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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Год выпуска 0
isbn 9788026824862
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Im selben Augenblick fiel ihm eine Frau in Bauerntracht um den Hals. Er erkannte sie kaum. Es war Mathilde.
»Du Böser! Erst durch deinen Brief habe ich Kenntnis, wo du warst! Was du dein Verbrechen nennst, ist edle Rache, die mir deine Hochherzigkeit offenbart. Ich habe in Verrières erfahren…«
Trotz seines Vorurteils gegen Fräulein von La Mole, das er sich übrigens nicht recht eingestand, gefiel sie ihm ungemein. Aus ihrer Art, zu handeln und zu sprechen, erkannte er ihre edle, uneigennützige Absicht, die turmhoch über allem stand, was eine kleine Alltagsseele gewagt hätte. Wieder hatte er das Gefühl, eine Königin zu lieben, und nach etlichen Augenblicken sagte er, erlesen in Ausdruck und Sinn:
»Ich schaue deutlich in die Zukunft. Nach meinem Tode heiratest du Herrn von Croisenois, sozusagen als Witwe. Das edle, nur etwas romantische Gemüt dieser reizenden Witwe ist durch ein seltsames, großes, tragisches Erlebnis entthront und zur Weltanschauung des Durchschnitts bekehrt. Du geruhst die tatsächlichen Vorzüge des jungen Marquis zu würdigen. Du schickst dich in das, was die andern Glück nennen, in Ansehen, Reichtum, gesellschaftlich hohen Rang. Liebe Mathilde, daß du nun aber hier in Besançon erschienen bist, das wäre, falls es ruchbar wird, ein neuer schwerer Schlag für deinen Vater. Das könnte er dir niemals verzeihen. Ich habe ihm schon so sehr viel Kummer bereitet. Er hat eine Schlange an seinem Busen genährt, wie es im Stile der Akademiker heißt…«
Nicht ohne Groll unterbrach ihn Mathilde. »Ich gestehe, auf so kühle Besonnenheit, auf so viel Sorge um die Zukunft war ich nicht gefaßt. Meine Kammerfrau, auch so umsichtig wie du, hat sich einen Paß verschafft, und so bin ich als Frau Michelet mit der Post hergeeilt …«
»Und Frau Michelet hat es im Spiel fertigbekommen, bis zu mir vorzudringen?«
»Ja! Du bist immerdar der höhere Mensch! Ihm gilt meine Gunst. Zunächst habe ich dem Gerichtsbeamten, der behauptete, ich dürfe auf keinen Fall in deine Zelle, hundert Franken geboten. Der Ehrenmann steckte das Geld ein, vertröstete mich, machte Ausflüchte. Mit einem Worte, ich sah, daß er mich nur plündern wollte…«
»Und dann?« fragte Julian.
»Geduld, mein lieber Junge!« sagte Mathilde und küßte ihn. »Ich mußte dem Gerichtsmenschen meinen Namen sagen. Er hielt mich für eine verliebte kleine Pariser Modistin. Tatsächlich, so drückte er sich aus. Ich schwur ihm, ich sei deine Frau. Daraufhin werde ich die Erlaubnis bekommen, dich täglich besuchen zu dürfen,«
»Das heißt die Torheit auf die Spitze treiben«, sagte sich Julian. »Dies zu verhindern stand nicht in meiner Macht. Schließlich ist Herr von La Mole ein sehr hoher Mann, so daß die öffentliche Meinung schon eine Entschuldigung finden wird, wenn ein junger Oberst diese reizende Witwe heiratet. Nach meinem Tode wird über alles Gras wachsen.«
Berauscht gab er sich Mathildens Liebe hin. Tollheit, Seelengröße, das Allerseltsamste, was es gibt, lag darin. Im vollen Ernst machte Mathilde den Vorschlag, zusammen zu sterben.
Nach dem ersten Gefühlsüberschwang, als sie sich an dem Glücke, Julian wiederzuhaben, gesättigt hatte, ward sie mit einem Male von der lebhaftesten Neugier erfaßt. Sie forschte den Geliebten aus und fand, er sei viel hochherziger, als sie erwartet hatte. Es kam ihr vor, Bonifaz von La Mole sei auferstanden, heldenhafter, als er in Wirklichkeit gewesen.
Mathilde suchte den besten Rechtsanwalt der Stadt auf. Da sie ihm allzu unverblümt Geld bot, tat er verletzt, nahm aber schließlich die Summe. Sehr bald hatte sie die Gewißheit, daß zu Besançon bei wichtigen, in ihrem Ausgange zweifelhaften Fällen die Entscheidung einzig und allein vom Großvikar von Frilair abhing.
