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bewusst gewesen. Sigmund Freuds Werk, die Psychoanalyse, markiert einen tiefen Einschnitt im Selbstverständnis des Menschen. Nicht nur Medizin und Psychologie, sondern auch Kunst, Alltagsleben und unser Verständnis von der Gesellschaft sind von ihr beeinflusst. Worte wie »Verdrängung« oder »Freudsche Fehlleistung« gehören zum normalen sprachlichen Repertoire, und das Deuten von Träumen ist längst eine Art Volkssport geworden.

      WEG

      Sigmund Freud wird 1856 im mährischen Freiberg, dem heutigen Příbor in Tschechien, geboren. Sein Vater, ein jüdischer Wollhändler, ist in dritter Ehe mit Freuds Mutter verheiratet, so dass der junge Sigismund Schlomo – er wird sich erst 1878 Sigmund nennen – neben den kleineren Geschwistern auch zwei ältere Halbbrüder hat. Als er drei Jahre alt ist, zieht die Familie nach Wien. Hier wächst Freud auf.

      Schon als Schüler beweist er seine brillante Formulierungsgabe. Er studiert Medizin und wird 1881 promoviert. 1882 bis 1886 arbeitet er als Arzt am Allgemeinen Wiener Krankenhaus und setzt nebenbei seine wissenschaftliche Studien fort. 1884 entdeckt er die schmerzstillende Wirkung des Kokains, ohne den Anästhesieeffekt weiter zu verfolgen. Er experi-mentiert aber eine Zeit lang selbst mit Kokain und empfiehlt es auch, bis er sich eingestehen muss, ein Drogenproblem zu haben, woraufhin er von der gefährlichen Substanz Abstand nimmt.

      Von Oktober 1885 bis Februar 1886 arbeitet Sigmund Freud bei Jean Martin Charcot (1825–1893) am Krankenhaus Salpêtrière in Paris. Er wird Zeuge, wie Charcot bei Patientinnen unter Hypnose pseudoepileptische, so genannte hysterische Anfälle hervorruft. Das bestärkt ihn in der Vermutung, dass nicht körperliche, sondern psychische Ursachen hinter dem Krankheitsbild stecken.

      »Hysterie« steht damals für alle Verhaltensweisen, die übertrieben nervös, erregt und überspannt wirken. Der Begriff kommt vom griechischen hystéra – Gebärmutter. Tatsächlich gilt die Hysterie lange als Frauenkrankheit. Dem widerspricht Charcot. Er vermutet, dass vor allem traumatische Erlebnisse zur Hysterie führen. Heute wird der Begriff der Hysterie nicht mehr für die Diagnose verwendet, man spricht stattdessen von der histrionischen Persönlichkeitsstörung, wobei »histrionisch« für »theatralisch« steht. Rückblickend gesehen, spiegelt die Hysterie als sozial- und kulturgeschichtliche Erscheinung vor allem das Leiden der Frauen unter der sinnesfeindlichen Moral jener spätviktorianischen Zeit wider: Erotische Wünsche zu hegen oder sie gar auszuleben, gilt seinerzeit gerade für junge Mädchen und Frauen als anstößig – ein Konflikt, auf den viele Betroffene mit Symptomen reagieren. Indem diese Frauen für hysterisch erklärt werden, pathologisiert man ihre vitalen Bedürfnisse. Nicht zuletzt ist die Hysterisierung der Frauen Ausdruck des damaligen Geschlechterkampfes. Noch heute werden Frauen, um sie abzuwerten, gern als hysterisch – im Sinne von gefühlsbetont und irrational – bezeichnet.

      1886 eröffnet Freud in Wien eine nervenärztliche Privatpraxis und heiratet seine langjährige Verlobte Martha Bernays (1861–1951), Tochter einer vornehmen jüdischen Hamburger Familie. Drei Söhne und drei Töchter werden im Lauf der Jahre geboren. 1891 verlegt Freud seine Praxis in die Berggasse 19. Unter dieser berühmt gewordenen Adresse wird er fast ein halbes Jahrhundert lang leben und arbeiten. Spät, nämlich erst 1902, wird er außerplanmäßiger Professor an der Wiener Universität.

      Die »nervösen Leiden« seiner Patienten versucht Freud zunächst mit Elektrotherapie und Hypnose zu heilen. Bereits 1878 hat er sich mit dem Wiener Arzt und Philosophen Josef Breuer (1842–1925) angefreundet, mit dem er ab 1889 enger zusammenarbeitet und dabei auch einen zurückliegenden Fall auswertet: Breuer hatte 1880/81 die junge Bertha Pappenheim wegen Kopfschmerzen, Sehstörungen, Lähmungen, Absenzen und Angstzuständen behandelt – »hysterischen« Symptomen also, hinter denen er psychische Ursachen erkannte. Die Patientin, die unter dem Pseudonym »Anna O.« berühmt geworden ist, entwickelte gemeinsam mit ihrem Arzt eine »talking cure« (Redekur): Sie berichtete von jedem ihrer Symptome, wann und wie es aufgetreten war. Während dieses Aussprechens durchlebte sie die dazugehörigen aufgestauten Gefühle noch einmal und reagierte sie auf diese Weise ab.

