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der Belege: ʿaqlī-naqlī oder yaqīnī?

      Ibn Taymiyya stellt diese 44 Punkte überblickend ganz allgemein fest:

      Die binäre Unterscheidung der Belege in entweder rational (ʿaqlī) oder textlich (naqlī) ist falsch.

      Das ist eine inkorrekte Weise, die Welt zu betrachten. Denn dadurch wird ein Konflikt erzeugt.

      Belege sollten stattdessen hinsichtlich ihrer Unbezweifelbarkeit, also ihres yaqīn-Status (Status der Gewissheit) betrachtet und gewertet werden.

      Damit ist gemeint: Wenn ʿaql yaqīn ist, geben wir ʿaql den Vorrang, nicht weil es ʿaql ist, sondern weil es yaqīn ist. Und wenn naql yaqīn ist, geben wir naql den Vorrang, nicht weil es naql ist, sondern weil es yaqīn ist.

      Wir sollten den Wert der Belege nicht danach bemessen, ob es ʿaql oder naql ist, sondern gemäß ihres Grades der Evidenz.

      Die Aufstellung dieser binären Demarkation (Abgrenzung) ist an sich schon falsch.

      Die Behauptung, dass ʿaql die Grundlage für die Annahme von naql ist, lässt sich besser verstehen, wenn man den Aschʿarismus kurz näher betrachtet.

       1.3.2.2.3 Aschʿarismus: naql gründet im ʿaql

      Die aschʿaritische Theologie (kalām) behandelt die ʿaqīda (Glaubenslehre) auf eine strikt festgelegte Weise, mit einer ganz bestimmten Methode.

      An den Beginn der Argumentation wird eine tabula rasa (leere Tafel) gesetzt: Der Geist ist leer. Daher ist es notwendig, rational zu beweisen, dass Gott existiert. Und im nächsten Schritt muss rational bewiesen werden, dass Gott Propheten sendet; und dann, dass der Prophet Wunder bringen muss; und dann, dass Muhammad (sas) ein wahrer Prophet ist. Daraufhin nimmt man den Glauben an. Denn die Aschʿariten wollten keinen blinden Glauben, al-imān al-muqallid. Blinder Glaube wird von ihnen missbilligt, womöglich sogar nicht einmal anerkannt.

      Den Aschʿariten zufolge besteht die erste Pflicht des verantwortlichen Menschen mit gesundem Verstand (mukallaf) darin, seinen Glauben zu durchdenken, d. h. rational zu durchdringen und zu begründen.

      ar-Rāzī bezieht in diesem Sinne Position: ʿaql kommt vor naql, denn ʿaql führt uns zu naql. Wenn wir einen Widerspruch finden und deshalb ʿaql verwerfen, verwerfen wir daher auch naql.

       1.3.2.2.4 Ibn Taymiyyas Erwiderung: naql von ʿaql unabhängig

      Ibn Taymiyya hingegen sagt: Deine Behauptung, dass ʿaql den Vorrang vor naql hat, ist nicht richtig, denn was naql feststellt, ist unabhängig von ʿaql. Was Allah und Sein Gesandter sagen, ist wahr ungeachtet dessen, ob du es weißt oder nicht oder ob dein ʿaql es versteht oder nicht.

      Was die aschʿaritischen Gelehrten sagen, ist in Wirklichkeit, dass die Wahrheit der Schrift für sie von ihrem ʿaql abhängig ist, nicht die Wahrheit der Schrift an sich.

      Das ist ein sehr tiefgründiger und bedeutungsvoller Punkt. Die Wahrheit der Schrift kann nicht von meinem oder deinem Geist abhängig sein. Denn sie ist kalām Allāh, das Wort Allahs.

      Ob jemand den Koran als kalām Allāh annimmt, fügt diesem nichts hinzu, ändert nichts an der Tatsache, dass er kalām Allāh ist. kalām Allāh ist völlig unabhängig davon, ob jemand ihn annimmt oder nicht. schaitān (Satan) lehnt ihn ab – was ändert das? Das ändert die Eigenschaften des Koran nicht.

      Sie müssen vielmehr verstehen, dass die Wahrheit von naql von ihrem ʿaql abhängig ist. Das ist wahr, aber nicht, dass die Wahrheit von naql unbedingt von ihrem ʿaql abhängig ist.

       1.3.2.2.5 Was meinst du mit ʿaql (Vernunft)?

      Ibn Taymiyya fährt fort – und das ist einer der wichtigsten Punkte in Darʾ -, indem er eine Frage aufwirft:

      Was genau meinst du mit ʿaql?

      Wenn du mit ʿaql den inneren Instinkt (gharīza) meinst, den die Menschen als natürliche Veranlagung besitzen, dann ist diese Annahme völlig falsch. Denn dieser innere Instinkt ist gar nicht fähig, der Schrift zu widersprechen.

