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      In der Werk­stät­te des Sarg­tisch­lers sich selbst über­las­sen, setz­te Oli­ver sei­ne Lam­pe auf eine Werk­bank, von Furcht und Grau­en durch­schau­ert. Ein fer­ti­ger Sarg auf ei­nem schwar­zen Ge­stell mit­ten im La­den er­in­ner­te ihn so sehr an den Tod, dass ihn ein kal­ter Schau­er über­lief, so oft sich sein Blick hin­ver­irr­te, und zu­wei­len kam es ihm so vor, als müs­se je­den Au­gen­blick eine ent­setz­li­che Ge­stalt lang­sam ihre Hand er­he­ben und ihn aus dem Sar­ge her­aus an­star­ren, bis er wahn­sin­nig vor Furcht wür­de. Die Wand ent­lang in re­gel­mä­ßi­gen Rei­hen stand eine Men­ge Bret­ter aus Ul­men­holz, alle eben­falls zu Sär­gen be­stimmt. Bei dem trü­ben Licht sa­hen sie wie hoch­schult­ri­ge Ge­s­pens­ter aus, die die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen ge­steckt hat­ten. Sarg­plat­ten, Holz­spä­ne, lang­köp­fi­ge Nä­gel und Stücke Trau­er­flor la­gen auf dem Bo­den um­her. Die Wand hin­ter dem La­den­tisch war mit ei­nem Bild ge­schmückt, das zwei Lei­chen­die­ner mit stei­fen Kra­gen, die vor dem Por­tal ei­nes Pri­vat­hau­ses ihr Amt ver­sa­hen, dar­stell­te, wäh­rend ein Lei­chen­wa­gen, von vier schwar­zen Pfer­den ge­zo­gen, aus der Fer­ne her­an­ge­fah­ren kam. Der La­den war eng und heiß und die gan­ze Luft ge­sät­tigt von dem Ge­ruch von Sär­gen. Der Ver­schlag un­ter dem La­den­tisch, wo für Oli­ver eine Woll­ma­trat­ze aus­ge­brei­tet lag, sah aus wie ein Grab.

      Oli­ver fühl­te sich trost­los al­lein und ver­las­sen, und wenn er auch kei­nen Schmerz über Tren­nung von Freun­den oder An­ge­hö­ri­gen emp­fand, so war ihm doch das Herz un­säg­lich schwer. Und wie er in sein en­ges Bett hin­ein­kroch, wünsch­te er sich, es möch­te sein Sarg sein und man trü­ge ihn hin­aus auf den Kirch­hof, wo das hohe stil­le Gras über ihm im Win­de säu­sel­te und das Läu­ten der al­ten Kirch­turm­glo­cken ihn träu­men mach­te in süßem Schlum­mer.

      Am nächs­ten Mor­gen er­weck­ten ihn lau­te Fuß­trit­te ge­gen die Au­ßen­sei­te der Werk­stät­ten­tü­re. Er sprang auf und be­gann die Vor­häng­ket­te zu lö­sen; da erst lie­ßen die Füße von ih­ren Trit­ten ab und eine Stim­me rief: »Mach’ die Tür auf, na, wird’s bald!« »So­fort, Sir«, er­wi­der­te Oli­ver, mach­te die Ket­te gänz­lich los und dreh­te den Schlüs­sel um.

      »Du bist wohl der neue Lehr­bursch, was?« frag­te die Stim­me durch das Schlüs­sel­loch.

      »Ja, Sir«, ant­wor­te­te Oli­ver.

      »Wie alt bist du denn?« frag­te die Stim­me wei­ter.

      »Zehn Jah­re, Sir.«

      »Dann werd’ ich dich durch­prü­geln, wenn ich hin­ein­kom­me«, pro­phe­zei­te die Stim­me. »Gib nur acht, wenn ich erst drin bin, du Zucht­häus­ler.«

      Nach die­sem lie­bens­wür­di­gen Ver­spre­chen schwieg der un­sicht­ba­re Mund und be­gann zu pfei­fen.