      Das Reden, so schließt Freud jetzt gemeinsam mit Breuer, besitzt offenbar eine kathartische (reinigende) Wirkung, weil es die Vorgänge des Unbewussten beeinflusst. 1892 kommt Freud zu dem Schluss, dass die reinigende Aussprache völlig frei erfolgen muss, einzig von den Assoziationen des Patienten geleitet.

      Mit der kathartischen Redekur beginnt die allmähliche Entwicklung des psychoanalytischen Verfahrens. An dessen Wiege, so wird Freud 1909 rückblickend feststellen, steht letztlich nicht er, sondern Josef Breuer – und dessen einstige Patientin, wie der Freud-Biograf Ernest Jones zu Recht bemerkt. Bertha Pappenheim, eine später bekannte jüdische Sozialreformerin und Frauenrechtlerin, hat die Psychoanalyse allerdings zeitlebens sehr ambivalent beurteilt.

      Nach Joseph Breuer wird der Berliner HNO-Arzt Wilhelm Fließ für einige Zeit ein wichtiger Gesprächspartner für Freud. Die Korrespondenz mit Fließ entwickelt sich zu einer schriftlichen »Redekur« für den Begründer der Psychoanalyse. Das Prinzip, wonach sich ein Analytiker in der eigenen Seele gut auskennen muss, um anderen helfen zu können, hat er in dieser Zeit auf sich selbst angewandt. Bis heute durchlaufen die Analytiker während ihrer Ausbildung eine eigene Analyse – natürlich nicht mehr bei sich selbst wie Freud, sondern bei einem Lehranalytiker. Es wird freilich noch dauern, bis die Psychoanalyse sich von der anfänglichen Redekur zu ihrer ausgereiften Gestalt entwickelt.

      In den Briefen an Fließ berichtet Freud auch über eigene Träume und Fantasien. Der Traum erschließt sich ihm immer mehr als der »Königsweg« zu den tieferen Schichten der Seele, zum Unbewussten, wie er es nennen wird. So erscheint schließlich im Jahr 1899, auf das Jahr 1900 vordatiert, sein bahnbrechendes Buch »Die Traumdeutung«. Es ist die erste von vielen wichtigen Veröffentlichungen, in denen Freud während der nächsten Jahrzehnte die psychoanalytische Theorie und Methode immer wieder verändern und erweitern wird. »Die Traumdeutung« gilt ihm zeitlebens als sein wichtigstes Werk.

      Mittlerweile interessieren sich auch Ärzte und Pädagogen aus Wien und weit darüber hinaus für die Psychoanalyse, Freud versammelt Schüler und Mitstreiter um sich. 1909 reist er mit seinen Schülern Carl Gustav Jung (s. Kap. 9) und Sándor Ferenczi zu einer Vorlesungsreihe in die USA. Die beiden gehören zur 1908 gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Sie ist aus der so genannten Mittwochsgesellschaft hervorgegangen, einer Gruppe von Analytikern der ersten Generation, die sich seit 1902 immer mittwochs in Freuds Praxis trifft. 1910 wird die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet. Auf einem berühmt gewordenen Foto vom Weimarer Kongress 1911 posieren deren führende Vertreter: Neben Freud steht Jung, Präsident der Vereinigung. Schon zwei Jahre später kommt es zum Bruch zwischen ihm und Freud – das Motiv der irgendwann untreuen, weil inhaltlich eigenständigen Schüler zieht sich durch Freuds Leben. Eine Ausnahme bildet unter anderen Karl Abraham (1877–1925). Der spätere Begründer des Berliner Psychoanalytischen Instituts (gemeinsam mit Max Eitingon) bleibt Freud sein Leben lang freundschaftlich und fachlich verbunden, wobei er keineswegs nur der Nehmende ist. Als erster bezieht er die Psychoanalyse auch auf die Behandlung von Psychosen. Nach Abrahams frühem Tod ist Freud vor Kummer einen Monat lang nicht in der Lage, der Witwe ein Beileidsschreiben zu senden.

      In seinen Schriften zieht Freud viele Patientengeschichten anonymisiert zur Begründung und zur Erläuterung seiner Gedanken heran. Aber nicht nur deshalb, sondern auch wegen seines brillanten Stils besitzen Freuds Werke eine hohe literarische Qualität. In den 1920er-Jahren wird er sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Diese Auszeichnung erhält er dann doch nicht, wohl aber zahlreiche andere. 1930 bekommt er, mittlerweile 74 Jahre alt, den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main verliehen. Seine Tochter Anna Freud (s. Kap. 13) nimmt den Preis für ihn entgegen. Sie ist längst seine wichtigste Mitarbeiterin geworden und unterstützt ihn besonders, seit er 1923 an Gaumenkrebs erkrankt ist und nach unzähligen Operationen schwer leidet. Die Hilfe wird benötigt: Nicht nur die fachliche, auch die organisatorische Arbeit ist immens geworden. Längst ist die Psychoanalyse in vielen Ländern der Welt vertreten und hat sich auch in verschiedene konzeptionelle und therapeutische Richtungen aufgespalten.

      1933

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