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so. Sie kam wie aus heiterem Himmel auf mich zu. Keine Ahnung, woher sie wusste, wer ich bin, aber das ist mir eigentlich auch egal. Jedenfalls kam dann eins zum anderen, und sie erzählte mir, dass Großvater noch lebt.«

      »Wer ist Brittany?« Hunter hatte sich wieder Gordon zugewandt.

      Dieser antwortete nicht, sondern schwieg in Gedanken versunken.

      »Großvater?«, beharrte Hunter. »Wer war sie?«

      »Jemand, den ich vor vielen Jahren kennenlernte, aber sie hat nichts damit zu tun, dass du jetzt hier bist. Ich freue mich sehr, dass Sebastian mich gefunden hat und auch, dass ich dich jetzt bei mir habe. Wir haben schließlich eine Menge nachzuholen.«

      »Das ist wohl untertrieben.«

      »Kommt mit mir.« Gordon erhob sich langsam.

      Die Brüder folgten ihm hinaus in die klirrende Kälte des frühen Nachmittags. Hunter beobachtete, wie beschwerlich sein Großvater auf den kleinen Friedhof hinter dem Haus zuging. Hinter dessen schmiedeeisernem Zaun standen wie Mahnmale neun Grabsteine.

      Gordon zeigte auf den größten. »Aus diesem Grund musste ich vor all der Zeit meinen Tod vortäuschen.«

      Hunter bückte sich und las den Namen darauf: Samantha Van Zandt.

      »Mir ist das alles immer noch schleierhaft. Großmutter ist Jahre nach dir gestorben – außer natürlich sie lebt ebenfalls noch.« Hunter rief diese Worte geradezu.

      Gordons Blick wurde vorübergehend trüb. »Leider nein. Keine Minute vergeht, in der ich nicht an sie denken muss. Ich habe sie so sehr geliebt. Sie war eine gute Frau. Hoffentlich findet ihr Jungs irgendwann auch eine Frau wie eure Großmutter.«

      »Aber ich verstehe das nicht. Was hat ihr Tod damit zu tun, dass du deinen eigenen vortäuschen musstest?«

      »Ich gab ihr ein Versprechen, gleich dort, vor fast fünfzig Jahren«, antwortete Gordon. Er zeigte zu einer mit Platten ausgelegten Terrasse direkt neben der großen Veranda des Hauses. »Dass ihr zwei hier seid, freut mich aus mehreren Gründen, unter anderem, damit ich mein Wissen an euch weitergeben kann. Geschichte wiederholt sich allzu oft deshalb, weil der Mensch vergisst, welche Lektionen ihm die Vergangenheit erteilt hat.«

      »Dann sag es uns bitte, erkläre es uns«, flehte Hunter. »Viele dort draußen verehren dich, aber von manchen wirst du auch verflucht.«

      »Um Kritiker habe ich mich noch nie gekümmert. Mir ist schon vor langer Zeit klar geworden, dass einige Menschen nicht aus ihrer Haut können, aber ich schulde euch tatsächlich eine Erklärung dafür, warum ich den Entschluss gefasst habe, offiziell zumindest aus dieser Welt zu scheiden. Allerdings muss ich mit dem Versprechen beginnen, das ich eurer Großmutter vor all den Jahren gegeben habe, denn nur so erhält meine Entscheidung auch einen nachvollziehbaren Zusammenhang.«

      »Ich bin ganz Ohr«, entgegnete Hunter.

      Gordon schauderte vor Kälte. Der Wind brachte sein graues, schütteres Haar in Wallung. Er blickte seinen ältesten Enkel an. In Hunters grünen Augen erkannte er seine Gene und sein Erbe. Während er sich darauf vorbereitete, seine eigene Sicht der Dinge von dem zu schildern, was sich zugetragen hatte, sprach er: »Lasst uns zurück ins Haus gehen und etwas zu trinken besorgen, danach erzähle ich euch alles.«

      24. Juni 2015

      »Die Versprechungen dieser Welt sind größtenteils Trugbilder …«

      Michelangelo

       McCall, Idaho, Vereinigte Staaten

      Gordon und Samantha lächelten. Gleich hinter dem Haus lag nun ein Stück frisch bestellte Erde – der erste Ansatz eines Gartens. In der Nähe spielte Haley in einem Sandkasten, der von ihrem Vater gebaut worden war, nachdem sie sich an ihr neues Leben in McCall gewöhnt hatten. Der intensive und angenehme Geruch des umgegrabenen Bodens lag in der Luft, während sie diesen Moment des Stolzes und der Zufriedenheit miteinander teilten.

