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einer Ganzheit auch die treibende Kraft, die zunehmend Begegnungsräume – bald mehr virtuell als in der Realität – entstehen lässt, in denen wir hoffen, wieder anzukommen, wieder ganz, wieder eins zu werden.

      Meine Geburt hat für mich dieses Moment der Trennung. Sie war geprägt von einem unbändigen, kraftvollen Bestreben, in die Welt zu treten. Der Wunsch meiner Mutter war, mich aus der natürlichen Hockhaltung zu gebären. Doch sie wurde in die Rückenlage gezwungen. So wurde ich entbunden, nicht geboren. In dieser Position bereiteten ihr die Wehen solche Schmerzen, dass ihr Kreislauf kollabierte. Ob sie darüber hinaus noch eine damals nicht unübliche sogenannte Durchtrittsnarkose bekam, ist nicht sicher. Für mein Gefühl war meine Mama „weg“. Meine Blutversorgung brach kurzfristig zusammen – es war dies ein Erleben des Sturzes in die bodenlose, unendliche Tiefe, das Nichts, die Verlorenheit, verbunden mit tiefer Angst. So kam ich mehr tot als lebendig zur Welt.

      Bis in die späte Kindheit hinein begleitete mich im Schlaf die Verarbeitung mittels eines wiederkehrenden Alptraums, in dem ich aus dem Fenster stürzte. Dennoch bin ich dankbar dafür, wie es war. Denn durch mein Erlebnis habe ich mir die Erinnerung bewahrt, dass nicht alles, was sich nach Sterben anfühlt, mit dem Tod einhergeht. Und es war meine Liebe und die Liebe meiner Eltern, die mich im Leben hielt.

      Das kraftvolle, etwas zu schnelle, forcierte Voranstürmen wurde zu einem Muster, das manche Beule und manchen Schmerz brauchte, um mich von ihm zu befreien. Und bis heute begegnet mir von Zeit zu Zeit noch das Gefühl, allein und verloren zu sein. Gleichzeitig ist dies eine treibende Kraft, die meine Sehnsucht nach Verbundenheit speist, wissend, dass es nur Liebe ist, die diese kreiert.

      Nach der Geburt ist der sofortige Kontakt des Kindes zu seiner Mutter von zentraler Bedeutung. Das Kind kennt seine Bezugsperson zwar inwendig, muss nun aber auch mit dem, was von seiner Mama im Äußeren wahrnehmbar ist, vertraut werden. Die Stimme hört sich anders an, die Geruchswahrnehmung ist an der Luft eine andere. Ganz neu ist für das Baby ihre Körpersprache, insbesondere die Mimik. Zuerst lernt es, das Gesicht seiner Mama zu erkennen. Dies ist die Grundlage für die Kind-Mutter-Bindung. In dieser ersten Phase ist viel Kontakt zur Mutter oder einer anderen klaren Bezugsperson von zentraler Bedeutung. Das Baby lernt sich selbst unter den neuen Umgebungsbedingungen kennen, die Grundlage für die später duale Wahrnehmung wird gelegt. Je weniger verschiedene Gesichter das Neugeborene sieht, umso leichter tut es sich, eine gespiegelte Wahrnehmung seiner selbst zu entwickeln. Diese Spiegelung ist aber immer nur eine verzerrte Wahrnehmung des Kerns. Oft sind die Neugeborenen in dieser Phase noch sehr verschlafen und introvertiert.

      Erst ab etwa der 6. Woche sind die Babys richtig angekommen und es gibt eine Art Aufwachen in dieser Welt.

      Idealerweise hat das Kind zu diesem Zeitpunkt des Erwachens eine erste Orientierung zu sich bekommen und angefangen, eine Bindung zu entwickeln. Den stetigen Wechsel von Entwicklung nach innen und Entwicklung nach außen hat das Kind schon die gesamte Embryonalzeit hindurch vollzogen. Nun beginnen gegenüber dem Außen das Erkennen und Spiegeln der Gesichtsausdrücke der Bezugsperson. Seine Mimik bleibt für lange Zeit nur die Summe der Gesichtsausdrücke der Eltern oder sonstigen frühen Bezugspersonen. Mit etwa einem halben Jahr kommt wieder eine Phase der Introversion, das Baby beginnt, auch nach innen zu spüren und seine Gefühle wahrzunehmen. Es spiegelt nunmehr nicht nur die Mimik, sondern auch die Emotionen. Und das Kind hat gelernt, wie es sein muss, wie es „funktionieren“ muss, um an Liebe, Nahrung, Aufmerksamkeit und Ansprache zu bekommen, was es braucht. Die ersten neun Lebensmonate sind eigentlich eine Fortsetzung der Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutterhöhle. Erst dann hat der Säugling die Reife, die jedes andere Säugetier schon von Geburt an hat. Lediglich bei Kängurus findet diese zweite Phase im Beutel seiner Mutter statt. Im Vergleich dazu sind Menschenbabys in dieser zweiten Hälfte schon vielfältigen Eindrücken und Einflüssen ausgesetzt.

