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ertönte der Dreischlag. In den französischen Dörfern ist dies nach mehrfachem Läuten das wohlbekannte Zeichen des alsbaldigen Beginnes der Messe.

      Julian betrat die neue Kirche von Verrières. Die sämtlichen hohen Fenster des Schiffes waren mit scharlachroten Vorhängen bedeckt. Ein paar Schritte hinter dem Sitz von Frau von Rênal blieb er stehen. Er sah, wie sie inbrünstig betete. Als er diese Frau, die er so heiß geliebt hatte, erblickte, zitterten ihm die Hände, so daß er sein Vorhaben zunächst nicht auszuführen vermochte.

      »Ich kann es nicht!« sagte er zu sich selbst. »Mein Körper versagt mir den Gehorsam.«

      In diesem Augenblick klingelte der Chorknabe, der bei der Messe ministrierte, zur Erhebung der Monstranz. Frau von Rênal senkte den Kopf. Fast sah Julian ihr Gesicht nicht mehr. Die Falten ihres Schals verdeckten es.

      Jetzt schoß er auf sie aber er traf nicht. Er schoß nochmals. Frau von Rênal sank um.

      66. Kapitel

      Julian blieb unbeweglich stehen. Er sah nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß alle Andächtigen aus der Kirche flohen. Der Priester hatte den Altar verlassen.

      Langsam schritt Julian hinter ein paar Weibern her, die kreischend davonliefen. Eine der Frauen, die rascher laufen wollte als die andern, prallte heftig an ihn an. Dadurch geriet er aus dem Gleichgewicht und stolperte über einen von der Menge umgerissenen Stuhl. Als er wieder aufstehen wollte, fühlte er sich am Kragen gepackt. Ein Schutzmann in voller Uniform nahm ihn fest. Unwillkürlich griff Julian nach seinen Pistolen, aber ein zweiter Gendarm fiel ihm in den Arm.

      Man führte ihn ins Gefängnis ab, steckte ihn in eine Zelle und legte ihm Ketten an. Dann verließ man ihn, und die Tür ward fest verschlossen. Alles das geschah in rascher Folge.

      Unempfindlich ließ er alles geschehen. Als er zur klaren Besinnung kam, sagte er sich: »Ja, ja, nun ist alles aus! In vierzehn Tagen stehe ich vor der Guillotine … wenn ich mich bis dahin nicht selber umgebracht habe…«

      Mehr vermochte er nicht zu denken. Es war ihm, als würde ihm der Kopf mit aller Gewalt zusammengepreßt. Er blickte um sich. Er hatte die Empfindung, als habe ihn jemand angefaßt. Nach einer Weile schlief er fest ein.

      Frau von Rênal war nicht tödlich verwundet. Die erste Kugel hatte ihren Hut durchbohrt. Gerade als sie sich umwandte, war der zweite Schuß losgegangen. Die Kugel war bis auf das Schulterblatt eingedrungen, hatte den Knochen zerschmettert, war dabei aber zurückgeprallt und gegen eine der gotischen Säulen geflogen, aus der ein Stück Stein abgesprengt ward.

      Als ihr der Wundarzt, ein ernster Mann, nach schmerzhafter Umständlichkeit einen Verband angelegt hatte, erklärte er: »Ich stehe Ihnen für Ihr Leben wie für das meine!« Da ward sie tieftraurig.

      Seit langem hegte sie aufrichtige Todessehnsucht. Der Brief an Herrn von La Mole, den ihr jetziger Beichtvater ihr abgezwungen hatte, versetzte ihrem durch beständiges Herzeleid zerrütteten Gemüt den letzten Stoß. Dies Herzeleid hatte seinen Grund in der Trennung von Julian. Sie nannte es freilich Reue. Ihr Seelsorger, ein tugendhafter junger Eiferer, der erst kürzlich aus Dijon hergekommen war, täuschte sich über ihren Zustand nicht.

      »Solch ein Tod, nicht durch eigne Hand, wäre keine Sünde«, dachte Frau von Rênal bei sich. »Gott vergibt mir wohl, daß ich mich über meinen Tod freue.« Sie wagte nicht hinzuzusetzen: »Und von Julians Hand zu sterben, wäre mir die höchste Glückseligkeit.«

      Kaum war sie der Gegenwart des Arztes und der in Menge herbeigeströmten guten Bekannten enthoben, da ließ sie ihre Jungfer Elise kommen.

      »Der Kerkermeister ist ein Menschenschinder«, sagte sie voll Scham. »Ohne Zweifel wird er den Attentäter mißhandeln, im Glauben, mir damit einen Gefallen zu tun. Der Gedanke daran ist mir unerträglich. Könntest du nicht, gleichsam aus freien Stücken, zu diesem Menschen gehen und ihm dieses Päckchen bringen? Es sind ein paar Goldstücke drin. Du müßtest ihm sagen, es wäre wider Gottes Gebot, einen Gefangenen zu quälen. Selbstverständlich darf er ihm nichts von dem Gelde sagen.«

      Diesem Umstände verdankte Julian, daß ihn der Kerkermeister menschlich behandelte. Es war noch immer Noiroud, jene echte Beamtenkreatur, den damals der Besuch des Herrn Appert in tausend Ängste versetzt hatte.

