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zu vernichten. Auch Freuds Werke sind davon betroffen. Ihr Autor konstatiert trocken, dass zu früheren Zeiten sicher er selbst verbrannt worden wäre. 1938 marschieren die Deutschen nach Österreich ein. Als Jude und wegen seines Lebenswerks ist Freud in Gefahr. Vermittelt durch eine wohlhabende und einflussreiche Schülerin, die französische Prinzessin Marie Bonaparte, gelingt ihm und seiner Familie im Juni 1938 die Emigration nach London. Vier seiner fünf Schwestern, denen er vergeblich die Flucht zu ermöglichen sucht, kommen später in Theresienstadt ums Leben. Sigmund Freud stirbt 1939 in London. Sein dortiges Therapiezimmer mit der Couch, aber auch die einstige Praxis in der Wiener Berggasse sind heute viel besuchte Museen.

      IDEEN

      Zu den zentralen Theorien Freuds gehört die Unterteilung psychischer Prozesse in Bewusstes, Vorbewusstes und Unbewusstes. Das Unbewusste hat die Philosophen, Psychologen und Dichter schon seit Jahrhunderten beschäftigt. Man sah es zum Beispiel als Ansammlung unmerklicher, winziger Vorstellungen, als Nachtseite der Seele oder als Sitz der Triebe, gar des Bösen. Doch erst Sigmund Freud begründet eine eigene Psychologie des Unbewussten.

      Zum Vergleich: Die Bewusstseinspsychologie Wilhelm Wundts (s. Kap. 3) und auch die klassische Assoziationspsychologie fragen nach den unbekannten Elementen und Mechanismen, die sich im menschlichen Wahrnehmen und Erkennen zum Ganzen des Bewusstseins zusammenfügen. Freud interessiert etwas anderes: die mächtigen sexuellen Wünsche und Phantasien am Grunde der Seele, denen man mit Experimenten nicht auf die Spur kommt. »Sexuell« meint dabei ein inneres Drängen nach Lust, das viel mehr umfasst als das, was wir in unserer Alltagssprache darunter verstehen. Dieses unbewusste Drängen sieht er im Verhalten, in den Träumen und Phantasien seiner Patienten am Werk. In der Psychoanalyse sucht er es zu ergründen, denn in ihm vermutet er den Schlüssel zu den neurotischen Störungen.

      Schon das Beispiel von »Anna O.« hatte ihm gezeigt: Wenn Wünsche und Phantasien verdrängt werden, entfalten sie ein ungutes Eigenleben. Sie geben keine Ruhe, sondern machen weiter auf sich aufmerksam, aber gleichsam in verkleideter Gestalt: als neurotische Störung mit entsprechenden körperlichen Symptomen und Verhaltensweisen. Das bedeutet Leiden. Wenn jedoch die Ursache eines Symptoms entschlüsselt und bewusst gemacht worden ist, dann wird das Symptom überflüssig und kann verschwinden. Der Mensch gewinnt an Autonomie, und die Phantasien haben ihren Schrecken verloren. Damit kann der Mensch ein erfülltes Leben führen. Freud sagt: Er wird fähig, zu lieben und zu arbeiten.

      Zur Unterscheidung seines Ansatzes von der Bewusstseinspsychologie verwendet er ab 1913 die Bezeichnung Tiefenpsychologie, die auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) zurückgeht. Am Ende seines Lebens wird Freud dankbar feststellen, er habe das Glück gehabt, das Unbewusste zu entdecken. Den Begriff der Psychoanalyse (Seelenzergliederung) gebraucht er erstmals 1896. Nach einer späteren Definition von 1923 meint der Begriff dreierlei: erstens das Verfahren, mit dem ansonsten kaum zugängliche seelische Vorgänge untersucht werden; zweitens die Methode zur Behandlung der neurotischen Störungen, die bei der Untersuchung zutage getreten sind; und drittens das System aus Erkenntnissen, Einsichten und Theorien, die zusammen eine neue Wissenschaft ergeben.

      Aus dem Bisherigen folgt, dass für Freud die neurotischen Störungen eine biografische Ursache haben – und zwar schon in der frühen Kindheit. 1905 erscheinen die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in denen er erstmals von einer frühkindlichen Sexualität spricht. Das stößt seinerzeit auf großes Entsetzen, findet anderseits aber auch viel Zuspruch. Freud zeigt, dass das Kind sexuelle Gefühle erlebt, indem es den eigenen Körper wahrnimmt, wobei in drei aufeinander folgenden Phasen die Mundregion, der Anus und die genitale Region die Zonen der größten Lust und Neugier und die hauptsächlichen Quellen der Befriedigung darstellen. Die dritte, frühgenitale Phase heißt auch ödipale oder phallische Phase, wobei laut Freud die Mädchen in dieser Zeit das Nichtvorhandensein eines Penis verarbeiten müssen – der so genannte Penisneid gehört zu den Theorien Freuds, die heute als zeitgebundener Ausdruck einer mittlerweile widerlegten Sicht auf die Sexualität der Frau gesehen werden müssen.