      Die Unreife zum Zeitpunkt der Geburt ist die Grundlage dafür, dass das menschliche Gehirn so lernfähig und programmierbar ist – viel mehr als bei jedem anderen Lebewesen. Man bezeichnet dies als Neuroplastizität. Neben dem Geburtserlebnis liegt in dieser Mischung aus Hilflosigkeit und Formbarkeit auch die Frage nach der eigenen Identität und die Ursache und Bedeutung des Bedürfnisses des Babys – und von uns Menschen generell – nach Nähe, Umhüllung, Geborgenheit und Verbundenheit.

      Mit neun Monaten findet dann eine Art zweite Geburt statt, das Baby wird extrovertierter, es dezentriert sich. Es schaut nicht mehr in erster Linie nach seiner Mama, sondern beginnt sich für das zu interessieren, was sie interessiert.

      So ist es ein fortlaufender Prozess, in dem das Kind Reize aus seinem Umfeld und seiner Umwelt absorbiert. Das Selbst wird bekleidet mit den Masken der Persönlichkeit und verhüllt durch den Schleier der Illusion.

      Wenn Du Vater oder Mutter bist oder wirst, aber auch wenn Du sonst in Kontakt mit jungem Leben bist, so bringt der wachsende Embryo und Fötus, das Baby, Kleinkind und Kind Dich in Resonanz, berührt Erinnerung in Dir an Dein Erleben in den entsprechenden Zeiträumen. Und es weckt in Dir Bewusstheit für Deinen Kern und Dein Potential. Denn Kinder sind viel näher an einem Zustand der Non-Dualität dran und bringen uns dadurch mit dieser wieder in Kontakt.

      Ein schönes Bild ist das eines Updates. Es ist, als ob jeder von uns mit der Auslieferung schon eine Update-Berechtigung für das vorinstallierte Betriebssystem mitbringt. Die Elternschaft ist manchmal das auslösende Moment, den Download des nächsthöheren Betriebssystems zu beginnen. Denn die Kinder werden schon mit der übernächsten Version ausgeliefert. So erzeugt das Zusammenleben und Begleiten von Kindern einen permanenten Entwicklungssog und manchmal auch -druck. Kinder in Deinem Umfeld laden Dich ein, fordern Dich heraus, Deinen Blick auf das Leben zu verändern und Dich zu erinnern, wer Du eigentlich bist.

      Für mich war der bestimmbarste Wendepunkt in meinem Leben meine Vaterschaft. Bis dahin war ich fast immer der strahlende Sunnyboy. Aber es war kein freies, echtes Strahlen, sondern lediglich meine Maske. Wenn mir jemand traurige oder tragische Nachrichten überbrachte, verzog es meinen Mund unfreiwillig zu einem grimassenartigen Grinsen. Mein künstlich permanentes Strahlen war ein Teil meines Überlebensmusters. Der unstillbare Hunger meines Egos nach Liebe, Zuwendung und Anerkennung und mein auseinanderbröckelndes Elternhaus schufen die Notwendigkeit dieses Musters, um mein Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit bestmöglich zu befriedigen.

      Schon mit der Schwangerschaft meiner Frau fing die Stabilität dieser Muster an zu wanken. Plötzlich gab es Tage von Dunkelheit und Traurigkeit, Wut, Überforderung und Verzweiflung. Genau all die Gefühle, die ich jahrelang bestmöglich unterdrückt und weggesperrt hatte, kamen von Zeit zu Zeit hoch. Meine Kinder wissen so gut, wo die Stellen sind, die in mir weh taten und tun! Und sie in ihrem Alltag zu begleiten, lässt manch eigene Erinnerung wieder aufleben. So manche Tiefe habe ich durchwandert und mich damit gleichzeitig noch tiefer im Leben verwurzelt. Die Liebe meiner Eltern und treue Wegbegleiter sind wertvolle Unterstützung. Das Glück, das das Miterleben der Entfaltung meiner Töchter mit sich bringt, und die Bedingungslosigkeit der Liebe meiner Frau mir gegenüber sind die wichtigsten Zugänge zu meiner eigenen Liebe und Dankbarkeit.

      Die andere Herausforderung der Elternschaft ist, Kindern einen Rahmen, eine Struktur, eine Sicherheit zu geben, in der sie reifen können. Gleichzeitig sollen sie aber die Freiheit bekommen, sich in ihrem Rhythmus zu entfalten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir nie dahin kommen können, wo sie hingehen. So ist die Eltern-Kind-Beziehung ein Austausch: Die Kinder lernen von uns, sich in einer von Natur aus chaotischen Welt zu orientieren. Wir lernen von ihnen, wie Entfaltung geht. Sehr schön drückt es Khalil Gibran in seinem bekannten Text Von den Kindern aus.

      Ein letzter, aber wichtiger Aspekt in der Frage nach dem, wer oder was wir sind, ist die Wahrnehmung. Wie die Wortherkunft verdeutlicht, wird unsere Wahrnehmung nie eine Objektivität erreichen. Die Informationen, die unsere Sinnesorgane dem Thalamus zuleiten, sind nur elektrische Impulse. Der Thalamus ist das größte Kerngebiet des Zwischenhirns und gilt als Tor zum Unterbewusstsein.

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