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nur »ihr Zimmer« blieb wie früher. Nach dem Essen pflegte Karl hinaufzugehen. Er schob den runden Tisch an den Kamin und rückte ihren Sessel heran. Dem setzte er sich gegenüber. Eine Kerze brannte in einem der vergoldeten Leuchter. Berta, neben ihm, tuschte Bilderbogen aus.

      Es tat dem armen Manne weh, wenn er sein Kind so schlecht gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnüre, die Nähte des Kleidchens aufgerissen, denn darum kümmerte sich die Aufwartefrau nicht. Berta war sanft und allerliebst. Wenn sie das Köpfchen graziös neigte und ihr die blonden Locken über die rosigen Wangen fielen, dann sah sie so reizend aus, daß ihn unendliche Zärtlichkeit ergriff, eine Freude, die nach Wehmut schmeckte, wie ungepflegter Wein nach Pech. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr Hampelmänner aus Pappe und flickte sie aufgeplatzten Bäuche ihrer Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskästchen fielen, auf ein Band, das liegengeblieben war, oder auf eine Stecknadel, die noch in einer Ritze des Nähtisches steckte, dann verfiel er in Träumereien und sah so traurig aus, daß das Kind auch mit traurig wurde.

      Kein Mensch besuchte sie mehr. Justin war nach Rouen davongelaufen, wo er Krämerlehrling geworden war, und die Kinder des Apothekers ließen sich auch immer seltner sehen, da ihr Vater bei der jetzigen Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Fortsetzung des näheren Verkehrs keinen Wert legte.

      Der Blinde, den Homais mit seiner Salbe nicht hatte heilen können, war auf die Höhe am Wilhelmswalde zurückgekehrt und erzählte allen Reisenden den Mißerfolg des Apothekers. Wenn Homais zur Stadt fuhr, versteckte er sich infolgedessen hinter den Vorhängen der Postkutsche, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Er haßte ihn, und da er ihn zugunsten seines Rufes als Heilkünstler um jeden Preis aus dem Wege räumen wollte, legte er ihm einen Hinterhalt. Die Art und Weise, wie er das bewerkstelligte, enthüllte ebenso seinen Scharfsinn wie seine bis zur Verruchtheit gehende Eitelkeit. Sechs Monate hintereinander konnte man im »Leuchtturm von Rouen« Nachrichten wie die folgenden lesen:

      »Wer nach den fruchtbaren Gefilden der Pikardie reist, wird ohne Zweifel auf der Höhe am Wilhelmswalde einen Vagabunden bemerkt haben, der mit einem ekelhaften Augenleiden behaftet ist. Er belästigt und verfolgt die Reisenden, erhebt von ihnen gewissermaßen einen Zoll. Leben wir denn noch in den abscheulichen Zeiten des Mittelalters, wo es den Landstreichern erlaubt war, auf den öffentlichen Plätzen die Lepra und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie von einem der Kreuzzüge mitgebracht hatten?«

      Oder:

      »Ungeachtet der Gesetze gegen das Landstreichertum werden die Zugänge unsrer Großstädte noch unausgesetzt von Bettlerscharen heimgesucht. Manche treten auch vereinzelt auf, und das sind vielleicht nicht die ungefährlichsten. Aus welchem Grunde duldet das eigentlich die Obrigkeit?«

      Daneben erfand Homais auch Anekdoten:

      »Gestern ist auf der Höhe am Wilhelmswalde ein Pferd durchgegangen….«

      Es folgte der Bericht eines durch das plötzliche Auftauchen des Blinden verursachten Unfalls.

      Alles das hatte eine so treffliche Wirkung, daß der Unglückliche in Haft genommen wurde. Aber man ließ ihn wieder frei. Er trieb es wie vorher. Ebenso Homais. Es begann ein Kampf. Der Apotheker blieb Sieger. Sein Gegner wurde zu lebenslänglichem Aufenthalt in ein Krankenhaus gesteckt.

      Dieser Erfolg machte ihn immer kühner. Fortan konnte kein Hund überfahren werden, keine Scheune abbrennen, keine Frau Prügel bekommen, ohne daß er den Vorfall sofort veröffentlicht hätte – , geleitet vom Fortschrittsfanatismus und vom Haß gegen die Priester.

      Er stellte Vergleiche an zwischen den Volksschulen und den von den »Ignorantinern« geleiteten, die natürlich zum Nachteil der letzteren ausfielen. Anläßlich einer staatlichen Bewilligung von hundert Franken für kirchliche Zwecke erinnerte er an die Niedermetzelung der Hugenotten. Er denunzierte kirchliche Missbräuche. Er las den Pfaffen die Leviten, wie er meinte. Dabei wurde er ein gefährlicher Intrigant.

      Bald war ihm der Journalismus zu eng; er wollte ein Buch Schreiben, ein »Werk«. So verfaßte er eine »Allgemeine Statistik von Yonville und Umgebung nebst klimatologischen Beobachtungen«. Die damit verbundenen Studien führten ihn ins volkswirtschaftliche Gebiet. Er vertiefte sich in die sozialen Fragen, in die Theorien über die Volkserziehung, in das Verkehrswesen und andres mehr. Nun begann er sich seiner kleinbürgerlichen Obskurität zu schämen; er bekam genialische Anwandlungen.