      Nach Freud hegt das drei- bis fünfjährige Kind sexuelle Wünsche und Phantasien in Bezug auf den gegengeschlechtlichen Elternteil. Den gleichgeschlechtlichen Elternteil, den es bislang ausschließlich geliebt hat, empfindet es nun zugleich als strafenden Rivalen, was in ihm einen seelischen Konflikt erzeugt – dies ist der bekannte Ödipuskomplex. Vom geglückten Ausgang des Konflikts hängt die gesunde Reifung der Persönlichkeit ab. Geglückt ist die Lösung, wenn das Kind akzeptieren kann, dass die Eltern eine eigene Beziehung miteinander haben, aus der es ausgeschlossen ist, und wenn es die daraus erwachsenden Rechte des gleichgeschlechtlichen Elternteils anerkennt. Freud bezieht den Ödipuskomplex vor allem auf Jungen, sein Schüler Carl Gustav Jung spricht später analog vom Elektrakomplex bei Mädchen. Ödipus und Elektra sind Gestalten der griechischen Mythologie. Die Mythen versteht Freud als Reaktionen auf verdrängte Wünsche – nur weil sie diesen Ursprung haben, können sie uns so faszinieren, sagt er. Für die Deutung von Phantasien und Träumen seiner Patienten bieten ihm die Sagen des Altertums ein unerschöpfliches Reservoir.

      Auch im Traum sieht Freud, ähnlich wie im Mythos, eine Reaktion auf sexuelle Wünsche, die man sich nicht gestattet. Im Schlaf, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist, wollen sich diese unbewussten Wünsche zeigen. Doch müssen sie auch jetzt noch entschärft werden – völlig unzensiert würden sie den Schlafenden sofort erwachen lassen. Der Traum übernimmt nun die Aufgabe, durch Entstellung und Veränderung (Verschiebung) der Motive die Wünsche so weit zu verharmlosen, dass sie überhaupt durch die Zensur kommen, ohne den Schlaf zu stören. Deshalb bezeichnet Freud den Traum auch als »Hüter des Schlafs«. Zweihundert Träume, darunter fünfzig eigene, hat er in seiner »Traumdeutung« von 1900 entschlüsselt und unter der scheinbar abstrusen Oberfläche der (manifesten) Traumerzählungen den verborgenen (latenten) Inhalt gesucht, der Aufschluss gibt über das, was im Unbewussten abläuft.

      Die Energie, mit der die sexuellen Wünsche und Phantasien auf Erfüllung drängen, nennt Freud Libido, vom gleich lautenden lateinischen Wort für Lust. Für ihn kann libidinöse Energie nicht einfach verloren gehen. Wenn ein Trieb auf Dauer nicht befriedigt und die Energie auf diese Weise verbraucht wird, verschiebt man sie auf ein anderes, möglicherweise weniger geeignetes Objekt. Oder aber die libidinösen Bedürfnisse werden mitsamt der Angst, die sie erzeugen, abgewehrt: Man verdrängt sie, das heißt, man versucht alle Bilder, Erinnerungen und Gedanken, die damit zusammenhängen, ins Unbewusste zurückzustoßen. Eine andere Form der Abwehr besteht darin, die Bedürfnisse durch scheinbar vernünftige Argumentation für falsch zu erklären, sie zu rationalisieren. Die einzig konstruktive Art der Abwehr ist nach Freud die Sublimierung: wenn die mit dem Trieb verbundene Energie genutzt wird, um kulturell oder sozial etwas zu schaffen oder zu leisten. Eine eingehende Systematik der Abwehrmechanismen hat Anna Freud 1936 in ihrem Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen« erarbeitet (s. Kap. 13).

      Der Libido oder dem Eros (griechisch für Liebe, Begehren) stellt Sigmund Freud später einen zweiten, zerstörerischen Trieb gegenüber: Thanatos (griechisch für Tod). Diese Triebtheorie entwickelt Freud in »Jenseits des Lustprinzips« (1920) und in »Das Ich und das Es« (1923). In der letztgenannten Schrift entfaltet er dann auch jenes Strukturmodell, das von all seinen Theorien wohl die bekannteste ist: das Modell der drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich.

      Den Begriff des Es hat Freud von dem Arzt und Schriftsteller Georg Groddeck (1866–1934) übernommen. Groddeck wiederum, der als Urvater der psychosomatischen Medizin gilt, hat ihn vermutlich bei Friedrich Nietzsche gefunden. Das Es bezeichnet jene Instanz, in der die Triebe Eros und Thanatos sowie die Affekte (Emotionen) gründen: die Gefühle, die spürbar werden, wenn Triebe sich an konkrete Objekte heften. Das Es entzieht sich jeder Kontrolle und ist gänzlich unbewusst. Es funktioniert einzig nach dem Lustprinzip: Sein Ziel ist die Befriedigung der Wünsche.

      Das Ich hingegen trägt die bewussten Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Denk- und Bewegungsfunktionen. Während das Es von Geburt an gegeben ist, bildet sich das Ich im Laufe der Entwicklung heraus, indem es sich vom Es abgrenzt. Freud sagt: »Wo Es ist, soll Ich werden.« Doch besitzt auch das Ich unbewusste Anteile.

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