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Version von mir, die mich mal beruhigen kann? Ich diskutiere noch mit mir selbst, als sich plötzlich mein Ich als Sechsjährige vor mich setzt und mich anlächelt. Ich stöhne innerlich auf. Ich im Alter von sechs Jahren, das ist eine happige Angelegenheit und bestimmt nichts für diese kleine Fünf-Minuten-Meditation. Geh weg, sage ich ihr. Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Das machen wir bitte ein andermal … oder besser nie.

      Als ich sechs war, ist mein Bruder gestorben.

      Die Welt aus der Sicht einer Sechsjährigen

      In der Zukunft meiner Sechsjährigen, also in meiner gesamten Vergangenheit, werden wir nie wieder über ihn sprechen, es werden keine Geschichten über ihn erzählt, keine Bilder aufgehängt. Er wird aus der Familiengeschichte radiert, als hätte er nie existiert. Niemand wird meine Sechsjährige jemals fragen, wie es ihr ohne ihren Bruder geht. Sie ist ziemlich allein. Ich sehe sie an und fange an zu weinen. Es tut mir so leid, dass sie so allein ist. Dass niemand sie beschützen konnte. Allerdings sieht sie keineswegs traurig aus. Im Gegenteil. Ich wische mir die Tränen von den Wangen und sehe sie mir etwas genauer an. Sie schaut aus ihren klaren braunen Augen zurück und lächelt – ich kann es nicht anders sagen – verschmitzt. Wieso weint sie nicht? Wieso guckt sie mich so kess an, so gar nicht traurig? Fröhlich streckt sie mir ihre Händchen entgegen. Es ist nur eine ganz kleine Geste. Liebevoll, intim und natürlich. Durch diese kleine Geste verstehe ich etwas auf ganz einfache Weise: Meine Kleine war immer sicher. Das ist es, was ich in ihrem Blick lesen kann: »Mach dir keine Sorgen. Ich war immer schon sicher. Ja, das ist alles nicht schön, ich vermisse Jens, und meine Eltern sind nicht da. Aber ich bin hier. Ich sorge für mich, ich bin lebendig. Ich bin immer sicher.«

      Selbst in den ärgsten Augenblicken war sie stets behütet. Bei sich selbst. In ihrem Lächeln liegt keine Traurigkeit, keine Angst, keine Einsamkeit. Weil das nicht wirklich wahr war. Weil es nur manchmal wahr war. Aber eben nicht die ganze Zeit. Meine Kleine war traurig. Und sie war fröhlich. Meine Kleine war allein. Und sie wurde liebevoll im Arm gehalten.

      In ihrem Lächeln jetzt – also irgendwie offensichtlich in meinem – liegt einfach eine tiefe Gewissheit der eigenen Herzkraft und eines In-sich-selbst-geborgen-Seins. Das ist es, was sie mir sagt, bei 30 Grad, an einem Morgen irgendwo im Nirgendwo von Thailand, ganz ohne Worte: »Ich bin in mir selbst geborgen. War ich immer. Werde ich immer sein.«

      In diesem Augenblick fällt in meinem Herzen ein Stein in einen tiefen See bis zum Grund und findet endlich seinen Platz. Die Wellen, die er auslöst, werden noch lange nachschwingen. Die anderen haben an diesem Morgen eine Frau gesehen, die sehr still und aufrecht saß. Und lächelte, als hätte sie das Geheimnis des Lebens erkannt. Vielleicht dachten sie sich: Das ist nicht möglich. Ist es aber. Es ist möglich.

      Welche Geschichte will ich mir erzählen?

      Als ich damals in Thailand auf dem Boden saß und endlich verstand, dass ich sogar als Kind sicher gewesen war, löste sich ein dicker Knoten in mir, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Wir kennen das: Eine Last, die auf uns lag, spüren wir erst so richtig, wenn sie von uns abfällt. Mir war klar, dass meine Sechsjährige viel hatte wegstecken müssen. Nicht, dass ich mich nicht schon vorher damit beschäftigt hätte. Nur war ich jedes Mal wieder in der Traurigkeit angekommen. Ich war Expertin darin geworden, rational zu erfassen, was damals schiefgelaufen war. Und ich hatte die Schuld dafür verschiedenen Menschen in die Schuhe geschoben. Nur: Für mein Leben hat es nicht wirklich etwas gebracht. Zwar verstand ich jetzt meine Muster, lebte sie jedoch weiterhin fröhlich aus. Ich wusste einfach nicht, was ich hätte anders machen sollen. Bis zu jenem Moment, als die ganze Geschichte, die ich mir in all den Jahren über mich selbst erzählt hatte, einfach in sich zusammenfiel. Auf einmal verstand ich, dass ich mir viele Jahre lang eine Geschichte über mich selbst erzählt hatte und mir mit dieser Geschichte meine Identität aufgebaut hatte. Das ist völlig normal, die meisten Menschen tun es, ob unbewusst oder bewusst. Wir formen unsere Identität durch unser Erleben, durch unsere Erinnerungen, durch die Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, durch das, was man über uns sagt. Jetzt wurde mir mit einem Mal klar: Ich hatte die Wahl, die Geschichte meiner Kindheit als Geschichte mit oder ohne Happy End zu erzählen. Was damals geschehen war, konnte ich zwar nicht rückgängig machen, aber ich konnte mich entscheiden, welche Geschichte ich mir selbst weitererzählen wollte: die von dem Kind, das alleingelassen worden war. Oder die von dem Kind, das immer aufs Beste versorgt war.