      Seinen Beruf vernachlässigter dabei keineswegs, im Gegenteil, er verfolgte alle neuen Entdeckungen seines Faches. Beispielsweise interessierte ihn der große Aufschwung in der Schokoladenindustrie. Er war weit und breit der erste, der den Schoka (eine Mischung von Kakao und Kaffee) und die Eisenschokolade einführte. Er begeisterte sich für die hydro-elektrischen Ketten Pulvermachers und trug selbst eine. Wenn er beim Schlafengehen das Hemd wechselte, staunte Frau Homais diese goldene Spirale an, die ihn umschlang, und entbrannte in verdoppelter Liebe für diesen Mann, der wie ein Magier glänzte.

      Für Emmas Grabmal hatte er sehr schöne Ideen. Zuerst schlug er einen Säulenstumpf mit einer Draperie vor, dann eine Pyramide, einen Vestatempel in Form einer Rotunde, zu guter Letzt eine »künstliche Ruine«. Keinesfalls aber dürfe die Trauerweide fehlen, die er für das »traditionelle Symbol« der Trauer hielt.

      Karl und er fuhren zusammen nach Rouen, um bei einem Grabsteinfabrikanten etwas Passendes zu suchen. Ein Kunstmaler begleitete sie, namens Vaufrylard, ein Freund des Apothekers Bridoux. Er riß die ganze Zeit über schlechte Witze. Man besichtigte an die hundert Modelle, und Karl erbat sich die Zusendung von Kostenanschlägen. Er fuhr dann ein zweitesmal allein nach Rouen und entschloß sich zu einem Grabstein, über dem ein Genius mit gesenkter Fackel trauert.

      Als Inschrift fand Homais nichts schöner als: STA VIATOR!

      Diese Worte schlug er immer wieder vor. Er war richtig vernarrt in sie. Beständig flüsterte er vor sich hin: »Sta viator!«

      Endlich kam er auf: AMABILEM CONJUGEM CALCAS!

      Das wurde angenommen.

      Seltsamerweise verlor Bovary, obwohl er doch ununterbrochen an Emma dachte, mehr und mehr die Erinnerung an ihre äußere Erscheinung. Zu seiner Verzweiflung fühlte er, wie ihr Bild seinem Gedächtnis entwich, während er sich so viel Mühe gab, es zu bewahren. Dabei träumte er jede Nacht von ihr. Es war immer derselbe Traum: er sah sie und näherte sich ihr, aber sobald er sie umarmen wollte, zerfiel sie ihm in Staub und Moder.

      Eine Woche lang sah man ihn jeden Abend in die Kirche gehen. Der Pfarrer machte ihm zwei oder drei Besuche, dann aber gab er ihn auf. Bournisien war neuerdings überhaupt unduldsam, ja fanatisch, wie Homais behauptete. Er wetterte gegen den Geist des Jahrhunderts, und aller vierzehn Tage pflegte er in der Predigt vom schrecklichen Ende Voltaires zu erzählen, der im Todeskampfe seine eignen Exkremente verschlungen habe, wie jedermann wisse.

      Trotz aller Sparsamkeit kam Bovary nicht aus den alten Schulden heraus. Lheureux wollte keinen Wechsel mehr prolongieren, und so stand die Pfändung abermals bevor. Da wandte er sich an seine Mutter. Sie schickte ihm eine Bürgschaftserklärung. Aber im Begleitbriefe erhob sie eine Menge Beschuldigungen gegen Emma. Als Entgelt für ihr Opfer erbat sie sich einen Schal, der Felicies Raubgier entgangen war. Karl verweigerte ihn ihr. darüber entzweiten sie sich.

      Trotzdem reichte sie bald darauf selber die Hand zur Versöhnung. Sie schlug ihrem Sohne vor, sie wolle die kleine Berta zu sich nehmen; sie könne ihr im Haushalt helfen. Karl willigte ein. Aber als das Kind abreisen sollte, war er nicht imstande sich von ihm zu trennen. Diesmal erfolgte ein endgültiger, völliger Bruch.

      Nun hatte er alles verloren, was ihm lieb und wert gewesen war, und er schloß sich immer enger an sein Kind an. Aber auch dies machte ihm Sorgen. Berta hustete manchmal und hatte rote Flecken auf den Wangen.

      Ihm gegenüber machte sich in Gesundheit, Glück und Frohsinn die Familie des Apothekers breit. Was Homais auch wollte, gelang ihm. Napoleon half dem Vater im Laboratorium, Athalia stickte ihm ein neues Käppchen, Irma schnitt Pergamentpapierdeckel für die Einmachegläser, und Franklin bewies ihm bereits schlankweg den pythagoreischen Lehrsatz. Der Apotheker war der glücklichste Vater und der glücklichste Mensch.

      Und

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