      Bis Mitte Mai waren die Straßen so weit enteist, dass die Gruppe von Eagle aus aufbrechen konnte, um ihre Reise fortzusetzen, die in San Diego begonnen hatte. Fast auf den Tag genau fünf Monate, nachdem sie losgefahren waren, erreichten sie ihr Ziel. Bei ihrem Aufbruch in Kalifornien hatte ihr Zug aus sechs Familien bestanden, doch aufgrund von Widrigkeiten während der Fahrt und vorschnellen Beschlüssen einiger Gruppenmitglieder war nun nur noch die Hälfte übrig geblieben, als sie McCall erreichten. Unterwegs hatten sie viele verloren – Menschen, die ihnen lieb und teuer gewesen waren –, aber auch Zuwachs bekommen, unter anderem von Sebastian, Annaliese und Luke. Am ersten Kontrollpunkt in McCall waren sie mit gemischten Gefühlen zusammengetroffen. Der Verlust von Hunter, Frank, Mack und Holloway lastete schwer auf ihnen, doch sie waren fest entschlossen, etwas aus ihrer zweiten Chance zu machen.

      Furchtbare Schrecken und Entbehrungen lagen hinter ihnen, doch nun waren alle zuversichtlich, dass McCall ihr sicherer Hafen abseits der neuen Welt war. Hier konnten sie noch einmal ganz von vorne beginnen und wieder zueinanderfinden, was vor allem Gordon und Samantha am Herzen lag. Ihre traumatischen Erfahrungen hatten ihnen stark zugesetzt und auch ihrer Beziehung Schaden zugefügt. Beiden war bewusst, dass sie beheben mussten, was im Argen lag, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch für Haley. Irgendwo im tiefsten Kern befand sich ihre Ehe auf einem festen Fundament der Liebe, doch darüber taten sich erhebliche Risse auf.

      Samantha hatte Gordon verzeihen wollen, dass er sie nach Hunters Tod alleingelassen hatte, aber sie konnte es nicht. Er hatte seine Haltung eindrücklich dargelegt, und sie verstand, warum er Hunter hatte rächen wollen, wurde aber das Gefühl nicht los, er habe Haley und sie durch sein Verschwinden in Gefahr gebracht. Eines Abends war er schließlich eingeknickt, seine harte Schale aufgeweicht und darunter ein Mann zum Vorschein gekommen, der sich dafür schämte, seinen Sohn in eine Situation gebracht zu haben, die Gefangenschaft und Tod nach sich gezogen hatte. Er räumte ein, dass sich einige seiner Beweggründe dafür, nicht sofort zurückzukehren, daraus ergeben hatten, dass er nicht in der Lage gewesen war, ihr unter die Augen zu treten. Er hatte geglaubt, sie im Stich gelassen und ihren einzigen Sohn durch seine Entscheidungen getötet zu haben. Das bisschen Seelenfrieden, das sie vielleicht noch haben konnten, hing nun von der Gewissheit ab, dass Rahab tot war und niemand anderem mehr schaden konnte, erklärte er ihr.

      Samantha fühlte sich trotz seiner hingebungsvollen Erklärung aber immer noch verletzt. Sie sah die Welt mit anderen Augen als Gordon, wusste jedoch auch, dass sie genau deswegen mit ihm harmonierte. Sie teilten ähnliche Wertvorstellungen, packten das Leben aber auf unterschiedliche Weise an. Nach seinem Nervenzusammenbruch und dem tränenreichen Geständnis nahm sie sich vor, ihm unbedingt zu verzeihen, denn andernfalls würden sie nicht imstande sein, in Frieden weiterzuleben. Jemand hatte ihr einmal gesagt, niemand könne gesund werden, solange seine Wunden unbehandelt bluteten, und mit diesem Gedanken im Hinterkopf beschloss sie, man dürfe der Vergangenheit nicht länger nachtrauern.

      »Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass Michael Rutledge genügend Holz für uns hat, also können wir die Räucherkammer bauen, die du wolltest«, erzählte Gordon. »Er wollte morgen irgendwann damit vorbeikommen.«

      »Das ist toll, ich mag die Rutledges«, erwiderte Samantha strahlend.

      »Ja, sie sind gute Menschen. Ich habe bemerkt, dass ihr, Tiffany und du, ein Herz und eine Seele seid«, feixte Gordon.

      Samantha warf ihm einen strengen Blick zu. »Ein Herz und eine Seele? Den Ausdruck habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Meine Güte, es kommt mir vor, als sei er irgendwann einmal wichtig gewesen.«

      »Freunde sind immer noch wichtig.«

      »Natürlich sind sie das, bloß war ich in San Diego derart darauf versteift, Freunde – in Anführungszeichen – zu finden und mit den braven Frauchen Dinge zu unternehmen, die sich für Mamas schickten, dass ich ganz aus den Augen verloren habe, was echte Freunde sind. Du weißt schon: Verabredungen zu Spielrunden, gemeinsame Abendessen, zusammen mit anderen Müttern ausgehen, bla, bla, bla. Will man ständig

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