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Rand und Band geriet und alles gestand.

      Oder dann die Geschichte von dem lebendig Begrabenen oder die von dem gefesselten Kerkerhäftling, auf den sich im Zeitlupentempo ein schwingendes, halbmondförmiges Pendel herabsenkte, mit messerscharfer Klinge … Das war zehn Nummern besser als alles von Enid Blyton, die im übrigen bei Edgar Allan Poe abgekupfert hatte: Der Schimpanse, den sie in »Rätsel um die grüne Hand« als dressierten Dieb überführt hatte, stammte von dem mörderischen Orang-Utan aus Poes Kriminalgeschichte vom »Doppelmord in der Rue Morgue« ab.

      Aus der Stadtbücherei wollte ich mir noch mehr von Poe besorgen. Dessen Geschichten waren weißgott spannender als meine anderen Freizeitbeschäftigungen, als da wären die chemische Analyse der Aggregatzustände der Stoffe und die physikalische Unterscheidung der Hubarbeit von der Reibungsarbeit.

      Bei Comet kaufte ich mir einen Plastikball, um damit im Garten rumzukicken, aber dem Ball ging gleich beim ersten Schuß die Luft aus, und dann raste auch noch irgendein fremder Köter durchs offene Gartentor rein, stürzte sich auf den Ball und biß hinein.

      Eins achtzig hatte sie mich gekostet, die Pille.

      Weil die Drucker streikten, gab’s am Montag keinen neuen Spiegel zu kaufen. Die Verleger boten 5,4 % Lohnerhöhung, die IG Druck und Papier forderte 9 %, und der Gewerkschaftsboß Leonhard Mahlein regte sich über die »Aussperrung« auf, was ich nicht verstand, weil die Streikenden doch sowieso streikten. Da hätte es ihnen doch egal sein können, wenn sie »ausgesperrt« wurden. Oder nicht?

      Mama boste sich über die Fotoabteilung von Ceka, weil die Englandfotos noch immer nicht fertig waren. »Das ist das allerletzte Mal gewesen, daß ich mich mit diesen Tröpfen eingelassen habe«, sagte Mama, aber das Problem war eben, daß die Filmentwicklung in Fachgeschäften wie Mundus viel mehr Geld verschlang.

      Tante Dagmar teilte uns telefonisch mit, daß sie Anfang Mai nach Venedig und an den Gardasee reisen werde. Nach Venedig wollte Mama auch noch irgendwann einmal, bevor dieses illustre Lagunenstädtchen im Meer versank: »Ich hab’s nun mal nicht so bequem wie meine Schwestern, die zweimal im Jahr in Urlaub fahren können, und nach Venedig zieht’s mich mehr als nach Hebelermeer! Und nun mach mir mal die Tür auf!«

      Ich tat wie geheißen, und Mama trug einen Stapel gebügelter und gefalteter Bettlaken, der ihr vom Bauch bis zum Kinn reichte, ins Obergeschoß hinauf.

      Mama bügelte auch Papas Taschentücher, obwohl gebügelte Taschentücher zum Reinrotzen genausogut waren wie ungebügelte. Mama bügelte sogar Papas Unterhosen.

      Der Kindesmörder Jürgen Bartsch hatte sich von Ärzten kastrieren lassen wollen, um sicherzustellen, daß er nie mehr einem Kind etwas antun werde, und nun war er bei der Operation an Herzversagen gestorben, in der Narkose.

      Sie könne diesen Mann verstehen, sagte Mama. Der habe seine perverse Veranlagung erkannt und unter seinem eigenen Trieb gelitten, und er sei dazu bereit gewesen, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Das müsse man diesem Menschen zugutehalten, und vielleicht sei es das beste, auch für ihn selbst, daß er nun unter dem grünen Rasen liege. »Wer will denn schon mit so ’ner Schuld beladen durchs Leben gehen? Sich an Kindern zu vergreifen und die auch noch abzumurksen hinterher … hurrijassesnee! Und denk mal erst an die armen Eltern! Das kann man sich gar nicht vorstellen, was die durchzumachen haben. Die werden doch zeit ihres Lebens nicht mehr froh!« Und ich sollte Mama eins versprechen, in die Hand: »Daß du nie, nie, nie zu irgendeinem Fremden ins Auto steigst! Egal, was der dir sagt!«

      Jürgen Bartsch, Andreas Baader und Hans-Georg Rammelmayr: Das waren die drei größten Gangster meiner Zeit, die ich dem Namen nach kannte. Und wen gab’s sonst noch so, aus vergangenen Tagen? Nero, Judas, Al Capone. Jack the Ripper und Billy the Kid.

      In der Meppener Tagespost stand, daß am Donnerstagvormittag eine partielle Sonnenfinsternis zu erwarten sei, die um 10.24 Uhr ihr Maximum erreichen werde, aber davon war nicht viel zu merken, als ich in der Schule hockte.