      Der Untersuchungsrichter erschien in der Zelle.

      »Ich habe den Mord mit Vorbedacht begangen«, erklärte ihm Julian. »Die Pistolen habe ich kurz vorher beim hiesigen Waffenhändler gekauft und mir von ihm laden lassen. Nach dem Strafgesetzbuche verdiene ich den Tod und erwarte ihn.«

      Der Richter war über diese Antwort erstaunt. Er versuchte noch mehr Fragen zu stellen, damit sich der Angeklagte in Widersprüche verwickele.

      Julian erwiderte lächelnd: »Sehen Sie nicht, daß ich das Schlimmste eingestehe? Größere Strafbarkeit können Sie nicht begehen. Gehen Sie, Herr Richter! Die Beute, nach der Sie jagen, ist Ihnen sicher. Sie werden das Vergnügen haben, mich verurteilen zu können. Ersparen Sie mir Ihre weitere Gegenwart!«

      Mathilde fiel ihm ein.

      »Jetzt verbleibt mir die verdrießliche Pflicht, an Fräulein von La Mole schreiben zu müssen.«

      Der Brief erhielt folgende Fassung:

      »Ich habe mich gerächt. Bedauerlicherweise wird mein Name durch alle Zeitungen laufen, und so ist es mir nicht vergönnt, namenlos aus dieser Welt zu scheiden. In acht Wochen bin ich tot.

      Meine Rache ist so gräßlich wie mein Schmerz über meine Trennung von Dir. Von diesem Augenblick an untersage ich mir, Deinen Namen noch einmal hinzuschreiben oder auszusprechen. Rede nie von mir, auch später nicht zu unserm Sohne. Schweigen ist die einzige Möglichkeit, mich zu ehren. Für die große Herde der Menschen bin ich ein gemeiner Mörder.

      Darf ich offen und ehrlich sein? Du wirst mich vergessen! Die große Katastrophe, von der Du gut tun wirst, nie mit einem Sterblichen zu sprechen, wird alle Deine Romantik und Freude am Abenteuerlichen auf Jahre hinaus stillen. Du hättest zur Gefährtin eines Helden des Mittelalters getaugt. Beweise Deinen Rênaissance-Charakter! Das Unvermeidliche muß heimlich erfolgen, ohne daß Du Dich vor der banalen Welt bloßstellst. Vertraue Dich niemandem an! Verbirg Dich irgendwo unter einem falschen Namen. Wenn Du aber durchaus der Hilfe eines Freundes bedarfst, so vermache ich Dir als solchen den Pfarrer Pirard.

      Im übrigen sprich Dich vor keinem Menschen aus, zumal nicht vor Leuten Deiner Gesellschaftsklasse wie Luz und Caylus. Ein Jahr nach meinem Tode heiratest Du Herrn von Croisenois. Ich bitte Dich darum, ja, ich befehle es Dir als Dein Mann.

      Schreibe mir nicht! Ich würde nicht antworten. Weniger schlecht als Jago, sage ich mit ihm: Von dieser Stund’ an red ich nicht ein Wort!

      Niemand soll mich mehr schreiben sehen noch reden hören. Dir gelten meine letzten Worte und zugleich meine letzte Liebe.

      J.S.«

      Erst nachdem dieser Brief abgegangen war, kam Julian einigermaßen zur Besinnung. Jetzt fühlte er sich grenzenlos unglücklich. Jene großen Worte: In acht Wochen bin ich tot! rissen ihm seine ehrgeizigen Hoffnungen mit Stumpf und Stiel aus dem Herzen. Der Tod an und für sich war ihm nichts Schreckliches. Sein ganzes Leben war ein Gang nach Golgatha gewesen, und nie hatte er im einzelnen Leid das Endziel des Lebens vergessen.

      »Was soll das?« rief er sich zu. »Wenn ich in acht Wochen ein Duell mit einem berüchtigten Fechter hätte, wäre ich dann so schwach, in einem fort daran zu denken und Angst zu haben?«

      Er brauchte mehr als eine Stunde dazu, um sich in dieser Hinsicht genau kennenzulernen. Als er sich schließlich über seinen Seelenzustand völlig klar war, als er die Wahrheit genauso deutlich vor sich sah wie die Pfeiler seiner Gefängniszelle, da fragte er sich: »Bereue ich?

      Warum sollte ich Reue empfinden? Man hat mich auf das grausamste verletzt. Ich bin zum Mörder geworden. Ich verdiene den Tod. Das ist alles in Ordnung. Ich schließe meine Rechnung mit der Menschheit ab und sterbe. Ich hinterlasse keine unerfüllte Pflicht. Ich schulde niemandem etwas. Mein Tod ist nur durch seine Art eine Schande. In den Augen der Spießbürger von Verrières allerdings eine Riesenschande. Was gehen mich aber die Spießbürger an? Übrigens

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