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Stoppuhr genau im Auge. Nach einer festgelegten Zeit überprüft er, wie viele Silben er noch behalten hat … So weit ein kurzer Einblick in das früheste Labor für experimentelle Gedächtnisforschung. Versuchsleiter, Protokollant und Versuchsobjekt in einer Person: Hermann Ebbinghaus.

      Bei seinen Selbstversuchen findet und formuliert er das nach ihm benannte Gesetz, wonach ein Lernstoff wesentlich häufiger durch Wiederholung eingeprägt werden muss, wenn er auch nur geringfügig anwächst (Lernkurve). Je häufiger jedoch etwas repetiert wird, umso weniger Zeit braucht man dafür – dies ist die so genannte »Ersparnismethode«.

      Auch die von Ebbinghaus im Jahr 1885 bestimmte Verges-senskurve ist bis heute gültig. Sie besagt, dass Gelerntes zu Beginn schnell und allmählich immer langsamer vergessen wird. Bestimmte Lerntechniken und die emotionale Beziehung des Lernenden zum Lernstoff können allerdings bewirken, dass man den Stoff länger im Gedächtnis behält. Mit seinen Experimenten bekräftigt Ebbinghaus zudem die Theorie der klassischen Assoziationspsychologie, wonach die kleinsten, elementaren Bewusstseinsinhalte sich nach bestimmten Prinzipien wie Ähnlichkeit oder Kontrast zu größeren Komplexen zusammenschließen.

      Seitenblick: Zu Ebbinghaus’ wissenschaftlichem Widerpart entwickelt sich in Berlin ein ursprünglich befreundeter Kollege: Wilhelm Dilthey (s. Kap. 4). Gegen die experimentelle, »erklärende« Psychologie vertritt Dilthey die »beschreibende« und »verstehende« Psychologie: Sie soll den Menschen als »geisteswissenschaftlichen Gegenstand« betrachten und sein Seelenleben als Struktur, die erfasst und verglichen werden muss. Die Diskussion mit Dilthey markiert das bis heute spürbare Dilemma der Psychologie, doppelt verwurzelt zu sein: in den Geistes- und in den Naturwissenschaften. Sie wird in Streitschriften öffentlich ausgetragen und ist wohl einer der Gründe, warum Hermann Ebbinghaus 1894 Berlin verlässt.

      6 GANZHEIT UND GESTALT

       MAX WERTHEIMER

       Ihm und seinen Mitstreitern verdanken wir die Einsicht, dass psychische Phänomene als organisiertes und strukturiertes Ganzes verstanden werden müssen. Max Wertheimer war der führende Vertreter der Gestaltpsychologie, die in den 1920er-Jahren in Frankfurt und Berlin wichtige Schulen begründete.

      WEG

      1880 in Prag geboren, studiert Max Wertheimer unter anderem Jura, Philosophie und Psychologie und forscht nach seiner Promotion 1905 zunächst an verschiedenen Universitäten privat weiter. 1910 beginnt seine Arbeit am Institut für Psychologie an der damaligen Frankfurter Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften, der späteren Universität. Denn hier steht ein Radtachistoskop – ein Instrument zur Messung von visuellen Reizen. Es gelingt in den folgenden Jahren, experimentelle Belege einer Gestalttheorie der Wahrnehmung zu erbringen, das heißt: nachzuweisen, dass die Wahrnehmung als organisiertes und strukturiertes Ganzes angesehen werden muss und nicht in Elemente zerlegt werden darf.

      Bis 1916 bleibt Max Wertheimer in Frankfurt, geht dann nach Berlin und kehrt 1929 wieder nach Frankfurt zurück. Seine Mitstreiter sind Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941). Köhler wird 1922 Leiter des Psychologischen Instituts in Berlin. Gestaltpsychologisch ausgerichtet, entwickelt das Berliner Institut in den 1920er-Jahren eine ähnliche Anziehungskraft wie zuvor das Leipziger Institut Wilhelm Wundts (s. Kap. 3), weshalb man auch von der »Berliner Schule« spricht. Zum engeren Umkreis der Gestaltpsychologie gehört auch der Neurologe und Psychiater Kurt Goldstein (1878–1965), der ebenfalls in Frankfurt und Berlin tätig ist. Bei seiner Arbeit mit Hirnverletzten erkennt er, dass der Mensch im Akt des Wahrnehmens dazu neigt, aus Teilen ein Ganzes zu machen. 1935 wird Goldstein in die USA auswandern und dort Mitbegründer der Humanistischen Psychologie (s. Kap. 36).

