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»Anne auf Green Gables« von Lucy Maud Montgomery denken – mittlerweile auch als Netflix-Serie »Anne with an E«. Anne mit ihrem überschäumenden Temperament wächst im Waisenhaus auf und wird dort schlecht behandelt. Immer wieder bezeichnet man sie als »Müll«. Aber sie verfügt über eine Gabe: ihre große Vorstellungskraft. In ihrer Fantasie hat sie sich eine eigene Welt erschaffen. Dort haben ihre Eltern sie sehr geliebt. Sie stellt sich vor, sie sei eine Prinzessin, wertvoll und wichtig, egal, wie viel Unschönes sie erleben muss. Die Aufseherinnen sind in ihrer Vorstellung dann nicht einfach nur fies und brutal, sie sind vielmehr Aufseherinnen in einem Schloss und halten die Prinzessin gefangen. Anne macht aus ihrer schwierigen Situation ein Spiel, mit dem sie sich ihre Würde, ihre Hoffnung und ihren Sinn für Schönheit und Freundschaft bewahren kann. Ungeachtet ihrer äußeren Situation bleibt sie in ihrem Inneren heil.

      Diese Geschichte steht sinnbildlich für ein Talent, das viele Kinder haben: die Begabung, sich selbst Geschichten zu erzählen, die sich wahr und real anfühlen. Kinder erfinden sich Freunde, wenn sie keine haben. Sie spielen weiter mit verstorbenen Geschwistern. Ein Teil von ihnen weiß, dass das nicht die Realität ist. Aber wenn sie spielen, fühlen sie sich besser. Als Anne älter wird, will sie wissen, wie es denn nun »wirklich« war, aber es gibt keine Unterlagen mehr zu ihren Eltern, nichts, was sie über ihre Vergangenheit wirklich wissen kann. Und sie erkennt: Sie fühlt sich viel stärker und liebenswerter, wenn sie sich einfach weiter vorstellt, dass ihre Eltern sie geliebt haben. Egal, wie die Realität war. Sie hat sich eine bessere Vergangenheit gezaubert und dabei ein einfaches Geheimnis erkannt: Sie kann sich ihre Vergangenheit selbst gestalten. Dadurch hat sie Gestaltungseinfluss auf die Gegenwart. Und bis in ihre Zukunft hinein.

      Das Gehirn macht mit

      Die Neurowissenschaften haben das mittlerweile auch bewiesen. Das Gehirn speichert unsere Erinnerungen an vielen Stellen, vor allem aber im Hippocampus im vorderen Teil des Gehirns. Allerdings vermag es nicht zu unterscheiden, ob eine Erinnerung tatsächlich passiert ist oder ob man sich nur kraftvolle Bilder vorgestellt hat (oder sogar schlicht geträumt hat). Sind die Bilder – ob nun real oder vorgestellt – von hoher emotionaler Bedeutung, verknüpft das Gehirn neuronale Bahnen und die Bilder haben einen prägenden Einfluss auf unser Körpergefühl, unser Verhalten und unseren Ausdruck. Da das Gehirn aber nicht unterscheiden kann zwischen Realität und Fiktion, haben wir sogar in der Gegenwart die Möglichkeit, uns eine andere Vergangenheit – oder auch eine andere Gegenwart oder eine neue Zukunft – vorzustellen.

      Wenn wir das oft tun, und mit Einsatz unserer ganzen Vorstellungskraft, können wir dem Gehirn Impulse geben, die wiederum andere neuronale Bahnen stärken werden: Wir schaffen uns »fiktive« Erinnerungen, die aber eben im normalen Ablauf unser Körpergefühl, unser Verhalten und unseren Ausdruck prägen. Mit anderen Worten: Durch achtsame Vorstellungskraft in Bezug auf die eigene Vergangenheit können wir unser Gefühl in der Gegenwart und für die Zukunft dauerhaft verändern.

      Wenn es also keinen faktisch prüfbaren Unterschied für das Gehirn macht, welche Geschichte, die wir uns erzählen, wahr ist und welche nicht, dann bleibt einfach nur eine Frage: Welche Geschichte ist besser? Welche Geschichte verursacht uns ein besseres Gefühl, stärkt unser Selbstbewusstsein, mit welcher Geschichte fühlen wir uns geliebt? Und: Wollen wir diese Geschichte bevorzugen?

      Licht ins Dunkel bringen

      Damit man etwas ändern kann, ist es allerdings sinnvoll, erst mal zu wissen, was denn gerade Stand der Dinge ist. Das heißt: Wie sieht die eigene Familiengeschichte aus? Wer gehört denn dazu? Wie heißen die Menschen? Was ist da überhaupt früher geschehen? Selbst wenn wir niemanden unserer Vorfahren kennen, so ist doch einiges an Mustern in der Erziehung unserer Eltern an uns weitergegeben worden.