      Michael Gerlachs Schrift wurde von Brief zu Brief winziger. Da hätte mir ein Experte für Hieroglyphen gute Dienste leisten können.

       Traramtrari!

       Kommt Ihr wirklich in den Sommerferien? Wäre ja astrein! An Eurem Garten habe ich allerdings bis heute nichts entdeckt, was einer Aufbesserung bedürfte. Aber ich hab ja auch nur den Vorgarten gesehen. Und kommt Ihr die ganzen Sommerferien oder nur einen Teil davon? Denn wenn ich Schule aushab, kann man ja auch noch weggehen oder sonst was unternehmen. Mensch, ich bin schon ganz aufgedreht. Heißa! Wenn ich da aber so viel aufhabe wie heute, dann wird nicht viel aus den Unternehmungen.

       Du wirst staunen, wenn Du das Reha siehst, jetzt wo’s fertig ist. Sieht eigentlich ganz passabel aus, besonders abends, wenn die überall das Licht anknipsen. Bin ja mal gespannt, wann sich da der erste Selbstmörder runterschmeißt. Die Schule gleich gegenüber ist auch schon im Rohbau. Komisch, für Schulen brauchen die nur die halbe Zeit. Typisch.

       Wir werden übrigens am 30. konfirmiert. Am Dienstag ist »Generalprobe«. Hinknien üben und so weiter. Kann ja heiter werden.

       Jetzt sind schon wieder sechs Tage vergangen. Und es hat sich etwas Unerwartetes begeben: nichts! Wer zum Deibel hat die Langeweile erfunden? Unbestreitbar einer meiner Vorfahren. Muß ich von ihm geerbt haben, dieses Talent.

       Seit einer Woche ist mein Fahrrad kaputt. Bin aber zu träge, um mir Flickzeug zu kaufen. Aber ich würde mich wahrscheinlich auch dann nicht aufs Fahrrad schwingen, wenn’s repariert wär. Dazu bin ich nämlich auch zu faul.

       Und jetzt bin ich auch noch schreibfaul geworden, gerade in diesem Moment.

       Also, bis dann, und hoffentlich werden die Sommerferien nicht langweilig!

       Tschüß, Michael

      Stinksauer war Papa über die Telefonrechnung: 29 Mark hatte eins von den Afrikatelefonaten gekostet und ein anderes gar stolze 74! Er werde diese Sabbelkiste abschaffen und verschrotten, rief Papa und knallte die Kellertür hinter sich zu.

      Mama klebte ihre Afrikafotos in zwei Alben, eins für uns und eins für Oma Schlosser. Einkleben mußte Mama auch die Fotos von der Englandreise, in das soundsovielte Elternalbum und andere Abzüge in Volkers Album: Trafalgar Square und Piccadilly Circus. Leider hatten die meisten Bilder aus England einen Blaustich.

      Im Anschluß daran mußte Mama noch einen dicken Briefumschlag mit Fotos von Opas achtzigstem Geburtstag zur Post bringen, für die Jeveraner.

      Fünfzehn Runden brauchte Muhammad Ali, um den Herausforderer Jimmy Young nach Punkten zu besiegen. Die Runden, fand ich, waren immer viel zu schnell wieder zu Ende gewesen, und Muhammad Ali hatte sich das Gesicht öfter als nötig mit beiden Boxhandschuhen zugehalten und sich in die Ringseile gelehnt.

      Die tropfnassen Spargelstangen, die Mama mittags auf die Eßteller verteilte, sahen irgendwie unanständig aus, wie dünne Pimmelchen mit weichgekochter Eichel obendran, aber wenn das außer mir noch jemand dachte, dann behielt er es für sich, und ich war selbst nicht scharf darauf, bei Tisch die Ähnlichkeit zwischen Pimmeln und Spargelstangen zu thematisieren.

      In der Begegnung zwischen Bremen und Gladbach, die 2:2 ausgegangen war, hatte Peer Roentved einen Elfer verschossen. Am Vorabend hatte Klaus Fischer mal wieder zwei Treffer gelandet, diesmal in Düsseldorf. Klaus Fischer – der neue Gerd Müller?

      Als Professor sollte Gregory Peck in einem Spionagefilm von einem zwielichtigen Ölmagnaten einen Haufen Geld für die Entzifferung einer Schriftrolle bekommen und verknallte sich in dessen Frau, die von Sophia Loren gespielt wurde und ihn davor warnte, daß ihr Mann die Absicht hege, ihn kaltzumachen, und dann ging’s in die Vollen, mit Verfolgungsjagden und Schießereien.

      Was die Leute alle an Sophia Loren so schön fanden, begriff ich nicht. Die mit ihren meterlangen Wimpern und der komischen Frisur?

      Viel besser war am Sonntagabend

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