      Bereits vor Goldstein emigriert Max Wertheimer mit seiner Familie über die Tschechoslowakei in die USA – am Tag vor der deutschen Märzwahl im Jahr 1933, unter dem Eindruck von Hitlers Rundfunkrede. Kurt Koffka ist schon 1924 ausgewandert. Wolfgang Köhler, der den Nationalsozialisten mehrfach öffentlich Widerstand geleistet hat, folgt 1934. Durch die Emigration der führenden Köpfe der Gestaltpsychologie etabliert sich diese, wenn auch langsam, in den USA. Sie empfängt hier Anregungen aus der Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus (s. Kap. 21 u. 22) und entfernt sich von der Philosophie, mit der sie in Europa enger verbunden war. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie (s. Kap. 32), wird von ihr beeinflusst werden.

      Max Wertheimer lehrt bis zu seinem Tod an der New School for Social Research in New York. Er stirbt 1943 in New Rochelle, New York.

      IDEEN

      Um die Jahrhundertwende dominiert in der Psychologie noch der elementaristische Ansatz: Man stellt sich das Bewusstsein als Zusammenschluss aus kleinsten Einheiten vor, die es zu untersuchen gelte. Wie jede Einseitigkeit ruft auch diese Richtung eine Gegenbewegung hervor, die in dem Fall ganzheitlich denkt: Das ist die Gestaltpsychologie. Bereits 1890 hat der Grazer Philosoph Christian Maria von Ehrenfels (1859–1932) seine berühmte Schrift »Über Gestaltqualitäten« vorgelegt. Er erklärt darin am Beispiel der Musik, dass die menschliche Wahrnehmung die einzelnen Elemente des sinnlichen Reizes, in diesem Fall die Töne, nicht nur einfach zusammenaddiert. Vielmehr macht sie aus ihnen etwas Neues, Ganzes – etwas, das über die Summe der Einzelelemente hinausgeht, in diesem Fall die Melodie.

      Das Prinzip, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, nennt sich »Übersummenhaftigkeit«. In der Philosophie ist dieser Gedanke der Ganzheit (Holismus) bereits seit der Antike bekannt und hat beispielsweise in Aristoteles, Leibniz, Goethe und Hegel prominente Vertreter gefunden. Doch seine Anwendung auf die Psychologie ist neu und der Grazer Schule um von Ehrenfels zu verdanken. Populär wird die Gestaltpsychologie dann mit der Frankfurter und der Berliner Schule um Max Wertheimer.

      Am Frankfurter Radtachistoskop erforscht Wertheimer die so genannte Scheinbewegung, auch phänomenale Bewegung genannt. Sie entsteht, wenn eine Bilderfolge schnell genug gezeigt wird, dass sich der Eindruck der Bewegung ergibt, so wie beim Film. Wertheimer nennt diese Bewegungsgestalt »Phi-Phänomen«. Sie belegt, dass Wahrnehmungen sich nicht nur aus Einzelelementen zusammensetzen, sondern als sinnvolle Einheiten, als Gestalten, im Bewusstsein erscheinen, etwa in von Ehrenfels’ Beispiel die Melodie. Anders als die Grazer Schule um von Ehrenfels erklärt Wertheimer diese Gestalten jedoch nicht zu Ergebnissen von Sinneseindrücken, sondern zu ursprünglichen Grundeinheiten der Psyche. Kurt Koffka weitet seine Theorie aus: Nicht nur die Wahrnehmung, auch das Handeln ist von Gestalten geleitet.

      Anekdote: Historisch ist dieser Anfang der Gestaltpsychologie nicht belegt, aber Max Wertheimer erzählte ihn immer wieder gern: wie er, ein unbekannter Privatgelehrter, 1910 auf der Fahrt von Wien ins Rheinland spontan in Frankfurt am Main ausgestiegen sei, um hier ein Kinder-Stroboskop zu kaufen und damit in einem Hotelzimmer zu experimentieren. Gleich danach habe er Kontakt mit dem Institut aufgenommen, woraus sich dann seine produktive Arbeit entwickelte.

      Übrigens: Auch unsere evolutionsgeschichtlichen Verwandten, die Menschenaffen, bestätigen durch ihr Handeln die gestaltpsychologische Grundthese. Das belegte Wolfgang Köhler von 1914 bis 1920 in einer Schimpansenstation auf Teneriffa. Wie könnten Schimpansen beispielsweise Stöcke als Instrumente benutzen oder Kisten zu Stapeln auftürmen, um an Futter zu gelangen, wenn sie nicht von einer Gestalt geleitet wären, bestehend aus dem Zusammenhang zwischen Ziel und Hilfsmittel?

III.

      7 DIE ENTDECKUNG DES UNBEWUSSTEN

      

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