      GLÜCK – WAS IST DAS EIGENTLICH?

      Die meisten von uns wünschen sich ein glückliches und sicheres Leben. Leider haben wir als Kinder keinen großen Einfluss auf unsere Lebensrealität. Wir sind abhängig von anderen und darauf angewiesen, wie sie mit uns umgehen, wie sie Situationen handhaben, wie sehr sie für uns da sein können. Erst wenn wir selbst Kinder bekommen und sie ins Großwerden begleiten, spüren wir, was das für eine Mammutaufgabe ist. Es ist vielleicht die schwierigste Aufgabe, die das Leben einem Menschen überhaupt stellen kann. Wir wollen unsere Kinder beschützen, für sie da sein, ihnen unsere Liebe schenken und ihnen klare Grenzen setzen. Und das unabhängig von eigenen Erlebnissen und davon, welche Schwierigkeiten wir tagtäglich zu meistern haben. Wir wollen alles richtig machen. Vor allem wollen wir eines: Unsere Kinder sollen glückliche Menschen sein und werden. Wenn wir selbst schon nicht glücklich waren, sollen es doch wenigstens unsere Kinder sein. Dabei vergessen wir, dass sich auch unsere Eltern genau das für uns gewünscht haben. Jedenfalls ist das meist so. Nur in extremen Fällen ist Eltern das Glück ihrer Kinder egal. Wenn ihnen an unserem Glück gelegen war, hatten sie jedoch oft eine ganz andere Vorstellung davon, was für uns gut und was schlecht sei, als wir selbst. Mit der Idee »Jedes Kind darf glücklich sein«, wie sie im Titel dieses Buches zum Ausdruck kommt, sollten wir also sehr achtsam umgehen. Wir dürfen uns fragen:

       Was bedeutet eigentlich Glück für mich?

       Was bedeutet Glück für mein Kind?

      Eltern versuchen, viel bis alles mit ihren Kindern richtig zu machen. Dennoch geraten sie an ihre Grenzen. Heutzutage sind die meisten Familien aus der Unterstützung der Gemeinschaft herausgerissen und mit Betreuung, Essen, Arbeit und Haushalt auf sich allein gestellt. Dazu kommen Deadlines und Termindruck, lange Arbeitszeiten und hohe Lebenshaltungskosten, die zusätzlich Stress verursachen. Ein Kind zu begleiten, ist die volle menschliche Erfahrung. Wir können uns nicht verstecken. Vielmehr werden wir bis zur tiefsten Erschöpfung gefordert. Und wenn wir nicht mehr weiterwissen, können wir unsere Kinder nicht wieder abgeben. Wir müssen Wege finden, wo uns kein Weg möglich scheint, denn der entspannte, fürsorgliche Umgang mit den eigenen Kindern ist nicht immer so einfach, wie uns das diverse Erziehungsratgeber weismachen wollen und wie das die Gesellschaft oft von uns erwartet. Wir vergreifen uns im Ton, sind gereizt, die Toleranzgrenze sinkt, die Wut wächst. Zusätzlich sind wir gefangen in allem, womit wir selbst groß geworden sind: den sogenannten Erziehungsfehlern unserer Eltern. Und die daraus resultierenden Glaubenssätze prägen manchmal unser Leben bis heute. Unbewusst verstärken sich solche alten Muster auch noch unter Druck. Und dann soll man die beste Mama oder der beste Papa sein.

      Die meisten Eltern möchten ihren Kindern von Anfang an, oft schon im Mutterleib, vermitteln, dass sie genau richtig sind, wie sie sind. Aber wie gelingt uns das, wenn wir selbst nicht glauben können, dass wir richtig sind, wie wir sind? Wie können wir Liebe unter solchen Bedingungen weitergeben?

      Wenn ich hier von glücklichen Kindern spreche, dann meine ich nicht das konsumbefriedigte Glücklichsein. Das hat zwar durchaus seine Berechtigung: Kinder können sich kurzzeitig glücklich fühlen, wenn sie ein Eis bekommen haben oder das lang ersehnte Spielzeug. Aber es geht um ein tieferes, ein lebensbestimmendes Gefühl von Glücklichsein. Ich spreche von dem tiefen Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man sich geborgen und sicher fühlt, wenn man weiß, dass man am richtigen Platz ist und sein darf, wie man ist. Wenn man sich der eigenen Natur gemäß entfalten kann und sich dabei liebevoll unterstützt und versorgt fühlt. Um ihre Kinder so begleiten zu können, ist es essenziell, dass Eltern ihre eigenen Kindheitswunden heilen lernen und sich erlauben, mit sich selbst glücklich zu sein. Dann können wir auch mal schimpfen, ohne dass sich unser Kind sofort entwertet fühlt.

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