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      Anders als Freud sieht Adler nicht die Triebbefriedigung, sondern das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Geltung und persönlicher Vollkommenheit als inneren Motor des Menschen. Er stellt aber zugleich fest, dass Minderwertigkeitsgefühle – den Begriff hat er populär gemacht – das Erreichen dieses Ziels erschweren. Das Menschsein ist für Adler durch die subjektiv erlebte Minderwertigkeit geradezu definiert: »Menschsein heißt, sich minderwertig fühlen«, sagt er in seinem Spätwerk. Zu diesem Gefühl tragen verschiedene Faktoren bei: körperliche Schwächen, eine zu strenge oder verzärtelnde Erziehung, aber auch die jeweiligen Positionen im sozialen Gefüge der Familie und darüber hinaus – hier erweist Adler sich als Vordenker der Sozialpsychologie. Allerdings kann man nicht eins zu eins von den äußeren Gegebenheiten auf Inhalt und Intensität des Minderwertigkeitsgefühls schließen.

      Das Minderwertigkeitserleben ruft nun logischerweise ein Bemühen um Ausgleich, um Kompensation, hervor. Das reicht von der rein körperlichen Ebene, auf der ein Organ die Schwäche eines anderen kompensiert, bis hin zur psychischen Ebene, auf der beispielsweise eine Minderbegabung durch die Pflege eines anderen Talentes ausgeglichen wird. Wir alle erleben uns in irgendeiner Weise als minderwertig, und die Kompensation ist der Motor unserer Leistungen und Erfolge wie auch der kulturellen Errungenschaften. Sie treibt uns vorwärts, weg vom Mangel, hin zur persönlichen Fülle.

      Wenn dies aber misslingt und das Minderwertigkeitsgefühl umso stärker wird, beginnt der Betreffende überzukompensieren: Das Streben versucht auf Umwegen und durch Übertreibung zum Ziel zu kommen. Das ist dann die Neurose. Adler wählt zeitweise den Begriff des »männlichen Protests«, um die überkompensatorische Reaktion (beider Geschlechter) zu beschreiben. Eine für unsere Gesellschaft typische Form des männlichen Protests ist zum Beispiel das Statusdenken.

      Bei Adler ist das überkompensierende Geltungsstreben also das, was bei Freud die Verdrängung ist: nämlich die Fehlleitung eines grundlegenden Bedürfnisses – bei Freud geht es um Triebbefriedigung, bei Adler um die Verwirklichung des eigenen Persönlichkeitsideals. Hier klingt nun ein sehr moderner Begriff an, der sich bei Adler zwar nicht im Wortlaut, aber schon der Sache nach findet: die Selbstverwirklichung. Für ihn verfolgt jeder Mensch eine individuelle, schöpferische Zielsetzung, einen Lebensplan, in dem seine persönliche Einheit gründet. In diesem Gedanken erweist sich übrigens Adlers inhaltliche Nähe zur Gestaltpsychologie (s. Kap. 6).

      Um Missverständnissen vorzubeugen, gebraucht er später den Begriff des Lebensstils, in dem sich der Lebensplan manifestiert. Adler spricht auch von der Melodie, die als durchgehendes Thema das Erleben und Verhalten eines Menschen prägt – und zwar so, wie sie in den ersten Kindheitsjahren festgeschrieben worden ist. Heißt das nun aber, dass wir alle Marionetten unseres jeweiligen Lebensstils – und oft genug auch unserer eigenen Neurose – sind und nichts ändern können, selbst wenn wir es wollten? Glücklicherweise nicht, sagt Adler, und führt an dieser Stelle den wohl wichtigsten Begriff seines Denkens ein: das Gemeinschaftsgefühl.

      Das Geltungsstreben als Reaktion auf die gefühlte Minderwertigkeit ist zunächst, wie man sich denken kann, ein isolierendes, egoistisches Motiv. Daneben gibt es jedoch das Gemeinschaftsgefühl, und das ist ebenfalls eine Art der Kompensation, aber eine weitaus wünschenswertere. Es entsteht, wenn das Geltungsstreben nicht in den Dienst der eigenen Person gestellt wird, sondern in den Dienst der Gemeinschaft. Dieser Begriff nun meint alle zwischenmenschlichen Beziehungsformen von der Mutter-Kind-Bindung über Freundschaften und Liebesbeziehungen bis hin zur Gemeinschaft aller Menschen und zur Verantwortung für die Welt. Und trotz des Wortes »Gefühl« hat Adler dabei nicht nur das Herz, sondern auch den Kopf und die Hand im Blick: Das Gemeinschaftsgefühl verwirklicht sich im Denken und Handeln.

      In der Hinwendung zur Gemeinschaft sieht Adler die Möglichkeit, den eigenen Lebensplan positiv zu verändern. Entweder, indem der beträchtliche Unterschied zwischen dem eigenen Geltungsstreben und den Erfordernissen der Gemeinschaft erkannt beziehungsweise durch größere Fehlschläge erlitten wird, oder vermittelt durch Erziehung und Therapie.

