Tisch aus schwarz-la­sier­tem Holz den Raum, rings­he­rum schwar­ze Stüh­le mit ho­hen Leh­nen. In der Tisch­mit­te thron­te ein ho­her mehr­ar­mi­ger Mess­in­gleuch­ter, da­ne­ben stan­den ei­ne Ka­raf­fe Was­ser und Glä­ser. Im hin­te­ren Be­reich des Zim­mers be­fand sich ei­ne Schrank­wand mit un­zäh­lig vielen leder­ein­ge­bun­de­nen Bü­chern, da­vor ein Pult mit ei­ner gro­ßen Schrift­rol­le.

      Wir sa­hen uns immer noch er­staunt um, als ein klei­ner, ge­beug­ter, weiß­haa­ri­ger Mann mit schwar­zem An­zug und schwar­zer Kip­pa ein­trat. Runz­li­ges Ge­sicht, mit Alters­fle­cken über­säht, wa­che, dunk­le, freund­li­che Augen. Ich sah aus den Augen­win­keln, wie Chia­ra leicht zu­sam­men­zuck­te und den Reiß­ver­schluss ih­rer Leder­ja­cke über dem Keep-Calm-Spruch schnell hoch­zog. Der al­te Mann kam lä­chelnd auf uns zu. »Sie müs­sen Sid und Chia­ra sein. Will­kom­men im Ghet­to Vec­chio. Wie schön, dass Sie zu uns ge­fun­den ha­ben. Ich bin Rab­bi Sa­mu­el Bass­ani.« Er schüt­tel­te uns die Hand, for­der­te da­zu auf, uns hin­zu­set­zen und schenk­te uns Was­ser ein. Dann setz­te er sich uns ge­gen­über.

      »Sie wol­len al­so die Ge­schich­te der Fa­mi­lie To­ra­ni hö­ren. Nun, den An­fang kann ich Ih­nen er­zäh­len …«

      Ver­wun­dert sa­hen Chia­ra und ich uns an. Herr Bass­ani kann­te un­se­re Na­men und hat­te uns er­war­tet? Und wer war die Fa­mi­lie To­ra­ni?

      Die verlorene Geschichte

       Sie bei­de ha­ben mir et­was ge­zeigt, was ich schon längst ver­ges­sen hat­te. Die Welt un­vor­ein­ge­nom­men zu se­hen, oh­ne Vor­ur­tei­le und Res­sen­ti­ments. Of­fen, mit die­ser fast kind­li­chen Be­geis­te­rung. Ei­ne Leich­tig­keit, die ich in mei­nem Al­ter nicht mehr emp­fin­den kann, der ich je­doch frü­her rast­los hin­ter­her­ge­jagt bin. Mit all mei­nen Rei­sen, mit dem Sam­meln von Musik und Ge­schich­ten. Es sind die­se stau­nen­den Augen, die nur die Jugend hat, die mich glü­cklich ge­macht und mir et­was ge­schenkt ha­ben, was ich selbst viel­leicht nie in der Form er­le­ben konn­te.

       Und so er­scheint es mir auch jetzt, dass nur die­se Augen mein Le­ben be­trach­ten kön­nen.

      5. Bassani erzählt

      »Ich bin Jahr­gang 1927. Ich wur­de hier ge­bo­ren und bin so et­was wie der letz­te Hü­ter ei­ner jahr­hun­dert­eal­ten Tra­di­tion. Mein Vater und mein Groß­vater waren be­reits Rab­bi­ner und auch in den Ge­ne­ra­tio­nen da­vor ha­ben mei­ne Vor­fah­ren die Tho­ra und die Ge­schich­te un­se­rer Väter ge­lehrt. Ich ha­be das Glück, dass auch ei­ni­ge mei­ner Kin­der hier wohn­haft ge­blie­ben sind. Das hüb­sche klei­ne Mäd­chen, das Ih­nen die Tür ge­öff­net hat, ist mei­ne Ur­en­ke­lin He­le­na. Aa­ron – den Sie un­ter an­de­rem Na­men ken­nen – und sei­nen Vater Ab­ra­ham To­ra­ni ha­be ich nicht mehr ken­nen­ge­lernt. Ab­ra­ham ist schon vor mei­ner Ge­burt fort­ge­zo­gen. Wohl aber kann­te ich Aa­rons Groß­eltern, sei­nen On­kel und des­sen Fa­mi­lie. Ihr ehe­ma­li­ges Wohn­haus liegt direkt ge­gen­über. Wenn Sie ge­nau schau­en, kön­nen Sie immer noch die ver­wit­ter­ten Buch­sta­ben er­ken­nen. Li­bri To­ra­ni. Sie hat­ten in die­sem Vier­tel ei­ne der be­sten Buch­hand­lun­gen und waren so et­was wie ei­ne In­sti­tu­tion.«

      Ich sah zu Chia­ra hin­über. Das Foto. Sie nick­te. Dann kram­te sie in ih­rer Ta­sche und zog die Bild­aus­drucke her­vor, die uns To­ry per E-Mail ge­schickt hat­te, und zeig­te sie Sig­no­re Bass­ani. »Ja, das ist es. Aber es ist ei­ne spä­te­re Auf­nah­me. Muss so aus den Fünf­zi­ger­jah­ren sein.« Bass­ani be­trach­te­te das an­de­re Bild und run­zel­te die Stirn. »Das hier ist ge­wiss nicht von hier. Schau­en Sie. Der Jun­ge trägt ei­ne Kin­der­uni­form der Hit­ler­jugend.«

      Wir sa­hen uns das al­te Foto noch­mals an. Für mich waren es nur ein Mäd­chen im Dirndl und ein Jun­ge in Knie­bund­ho­sen ge­we­sen. Dass das ei­ne Hit­le­ru­ni­form war, war mir bis­her nicht auf­ge­fal­len.

      »Wir ha­ben auch ei­ne Gra­tu­la­tions­an­zei­ge aus ei­ner Zei­tung. Ei­ne Mar­ga­ret­he Reu­ters, ge­bo­re­ne von Ber­ne­ke. Zum Fünf­und­neun­zigs­ten.« Chia­ra hielt dem al­ten Mann den Aus­druck mit der An­zei­ge hin. »Ken­nen Sie sie?«

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