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sagt er ohne jede Begrüßung. „Ich finde das unverantwortlich.“

      „Wieso?“, frage ich, unwillkürlich schmunzelnd.

      „Es sieht nicht schön aus in der Wohnung des Lieutenants.“

      „Wieso?“ Mein Herz verkrampft sich. „Ich denke, er wurde entführt?“

      „Er schon. Sein … Freund nicht.“ Mehr scheint der Polizist nicht sagen zu wollen. In der Zwischenzeit haben wir das Haus betreten und gehen zu Fuß in die zweite Etage. Ich habe dabei mehrere Déjà-vus. Bleiche Polizisten, die aussehen, als würden sie gleich kotzen. Dank der Andeutungen des jungen Polizisten ahne ich allerdings, was der Auslöser für die allgemeinen Übelkeitsanfälle sein könnte.

      Jack erwartet mich vor der Wohnung. Es ist eine dieser Luxuswohnungen in einem Luxusgebäude in einer Luxusgegend. Wo waren die Luxuswachleute des privaten Schutzdienstes? Und wieso kann sich Ben das eigentlich leisten? Zumindest die letztere Frage kann ich mir selbst beantworten: Weil er zurückgezogen lebt und kaum Geld für irgendwas ausgibt, was nicht unbedingt nötig ist.

      Ich nehme Jack kurz in die Arme. Dann deute ich auf die Wohnungstür. „Da drinnen muss es ja schlimm aussehen.“

      „Ja. Du warst in der Bank?“

      Ich nicke.

      „Dann wird es für dich nichts Überraschendes in der Wohnung geben. Wusstest du, dass Ben mit einem Mann zusammengelebt hat?“

      „Du?“

      „Ja. Aber er machte es nie öffentlich.“

      „Nun, ich habe es geahnt. Aber wir haben nie über sein Privatleben gesprochen.“

      Jack mustert mich mit einem undefinierbaren Ausdruck. Schließlich öffnet er die Tür und geht vor. Bestialischer Gestank schlägt mir entgegen. Die Quelle liegt auf dem Boden zwischen Badezimmer und Küche. Es war mal ein Mann, das kann ich erkennen.

      Ich schlucke. „Komisch, dass Menschen kein Problem haben, ein Huhn aus dem Supermarkt anzupacken, aber bei diesem Anblick loskotzen.“

      „Du findest das komisch?“

      „Nicht wirklich.“ Während ich an den Resten des Mannes, und es sind wirklich nur Reste, vorbeigehe, denke ich daran, dass es eben einen Unterschied macht, ob man ein Huhn als Huhn erkennen kann oder nicht. Nicht ohne Grund werden die Hühner meistens in Einzelteilen und mariniert oder paniert angeboten, um bloß keine Assoziationen zu wecken. Niemand wäre von einem Menschenschnitzel schockiert, wenn er den ursprünglichen Menschen nicht mehr erkennen könnte und auch nicht wüsste, dass es Menschenfleisch ist, was da grad in der Pfanne bruzzelt.

      Der Freund von Ben ist als Mensch erkennbar, auch wenn sein Kopf entkernt wurde.

      „Was ist passiert?“, erkundige ich mich. Ich stehe nun mit Jack im Wohnzimmer. Es sieht wild aus. Und als ich erkenne, dass eins der Beweisstücke, das neben dem Sessel liegt, ein Teil von einem Fuß ist, halte ich kurz den Atem an, sonst würde selbst mir schlecht werden.

      „Soweit wir rausgefunden haben, sind sie durch das Fenster gekommen. Es gab wohl einen kurzen Kampf. Dann haben sie den Freund – er hieß George Wilson – ausgeweidet, vermutlich, als er noch lebte. Und sind wieder durch das Fenster gegangen.“

      „Durch das Fenster? Wir sind im zweiten Stock.“

      „Das scheint sie nicht gestört zu haben“, erwidert Jack trocken.

      Ich trete zum Fenster, bleibe aber in einiger Entfernung stehen, um die Spurensicherung nicht zu stören. Die Scheiben liegen vor dem Fenster, in Tausenden von Scherben. Sie sind nicht durch das Fenster gekommen, sie sind durch das Fenster gesprungen. Bloß wer?