      In der individualpsychologischen Behandlung sitzt der Therapeut dem Patienten als Dialogpartner gegenüber. Gemeinsam wird der Lebensstil des Patienten analysiert und jenem erstmalig bewusst gemacht. Wenn der Patient erkennt, welches falsche Persönlichkeitsideal er bislang verfolgt hat, kann er das neurotische Verhalten, das ihn dorthin brachte, verstehen und ablegen. Denn die Neurose an sich ist nicht falsch, falsch ist immer nur das Ziel, in dessen Dienst sie steht. Es kommt darauf an, einen konstruktiven, auf die Gemeinschaft ausgerichteten Lebensstil zu entwickeln. Diese Neuorientierung, bei welcher der Therapeut den Patienten auch durch Ermutigung stärkt, befreit von den Verstrickungen der Vergangenheit.

      Adler hat folglich ein sehr positives Menschenbild, für ihn ist die Fähigkeit zu Güte und Großzügigkeit angeboren. Seine Orientierung an der Selbstverwirklichung des Menschen wird später von der Humanistischen Psychologie aufgegriffen: Deren Mitbegründer Abraham Maslow (s. Kap. 36) setzt die Selbstverwirklichung an die Spitze einer von ihm erarbeiteten, hierarchisch aufgebauten Pyramide menschlicher Bedürfnisse. Auch sonst hat die Individualpsychologie andere Ansätze beeinflusst. Die Bedeutung des Lebenssinnes zum Beispiel kehrt in Viktor Frankls (s. Kap. 35) Logotherapie wieder und die Zielgerichtetheit des Lebensprozesses im Individuationsgedanken von C. G. Jung (s. Kap. 9). Bis heute sind Alfred Adlers Gedanken über die Grenzen der Psychologie hinaus in Pädagogik und Beratung wirksam.

      Seitenblick: Auf das Geltungsstreben ist Adler auch durch die Lektüre Friedrich Nietzsches (1844–1910) aufmerksam geworden. Für den Philosophen stellt der »Wille zur Macht« den Grundtrieb im Menschen und in der Welt dar. Nietzsches Schlussfolgerungen, die vom Übermenschen träumen, widersprechen allerdings dem auf die Gemeinschaft ausgerichteten Ideal Adlers.

      9 MÄRCHEN, MYTHEN, ARCHETYPEN

       CARL GUSTAV JUNG

       Er führte die Arbeit mit Bildern in die Psychotherapie ein und eröffnete ein tieferes Verständnis für die verschiedenen Persönlichkeitstypen und für die Probleme und Anforderungen des menschlichen Lebenslaufs. Mit seiner Analytischen Psychologie hat Carl Gustav Jung eine ganz eigene Richtung innerhalb der Tiefenpsychologie begründet.

      WEG

      Der Pfarrerssohn Carl Gustav Jung wird 1875 in Kesswil am Bodensee geboren. Seine Kindheit erlebt er als von Ängsten und Einsamkeit überschattet. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wird er später die notwendige innere Entwicklung des Menschen unter dem Stichwort »Individuation« zu einem wichtigen Bestandteil seiner Lehre machen. Eine enge Bindung besteht zur Mutter, die prophetische Fähigkeiten für sich beansprucht und ein seinerzeit modisches Interesse für Okkultismus pflegt.

      Jung studiert Medizin an der Universität Basel und arbeitet nach seinem Staatsexamen als Stationsarzt am psychiatrischen Krankenhaus Burghölzli in Zürich. Dessen Leiter Eugen Bleuler (1857–1939), von dem auch der Begriff Tiefenpsychologie stammt, steht der Psychoanalyse aufgeschlossen gegenüber. Am Burghölzli führt Jung Experimente über normale und pathologische Wortassoziationen durch und entwickelt dabei seine Komplextheorie. 1903 heiratet er die Fabrikantentochter Emma Rauschenbach (1882–1955), mit der er fünf Kinder haben wird. Emma Jung wird zur lebenslangen Mitarbeiterin ihres Mannes und ist später auch als Lehranalytikerin tätig.

      Nach seiner Habilitation nimmt Jung Kontakt mit Sigmund Freud auf, dessen Schriften er gelesen hat und von dem er sich wichtige Anregungen zur Behandlung seiner Patienten erhofft. Er wird zum Anhänger der Psychoanalyse und riskiert dafür auch, wegen Freuds damaliger Außenseiterposition selbst ins fachliche Abseits zu geraten. Für Freud wiederum ist Jung ein willkommener Schüler, weil er zu jener Zeit einer der wenigen nichtjüdischen Verfechter der Psychoanalyse ist. Freud fürchtet antisemitische Diffamierungen seiner

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