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Au­gen­blick sieht er sie zö­gernd an, ob er auch das noch sa­gen soll. Er ist sonst wirk­lich nicht nach­tra­gend, aber dies­mal hat sie ihn zu sehr ge­kränkt, erst, weil sie ihm kein Es­sen gab, dann, als sie vor sei­nen Au­gen of­fen­sicht­lich alle gu­ten Sa­chen in die Kam­mer trug. So sagt er denn: »Ich, wenn ich ’ne Mut­ter wäre, ich möch­te so ’nen Sohn nie wie­der in mei­ne Arme neh­men, solch Schwein, wie der ge­wor­den ist!« Er sieht in ihre von der Angst ver­grö­ßer­ten Au­gen, er sagt es ihr er­bar­mungs­los in das wäch­ser­ne Ge­sicht hin­ein. »Auf dem letz­ten Ur­laub, da hat er mir ein Foto von sich ge­zeigt, das hat ein Ka­me­rad von ihm auf­ge­nom­men. Noch ge­prahlt hat er mit dem Bild. Da ist dein Kar­le­mann drauf zu se­hen, wie er so ’n Ju­den­kind von viel­leicht drei Jah­ren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er’s ge­gen die Stoß­stan­ge vom Auto …«

      »Nein! Nein!«, schreit sie. »Das hast du ge­lo­gen! Das hast du dir aus Ra­che aus­ge­dacht, weil ich dir kein Es­sen ge­ge­ben habe! So was tut Kar­le­mann nicht!«

      »Wie kann ich mir das denn aus­ge­dacht ha­ben?«, fragt er, schon wie­der ru­hi­ger, nach­dem er ihr die­sen Stoß ver­setzt hat. »Mir so was aus­zu­den­ken, habe ich gar nicht den Kopf! Und üb­ri­gens, wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja in die De­stil­le von Senf­ten­berg ge­hen, da hat er das Foto al­len ge­zeigt. Der di­cke Senf­ten­berg und dem sei­ne Olle, die ha­ben es auch ge­se­hen …«

      Er hört auf zu re­den. Es ist sinn­los, jetzt mit die­ser Frau wei­ter­zu­re­den, sie sitzt da, den Kopf auf dem Tisch, und heult. Das hat sie da­von, und üb­ri­gens ist sie doch auch in der Par­tei und hat im­mer auf den Füh­rer und al­les, was er tat, ge­schwo­ren. Da kann sie sich doch nicht wun­dern, dass der Kar­le­mann so ge­wor­den ist.

      Ei­nen Au­gen­blick steht Enno Klu­ge und sieht zwei­felnd nach dem Kana­pee hin­über – kei­ne De­cke und kei­ne Kis­sen! Das kann ’ne schö­ne Nacht wer­den! Aber viel­leicht ist das gra­de jetzt der rich­ti­ge Au­gen­blick, was zu ris­kie­ren? Er steht zwei­felnd, sieht nach der ver­schlos­se­nen Kam­mer­tür hin, dann ent­schließt er sich. Er greift ein­fach in die Schür­zen­ta­sche der hem­mungs­los wei­nen­den Frau und holt den Schlüs­sel raus. Er schließt die Tür auf und fängt an, in der Kam­mer rum­zu­su­chen, und das nicht ein­mal lei­se …

      Eva Klu­ge, die ab­ge­hetz­te, über­mü­de­te Brief­be­stel­le­rin, hört das al­les auch; sie weiß, dass er sie jetzt bes­tiehlt, aber es ist ihr gleich. Ihre Welt ist doch ka­putt, ihre Welt kann nie wie­der heil wer­den. Wozu hat man denn ge­lebt auf die­ser Welt, wozu hat man Kin­dern das Le­ben ge­schenkt, sich an ih­rem Lä­cheln, ih­ren Spie­len er­freut, wenn dann Tie­re aus ih­nen wer­den? Ach, der Kar­le­mann – er war solch ein sü­ßer blon­der Jun­ge! Wie sie da­mals mit ihm im Zir­kus Busch war, und die Pfer­de muss­ten sich der Län­ge nach hin­le­gen im Sand, wie er da Mit­leid mit den ar­men Hot­tos hat­te – ob sie krank sei­en? Sie muss­te ihn be­ru­hi­gen, die Hot­tos schlie­fen nur.

      Und nun ging er hin und tat den Kin­dern an­de­rer Müt­ter dies an! Nicht einen Au­gen­blick zwei­fel­te Frau Eva Klu­ge dar­an, dass das mit dem Bil­de stimm­te, Enno war wirk­lich nicht fä­hig, sich so was aus­zu­den­ken. Nein, sie hat­te nun auch den Sohn ver­lo­ren. Es war viel schlim­mer, als wenn er ge­stor­ben wäre, dann hät­te sie we­nigs­tens über ihn trau­ern kön­nen. Jetzt konn­te sie ihn nie mehr in die Arme neh­men, auch vor ihm muss­te sie ihr Heim ver­schlos­sen hal­ten.