      „Gibt es Zeugen? Irgendwelche Hinweise, mit wem oder was wir es zu tun haben?“

      Jack schüttelt den Kopf. „Das Ganze hat vielleicht zehn Minuten gedauert, wenn überhaupt. Mehrere Bewohner haben was gehört, es hat ja auch ordentlich gerumst. Bei uns gingen zwei Notrufe ein. Als wir eintrafen, war es schon vorbei. Als unsere Leute die Tür aufbrachen, hat George noch gezuckt.“

      „Wie bitte? Er hat doch kein Gehirn mehr!“

      Jack zuckt die Achseln. „Anscheinend hatten sie es ihm erst kurz zuvor entfernt. Sein Körper bewegte sich jedenfalls noch.“

      Ich erschaudere. Erinnerungen kommen plötzlich hoch. Erinnerungen, die ich gut verschlossen wähnte. Dann merke ich nur noch, dass Jack mich auffängt.

      „Fiona? Fiona, was ist los?“

      Ich klammere mich an Jack fest und warte darauf, dass die Welt um mich herum sich beruhigt. Das Ganze dauert sicher nicht länger als ein paar Sekunden, aber das reicht, um Jack einen panischen Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern.

      „Fiona??“

      Ich atme ein paarmal tief durch und richte mich langsam auf. „Sorry … ich … ich habe mich an etwas Unangenehmes erinnert.“

      Jack mustert mich, dann nimmt er meinen Arm und zieht mich fort, fort von den neugierigen Blicken seiner Leute, in das Bad, und er schließt die Tür.

      „Fiona, das ist das erste Mal, dass ich eine solche Reaktion bei dir erlebe“, sagt er dann langsam.

      „Puuh ...“ Ich setze mich auf den Wannenrand und fische meine Zigaretten hervor. „Du auch?“ Und als er den Kopf schüttelt, zünde ich mir eine an. „Das Bild vom zuckenden Kerl … ließ die Frage in mir hochkommen, ob und wie er sich dabei fühlte … und das wiederum in mir mit Urgewalt die Erinnerung daran erwachen, wie sich so was anfühlt.“

      „Was anfühlt?“

      „Seinen Körper in Stücken zu verlieren.“ Ich ziehe an der Zigarette und bin wieder halbwegs bei mir. „Du weißt doch, wer ich bin.“

      „Ja. Aber wir haben uns noch nie über Details unterhalten. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass du auch schon ...“

      „Ausgeweidet wurde? Nun, es lief etwas anders. Aber am Ende konnte ich die einzelnen Teile meines Körpers auf dem Boden zerstreut rumliegen sehen, bevor ich endlich das Bewusstsein verlor. – Wie auch immer. Ich habe nicht mit diesem Flashback gerechnet.“

      „Vielleicht sollte jemand anderes den Fall übernehmen? Schon allein, weil du persönlich befangen bist.“

      „Willst du bei Gott anrufen? – Nein, so läuft das nicht, Jack. Du wirst mit mir vorliebnehmen müssen. Wir sind keine Behörde, bei uns gibt es keinen Notruf, keinen Dienstplan, keine Zuständigkeiten. Ich bin Fiona und zufällig in dieser Wohnung, zufällig in diesem Bad und sitze nur zufällig auf dieser Wanne und rauche zufällig diese scheißverdammte Zigarette!“

      „Schon gut, ich habe verstanden.“

      „Tut mir leid.“ Ich drücke die Zigarette aus und erhebe mich. „Ich will mir die Spuren draußen ansehen.“

      Allerdings nicht die in der Wohnung. Um die kümmern sich schon die Fachleute, die das besser können als ich. Ich gehe vorsichtig nahe an das Fenster heran, während unter meinen Sohlen Glas knirscht. Unter dem Fenster ein größerer Gemüsegarten. Pech für die Hobbygärtner, aber gut für mich, denn zwischen den Tomaten und der Paprika ist sehr gut zu erkennen, wo die Angreifer herkamen.

      „Sie scheinen von da unten hier hochgesprungen zu sein“, bemerke ich. „Hm.“

      „Hochklettern kommt nicht infrage?“

      „Dann hätten sie die Scheibe eingeschlagen, und dann lägen die Scherben ganz anders.“

      „Das stimmt“, gibt Jack zu. „Aber wer springt mal eben in ein Wohnung im zweiten Stock durch ein geschlossenes Fenster?“

      „Sehr gute Frage.“ Ich schaue mich draußen um. Niemand zu sehen. Bevor Jack reagieren kann, springe ich durch das Fenster und lande im Gemüsebeet. Da ich mich dabei darum bemühe, nicht die Spuren der Entführer zu zerstören, müssen weitere Tomaten dran glauben. Das ist blöd, denn der sich verteilende

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