      Wenn du mit ʿaql das erworbene Wissen (z.B. Physik, Mathematik, Biologie) meinst, dann ist dies in diesem Fall auch nicht richtig, und zwar aus folgenden Gründen (Ibn Taymiyya bringt hier viele Einzelheiten):

      1. Erworbenes Wissen unterscheidet sich von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, von Person zu Person. Was jemand heute für Vernunft hält, von dem wird er selbst morgen entdecken, dass es nicht Vernunft ist. Und was in einer Gesellschaft heute als Vernunft gilt, dazu wird eine andere Gesellschaft morgen sagen, dass es nicht Vernunft ist. Historisch gesehen, sind solide erscheinende rationale Beweise, insbesondere ethischer und metaphysischer Art, die von ʿaql abgeleitet sind, wandelbar. Sie verändern sich in der Geschichte. Das kann man nicht bestreiten.

      2. Eine andere Annahme von ar-Rāzī und der aschʾaritischen Schule ist die Einheit der Vernunft: Sie machen ʿaql zu einer einzigen großen und unteilbaren Entität. Das ist aber falsch. Was die Wahrheit von naql bewiesen hat, ist ein Teil von all dem, was man hat, ein Teil von deinem ʿaql. Dieser Teil hat bewiesen, dass Muhammad (sas) ein Prophet ist. Was nun vom Propheten kommt, könnte einem anderen Teil deines ʿaql widersprechen.

      Er teilt ʿaql in viele Teile auf. Und er sagt, dass der Teil, der bewiesen hat, dass er ein Prophet ist, nichts zu tun hat mit Allahs Namen und Attributen oder irgendeinem anderen Teil. Es gibt also keinen Konflikt zwischen ʿaql und naql, sondern zwischen einem Teil von ʿaql mit einem anderen Teil von ʿaql, der unabhängig von naql ist.

      3. Das ist ein Widerspruch im Denken. Denn du weißt entweder, dass der Prophet (sas) ein wahrer Prophet ist, oder nicht. Wenn er ein wahrer Prophet ist, dann verlangt ʿaql, dass du ihn annimmst. Wenn er kein wahrer Prophet ist, gibt es ohnehin keinen Konflikt. Du widersprichst dir sonst selbst. Es ist, als ob du zu dir selbst sagen würdest: Glaube nicht, wovon du weißt, dass es wahr sein muss, weil es in Widerspruch zur Wahrhaftigkeit der Person steht, die spricht.

      Mit anderen Worten: Du kommst dahin, den Propheten abzulehnen, weil du ihn nicht ablehnen wolltest. Warum hast du diesen Hadith abgelehnt? Weil den Hadith anzunehmen, bedeuten würde, ihn als Propheten abzulehnen.

      ar-Rāzīs Hauptpunkt besagt: Wenn ich etwas annehme, dessen Annahme intellektuell (oder rational) für mich unmöglich ist, dann ziehe ich meinen Intellekt (oder meine Vernunft) in Zweifel, wenn er (oder sie) mir sagt, dass dieser Mann ein Prophet von Allah ist.

      Wenn mein Intellekt (oder Vernunft) sich hinsichtlich dieses bestimmten hadīth oder āya (Koranvers) irrt, dann irrt er (oder sie) sich vielleicht auch darüber, dass er ein Prophet ist oder dass dies ein Buch von Gott ist. Um also den Propheten (sas) nicht abzulehnen, muss ich den Propheten (sas) ablehnen. Um den Propheten (sas) nicht abzulehnen, muss ich diesen Hadith ablehnen. Und du kommst schließlich dahin, genau das zu tun, was du ursprünglich eben nicht tun wolltest. Das ist offensichtlich ein logischer Fehlschluss (Fehler, Irrtum).

       1.3.2.2.6 al-qānūn al-kullī und sein Gegenteil

      Ibn Taymiyya stellt im 6. Punkt fest:

      Würde man das Gegenteil behaupten, so wäre es der Wahrheit näher als al-qānūn al-kullī.

      Was ist das Gegenteil?

      Wenn ʿaql und naql sich widersprechen, sollten wir naql den Vorrang geben.

      Wenn man das sagen würde – Ibn Taymiyya sagt es nicht-, so würde es logisch und rational mehr Sinn machen. Denn ʿaql beweist, dass naql als Ganzes wahr und gültig ist. Wenn es eine bestimmte Frage gibt, die ʿaql nicht versteht, macht es Sinn, diese Sache einfach anzunehmen und die Grenzen von ʿaql anzuerkennen. Denn ʿaql hat die Gültigkeit von naql im allgemeinen bestätigt.

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