      Der su­chen­de Mann in der Kam­mer hat un­ter­des das ge­fun­den, was er längst im Be­sitz sei­ner Frau ver­mu­te­te: ein Post­spar­kas­sen­buch. 632 Mark drauf, ’ne tüch­ti­ge Frau, aber ei­gent­lich wozu so tüch­tig? Sie kriegt doch mal ei­nes Ta­ges ihre Ren­te, und was sie sonst ge­spart hat … Er wird mor­gen erst mal je­den­falls 20 Mark auf Ade­bar set­zen und viel­leicht 10 auf Ha­mil­kar … Er blät­tert wei­ter in dem Buch: nicht nur ’ne tüch­ti­ge Frau, auch ’ne or­dent­li­che. Al­les liegt bei­sam­men: hin­ten im Buch ist die Kon­troll­mar­ke, und die Aus­zah­lungs­zet­tel feh­len auch nicht …

      Er will das Buch gra­de in die Ta­sche ste­cken, da ist die Frau bei ihm. Sie nimmt ihm das Buch ein­fach aus der Hand und legt es aufs Bett. »Raus!«, sagt sie nur. »Raus!«

      Und er, der eben noch den gan­zen Sieg fest in sei­nen Hän­den glaub­te, geht vor ih­ren bö­sen Au­gen aus der Kam­mer. Mit zit­tern­den Hän­den, ohne auch nur ein Wort zu wa­gen, hol­te er Man­tel und Müt­ze aus dem Schrank, ohne ein Wort ging er durch die ge­öff­ne­te Tür an ihr vor­bei ins dunkle Trep­pen­haus. Die Tür wur­de ins Schloss ge­zo­gen, er knips­te die Trep­pen­be­leuch­tung an und stieg die Stu­fen hin­ab. Gott­lob hat­te je­mand die Haus­tür of­fen­ge­las­sen. Er wird in sei­ne Stamm­knei­pe ge­hen; zur Not, wenn er nie­man­den fin­det, lässt ihn der Bu­di­ker auf dem Sofa dort schla­fen. Er mar­schiert los, in sein Schick­sal er­ge­ben, ge­wohnt, Schlä­ge ein­zu­ste­cken. Die Frau oben hat er schon wie­der halb ver­ges­sen.

      Sie aber steht am Fens­ter und starrt in das abend­li­che Dun­kel hin­aus. Schön. Schlimm. Auch Kar­le­mann ist ver­lo­ren. Sie wird es noch mit Max ver­su­chen, dem jün­ge­ren Sohn. Max war im­mer farb­lo­ser, mehr der Va­ter als sein glän­zen­der Bru­der. Vi­el­leicht kann sie sich in Max einen Sohn ge­win­nen. Und wenn nicht, nun gut, dann wird sie eben für sich al­lein le­ben. Aber sie wird an­stän­dig blei­ben. Dann hat sie eben das im Le­ben er­reicht, dass sie an­stän­dig ge­blie­ben ist. Gleich mor­gen wird sie hor­chen, wie man es an­fängt, aus der Par­tei her­aus­zu­kom­men, ohne dass die sie ins KZ ste­cken. Es wird schwer fal­len, aber viel­leicht schafft sie es. Und wenn es eben gar nicht an­ders sein kann, geht sie ins KZ. Das ist dann ge­wis­ser­ma­ßen ein klein biss­chen Süh­ne für das, was Kar­le­mann ge­tan hat.

      Sie zer­knüllt den an­ge­fan­ge­nen, ver­wein­ten Brief an den Äl­te­ren. Sie legt ein neu­es Brief­blatt hin und be­ginnt zu schrei­ben:

      »Lie­ber Sohn Max!

      Ich will Dir wie­der mal ein Brief­lein schrei­ben. Mir geht es noch gut, was ich auch von Dir hof­fe. Va­ter war eben hier, aber ich habe ihm die Tür ge­wie­sen, er woll­te doch nur von mir zie­hen. Auch von Dei­nem Bru­der Karl habe ich mich los­ge­sagt, we­gen der Scheuß­lich­kei­ten, die er be­gan­gen hat. Jetzt bist Du mein ein­zi­ger Sohn. Ich bit­te Dich, blei­be im­mer an­stän­dig. Ich will auch al­les tun, was ich für Dich kann. Schrei­be mir bald auch ein­mal ein Brief­lein. Es grüßt und küsst Dich

      Dei­ne Mut­ter.«

      6. Otto Quangel gibt sein Amt auf

      Die mit etwa acht­zig Ar­bei­tern und Ar­bei­te­rin­nen be­setz­te Werk­statt der Mö­bel­fa­brik, der Otto Quan­gel als Werk­meis­ter vor­stand, hat­te bis zum Kriegs­aus­bruch nur Ein­zel­mö­bel nach Zeich­nun­gen her­ge­stellt, wäh­rend die Fa­brik sonst in al­len ih­ren an­de­ren Ab­tei­lun­gen nur Mas­sen­mö­bel an­fer­tig­te. Mit dem Kriegs­be­ginn war der gan­ze Be­trieb auf die Her­stel­lung von Hee­res­gut um­ge­stellt wor­den, und der Quan­gel’­schen Werk­statt war da­bei die Auf­ga­be zu­ge­fal­len, ge­wis­se, sehr schwe­re und große Kis­ten her­zu­stel­len, von de­nen be­haup­tet wur­de, sie dienten zum Trans­port schwe­rer Bom­ben.

      Was Otto Quan­gel an­ging, so war es ihm ganz egal, wozu die Kis­ten dienten; er fand die­se neue, geist­lo­se Ar­beit sei­ner un­wür­dig und ver­ächt­lich. Er war ein rich­ti­ger Kunst­tisch­ler ge­we­sen, den die Ma­se­rung ei­nes Hol­zes, die An­fer­ti­gung ei­nes schön ge­schnitz­ten Schran­kes mit ei­nem Ge­fühl tiefer Be­frie­di­gung er­fül­len konn­te.

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