Unter dem unscheinbaren Namen einer Frau Michelet hatte sie schier unüberwindliche Schwierigkeiten zu bewältigen, ehe sie bis zu dem allmächtigen Jesuiten vordrang. Inzwischen verbreitete sich das Gerücht von der schönen jungen Modistin, die in ihrer Liebestollheit von Paris nach Besançon gekommen sei, um den jungen Abbé Julian Sorel zu trösten, in der ganzen Stadt. Mathilde eilte zu Fuß und ohne Begleitung durch die Straßen. Sie bildete sich ein, kein Mensch wüßte, wer sie wäre. Zum mindesten glaubte sie, es könne ihrer Sache nicht schaden, wenn sie Aufsehen erregte. Ja, in ihrem Wahne meinte sie, sie könne das Volk in Aufruhr bringen, um ihn auf seinem Todesgange zu retten. Sie hielt sich für einfach gekleidet, wie es sich für eine Frau in Leid schickt; gleichwohl zog sie aller Blicke auf sich. So war sie längst der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, als sie es endlich, nach acht Tagen, fertigbrachte, Audienz beim Herrn von Frilair zu erlangen.
Ihr Mut war groß, aber die Vorstellung, die sie sich von dem einflußreichen Kongregationsoberhaupte gemacht hatte, war mit dem Begriffe verbrecherischer Erzschlauheit derart eng verknüpft, daß sie zitterte, als sie am Tore des bischöflichen Palastes klingelte. Ihre Füße trugen sie kaum, als sie die Treppe hinaufstieg, die zum Empfangszimmer des ersten Großvikars führte. Die Totenstille, die im Hause herrschte, kam ihr unheimlich vor.
Der erste Blick in das Zimmer, das ihr ein Diener in schmucker Livree öffnete, beruhigte Mathilde. Der Salon, in dem sie warten mußte, offenbarte prunklose Vornehmheit, wie man sie auch in Paris nur in den besten Häusern findet. Als Mathilde den Großvikar erblickte, der mit väterlicher Miene auf sie zukam, schwand ihr jeder Gedanke an Gefahr und Bosheit. In dem schönen Gesicht des Prälaten entdeckte sie nicht einmal die Kennzeichen jener gewissen Halbbarbarei, die der Pariser Gesellschaft den Willensmenschen so unsympathisch macht. Das leise Lächeln, das die Züge des Besançoner Machthabers beherrschte, zeigte, daß der Kirchenfürst Weltmann, Gelehrter und Diplomat war. Mathilde glaubte in Paris zu sein.
Frilair brachte Mathilde in wenigen Minuten zu dem Geständnisse, daß sie die Tochter seines mächtigen Gegners, des Marquis von La Mole, war.
»In der Tat, ich bin nicht Frau Michelet«, sagte sie, indem sie ihre hoheitsvolle Haltung wieder annahm. »Und dies gestehe ich um so lieber, als ich gekommen bin, Ihren gütigen Rat einzuholen. Gibt es keine Möglichkeit, Herrn Leutnant von La Vernaye entkommen zu lassen? Erstens ist er lediglich einer im Affekt begangenen Tat schuldig. Der Frau, auf die er geschossen hat, geht es vorzüglich. Zweitens bin ich in der Lage, zu den nötigen Bestechungen sofort fünfzigtausend Franken aufzubringen und weitere hunderttausend Franken zu garantieren. Drittens wäre mir und meiner Familie aus Dankbarkeit für den Retter des Herrn von La Vernaye nichts unmöglich.«
Frilair war beim Hören dieses Namens sichtlich erstaunt. Mathilde legte ihm mehrere Dienstbriefe des Kriegsministers vor, die an Herrn Leutnant Julian Sorel von La Vernaye gerichtet waren.
»Sie sehen, Hochwürden, mein Vater hat für seine Karriere gesorgt. Wir haben uns im geheimen geheiratet. Aber mein Vater wünscht, daß unser für eine La Mole ein wenig seltsamer Bund nicht eher veröffentlicht werden soll, als bis mein Mann Stabsoffizier ist.«
Mathilde bemerkte, daß der Ausdruck der Güte und milden Heiterkeit aus dem Gesicht des Großvikars mehr und mehr schwand, als er eine wichtige Entdeckung nach der andern machte. Dafür lugten Hinterlist und Falschheit hervor.
Der Abbé äußerte Zweifel. Er studierte die dienstlichen Schriftstücke zum zweiten Male.
»Welchen Nutzen kann ich aus diesen eigenartigen Eröffnungen ziehen?« fragte er sich im stillen. »Mit einem Schlage bin ich in nahe Beziehung zu einer Freundin der berühmten Marschallin von Fervaques gekommen, der allmächtigen Nichte des Bischofs von ***, der in Frankreich die Bischöfe ernennt. Was ich in Ungewisser Zukunft wähnte, bietet sich mir unversehens. Das kann mich an das Ziel aller meiner Wünsche bringen.«
Anfangs war Mathilde arg erschrocken über den jähen Wechsel im Gesichtsausdrucke des ihr so wichtigen Mannes, mit dem sie sich allein in einem entlegenen Gemach befand. »Unsinn!« ermutigte sie sich. »Wäre es nicht ein viel schlimmeres Zeichen, wenn ich gar keinen Eindruck auf die kalte Selbstsucht eines von Macht und Genuß gesättigten Pfaffen machte?«
Geblendet von dem unverhofften Ausblick, der sich seinen nach einem Bistum ausspähenden Augen urplötzlich eröffnete, und verblüfft ob der ihn genial dünkenden Diplomatie der jungen Dame, vergaß der Großvikar einen