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A. S. Tory und die verlorene Geschichte. S. Sagenroth
Читать онлайн.Название A. S. Tory und die verlorene Geschichte
Год выпуска 0
isbn 9783749744053
Автор произведения S. Sagenroth
Жанр Контркультура
Серия A. S. Tory
Издательство Readbox publishing GmbH
»Klar doch!«
Cannaregio war anders, älter, verfallener, urtümlicher als das, was wir zuvor von Venedig gesehen hatten. Bunte, verwitterte Häuser, dicht an dicht. Enge Gassen, geheimnisvolle Winkel mit Restaurants und Cafés, nicht feudal wie die auf dem Hinweg im Zentrum Venedigs. Auch begegneten uns weniger Touristen. Mittels Google-Maps fanden wir schließlich die Straße mit dem Namen Campiello de le Scuole. Sie führte mitten durch das alte jüdische Ghetto Vecchio, wie ein großes Schild an einem Tor verkündete. Während ich darüber erstaunt war, schien Chiara nicht überrascht. Sie war schon in Venedig gewesen und hatte aufmerksam den Reiseführer studiert.
»Dieses Ghetto hat allen Ghettos der Welt seinen Namen gegeben. Es ist im 17. Jahrhundert entstanden. Weil das hier wie eine kleine Insel ist, hielt man die Juden vom Rest Venedigs fern, gewährte ihnen dennoch die Ausübung ihrer Berufe und den Aufenthalt in Venedig.«
»Das ist schon so lange her. Wurden sie hier auch … verfolgt … getötet …?«
»Nun ja … diese Abschiebung ins Ghetto war nicht gerade Ausdruck größter Sympathien … aber Pogrome? Nein, damals jedenfalls nicht. Offiziell wurde die Aufenthaltspflicht im Ghetto unter Napoleon bereits Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst. Was aber nicht hieß, dass alle weggezogen sind. Bis heute leben hier Juden.«
Chiara tippte auf die Seite in ihrem Reiseführer. »Steht alles hier.«
»Und was war in der Zeit des Faschismus?«
»Hm. Soweit war ich noch nicht. Ich müsste nachschauen …«
Zwischenzeitlich waren wir zum Campiello de le Scuole 1256 gelangt und blieben stehen. Während viele der umliegenden Häuser eher alt und verfallen aussahen, war dieses Gebäude besser in Stand gehalten. Die große dunkelgrüne Tür fiel ins Auge. Daneben das Klingelschild. Bassani.
»Allora, da wären wir.«
Wir schauten uns an.
»Na dann, lass uns mal klingeln.«
Wir hörten das Rufen einer fröhlichen Kinderstimme im Hintergrund, dann schnelle Schritte. Ein Mädchen mit dunklen Zöpfen und geringeltem Kleid öffnete die Tür. Ich schätzte sie auf acht Jahre. Mit großen Augen sah sie uns an. Schaute auf das T-Shirt von Chiara und dann zu mir.
Chiara lächelte das Mädchen an und fragte auf Italienisch nach Signore Bassani. Die Kleine nickte, trat beiseite und ließ uns ein. Sie führte uns durch einen engen Flur mit dunkler gemusterter Tapete in ein Wohnzimmer. Dort dominierte ein langer Tisch aus schwarz-lasiertem Holz den Raum, ringsherum schwarze Stühle mit hohen Lehnen. In der Tischmitte thronte ein hoher mehrarmiger Messingleuchter, daneben standen eine Karaffe Wasser und Gläser. Im hinteren Bereich des Zimmers befand sich eine Schrankwand mit unzählig vielen ledereingebundenen Büchern, davor ein Pult mit einer großen Schriftrolle.
Wir sahen uns immer noch erstaunt um, als ein kleiner, gebeugter, weißhaariger Mann mit schwarzem Anzug und schwarzer Kippa eintrat. Runzliges Gesicht, mit Altersflecken übersäht, wache, dunkle, freundliche Augen. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Chiara leicht zusammenzuckte und den Reißverschluss ihrer Lederjacke über dem Keep-Calm-Spruch schnell hochzog. Der alte Mann kam lächelnd auf uns zu. »Sie müssen Sid und Chiara sein. Willkommen im Ghetto Vecchio. Wie schön, dass Sie zu uns gefunden haben. Ich bin Rabbi Samuel Bassani.« Er schüttelte uns die Hand, forderte dazu auf, uns hinzusetzen und schenkte uns Wasser ein. Dann setzte er sich uns gegenüber.
»Sie wollen also die Geschichte der Familie Torani hören. Nun, den Anfang kann ich Ihnen erzählen …«
Verwundert sahen Chiara und ich uns an. Herr Bassani kannte unsere Namen und hatte uns erwartet? Und wer war die Familie Torani?
Die verlorene Geschichte
Sie beide haben mir etwas gezeigt, was ich schon längst vergessen hatte. Die Welt unvoreingenommen zu sehen, ohne Vorurteile und Ressentiments. Offen, mit dieser fast kindlichen Begeisterung. Eine Leichtigkeit, die ich in meinem Alter nicht mehr empfinden kann, der ich jedoch früher rastlos hinterhergejagt bin. Mit all meinen Reisen, mit dem Sammeln von Musik und Geschichten. Es sind diese staunenden Augen, die nur die Jugend hat, die mich glücklich gemacht und mir etwas geschenkt haben, was ich selbst vielleicht nie in der Form erleben konnte.
Und so erscheint es mir auch jetzt, dass nur diese Augen mein Leben betrachten können.
5. Bassani erzählt
»Ich bin Jahrgang 1927. Ich wurde hier geboren und bin so etwas wie der letzte Hüter einer jahrhundertealten Tradition. Mein Vater und mein Großvater waren bereits Rabbiner und auch in den Generationen davor haben meine Vorfahren die Thora und die Geschichte unserer Väter gelehrt. Ich habe das Glück, dass auch einige meiner Kinder hier wohnhaft geblieben sind. Das hübsche kleine Mädchen, das Ihnen die Tür geöffnet hat, ist meine Urenkelin Helena. Aaron – den Sie unter anderem Namen kennen – und seinen Vater Abraham Torani habe ich nicht mehr kennengelernt. Abraham ist schon vor meiner Geburt fortgezogen. Wohl aber kannte ich Aarons Großeltern, seinen Onkel und dessen Familie. Ihr ehemaliges Wohnhaus liegt direkt gegenüber. Wenn Sie genau schauen, können Sie immer noch die verwitterten Buchstaben erkennen. Libri Torani. Sie hatten in diesem Viertel eine der besten Buchhandlungen und waren so etwas wie eine Institution.«
Ich sah zu Chiara hinüber. Das Foto. Sie nickte. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog die Bildausdrucke hervor, die uns Tory per E-Mail geschickt hatte, und zeigte sie Signore Bassani. »Ja, das ist es. Aber es ist eine spätere Aufnahme. Muss so aus den Fünfzigerjahren sein.« Bassani betrachtete das andere Bild und runzelte die Stirn. »Das hier ist gewiss nicht von hier. Schauen Sie. Der Junge trägt eine Kinderuniform der Hitlerjugend.«
Wir sahen uns das alte Foto nochmals an. Für mich waren es nur ein Mädchen im Dirndl und ein Junge in Kniebundhosen gewesen. Dass das eine Hitleruniform war, war mir bisher nicht aufgefallen.
»Wir haben auch eine Gratulationsanzeige aus einer Zeitung. Eine Margarethe Reuters, geborene von Berneke. Zum Fünfundneunzigsten.« Chiara hielt dem alten Mann den Ausdruck mit der Anzeige hin. »Kennen Sie sie?«