      Und zum anderen sind da ja auch noch die Gene, durch die man mit teilweise völlig unbekannten Menschen verbunden ist. Wenn man also seine Familienverstrickungen lösen möchte, kann es hilfreich sein, Licht ins Dunkel zu bringen und nachzuvollziehen, welche Verstrickungen existieren. Ich erlebe es gar nicht selten, dass Klienten fast kein Wissen mehr über ihre eigene Familiengeschichte haben. Krieg und Flucht haben dazu geführt, dass etliche Geschichten und Erinnerungen verloren gegangen sind. Menschen sind gestorben und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde darüber sehr wenig gesprochen, am wenigsten über die, die den Krieg nicht überlebt haben.

      Falls wir gar keine Idee haben, wer außer unseren Eltern und Großeltern zu unserer Familie gehört, kann es interessant sein, sich auf die Suche zu begeben, nach Namen zu forschen und Fragen zu stellen. Oder wir lassen es bleiben, schließen Frieden mit dem Nichtwissen und konzentrieren uns darauf, uns mit dem zu beschäftigen, was uns jetzt am Herzen liegt: unsere Familie im Jetzt.

      Das Wissen um unsere Vorfahren ist nicht essenziell notwendig für unser jetziges und zukünftiges Glück und unser Leben im Allgemeinen. Allerdings kann es hilfreich sein, ungefähr zu wissen, woher man kommt, um zu entscheiden, wo man wirklich hingehen möchte. Aktuelle Probleme in der Gegenwart sind oft Spiegel für Verletzungen, die wir aus unserer Kindheit mit uns tragen – und die oft im Kontakt mit denen entstanden sind, die vor uns sind beziehungsweise waren und die ihrerseits geprägt sind von denjenigen, die vor ihnen waren. Anhand unserer Vorfahren erkennen wir nicht nur Muster und Ursachen von Schmerzen. Heilen wir alte Muster und schaffen einen neuen inneren Kontakt zur Vergangenheit, der nicht von Verlust, Scham oder Angst beherrscht ist, sondern von Verständnis und Vergebung, so kann die Vergangenheit auch Kraft und Unterstützung entfalten: durch das stärkende Gefühl von Wurzeln, Sicherheit und liebevoller Zugehörigkeit.

      Unsere spezielle deutsche Geschichte

      In Deutschland ist ein Verbundenheitsgefühl mit den Ahnen durch unsere spezielle Geschichte sehr verpönt, denn dieses Gefühl ist schwer korrumpiert, verdreht und missbraucht worden. Es ist für uns deshalb mehr als wichtig, achtsam mit Begriffen und Gefühlen zum Thema Ahnen umzugehen. Aber niemand von uns kommt aus dem Nichts, jeder ist verbunden mit denen, die vor uns gegangen sind – so wie mit denen, die nach uns kommen werden.

      Wenn wir bereits Kinder haben, dann ist uns vielleicht schon irgendwie klar: Auch wir werden einmal Ahnen sein. Was wollen wir dann weitergeben? Wie viel Verständnis, Achtsamkeit, Selbstvertrauen, Kraft zur Vergebung wollen wir verschenken? Wie gute Ahnen wollen wir einmal werden?

      Denn Ahnen zu haben, kann eine Quelle der Kraft und Unterstützung sein.

      Wurzeln und Prägung. Unsere Ahnen

      »Walking, I am listening to a deeper way. Suddenly, all my ancestors are behind me. Be still, they say. Watch and listen. You are the result of the love of thousands.

      Wenn ich gehe, nehme ich einen tiefer liegenden Weg wahr. Auf einmal sind all meine Ahnen hinter mir. Sei still, sagen sie. Sieh und höre. Du bist aus der Liebe von Tausenden hervorgegangen.«

      LINDA K. HOGAN, CHICKASAW NATION

      WER SIND EIGENTLICH UNSERE AHNEN?

      Als ich begann, mich mit meiner Familie zu beschäftigen, da hatte ich eigentlich gar nicht meine Ahnen im Sinn. Wir sollten in der Schule eine Projektarbeit über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erstellen. Unsere sehr fortschrittliche Lehrerin hatte uns erlaubt, dafür jede Medienform zu wählen, die uns passend erschien: Meine Freundin und ich entschieden uns für ein Hörspiel und dachten uns, wir interviewen am besten unsere Großmütter. Beide lebten noch, die eine hatte den Krieg im beschützten Südschwarzwald erlebt, die andere war aus Ostpreußen schon mit 17 Jahren als Krankenschwester auf Flüchtlingsschiffe beordert worden und dreimal untergegangen. Wir Enkelinnen dachten uns, dies würde doch einen ganz interessanten Gegensatz an Erfahrungen zeigen. Bis dahin hatte ich meine Großmutter niemals über ihre Geschichte, geschweige denn ihre Gefühle befragt. Ich wusste nur, was in Nebensätzen fallen gelassen wurde, hatte mich aber nie getraut, nachzufragen.

      Es erschien mir unvorstellbar, im Winter mit einem Schiff unterzugehen. Unvorstellbarer, so etwas dreimal zu erleben. Und noch unvorstellbarer, dabei Tausenden Menschen beim Ertrinken zusehen zu müssen. Mit 17! Ich war gerade 15 Jahre alt und

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