      Oli­ver hat­te schon zu oft das an­ge­droh­te Schick­sal über sich er­ge­hen las­sen, um noch den lei­ses­ten Zwei­fel zu he­gen, dass der Be­sit­zer der Stim­me, wer er auch sein möge, sein Ver­spre­chen hal­ten wer­de. Mit zit­tern­der Hand schob er den Rie­gel zu­rück und öff­ne­te die Türe.

      Ein paar Se­kun­den lang blick­te er die Stra­ße auf und ab, im Glau­ben, der Un­be­kann­te, der ihn durch das Schlüs­sel­loch an­ge­re­det, sei ein paar Schrit­te wei­ter­ge­gan­gen, um sich zu er­wär­men, aber er er­blick­te nie­mand als einen Wai­sen­jun­gen aus dem städ­ti­schen Ar­men­haus, der auf ei­nem Pfos­ten vor dem Hau­se saß und ein But­ter­brot ver­zehr­te.

      »Ent­schul­di­gen Sie, Sir«, sag­te Oli­ver schließ­lich, da er nie­mand an­ders se­hen konn­te, »ha­ben Sie viel­leicht ge­klopft?«

      »Ja, mit die Fieß an die Tür g’­sto­ßen hab i«, er­wi­der­te der frem­de Wai­sen­kna­be.

      »Wün­schen Sie viel­leicht einen Sarg?« frag­te Oli­ver un­schul­dig.

      »Du wirst bald sel­ber einen brau­chen«, war die zor­ni­ge Ant­wort, »wenn du dir sol­che Frech­hei­ten mit dei­nem Vor­ge­setz­ten her­aus­nimmst. Du weißt viel leicht gar nicht, wer ich bin«, fuhr der Wai­sen­kna­be fort und er­hob sich wür­de­voll von sei­nem Sitz.

      »Nein, Sir«, gab Oli­ver zu.

      »Ich bin Mr. Noah Clay­po­le«, sag­te der Wai­sen­jun­ge, »und du bist mein Un­ter­ge­be­ner. Mach’ die Fens­ter­lä­den auf, jun­ger Hund!« Bei die­sen Wor­ten ver­setz­te »Mr.« Clay­po­le Oli­ver einen Tritt und schritt mit wür­de­vol­ler Mie­ne in die Werk­stät­te. Für einen jun­gen Herrn mit großem Schä­del und klei­nen Maus­au­gen, von schlott­ri­ger Ge­stalt und ei­nem Brei­ge­sicht ist es nicht leicht, sich ein wür­de­vol­les Air zu ge­ben. Aber ganz be­son­ders schwie­rig ist es, wenn zu die­sen per­sön­li­chen Vor­zü­gen noch eine rote Nase und gel­be Knie­ho­sen hin­zu­kom­men.

      Nach­dem Oli­ver die Fens­ter­lä­den ent­fernt und bei sei­nem Be­mü­hen, sie bei­sei­te zu stel­len, eine Fens­ter­schei­be zer­bro­chen hat­te, wur­de er beim Weg­schlep­pen der üb­ri­gen Vor­fens­ter gnä­digst von Mr. Noah un­ter­stützt, der ihm da­bei als Trost die Ver­si­che­rung gab, er wür­de es »mords­mä­ßig er­wi­schen«. Bald dar­auf kam Mr. So­wer­ber­ry her­un­ter und so­gleich er­schi­en auch Mrs. So­wer­ber­ry. Und rich­tig ging Mr. Noahs Pro­phe­zei­ung in Er­fül­lung, d.h. Oli­ver krieg­te es wirk­lich und folg­te dann sei­nem ju­gend­li­chen Amts­ge­nos­sen die Trep­pe hin­un­ter zum Früh­stück.

      »Komm nä­her zum Feu­er«, sag­te Char­lot­te. »Ich hab’ dir ein Stückel Speck auf­g’ho­ben von dem Herrn sei­nem Früh­stück, Oli­ver, mach’ die Tür zu hin­ter Mr. Noah und nimm dir die Res­te, die ich dir dort­hin ge­stellt hab’. Da hast dei­nen Tee, nimm dir ihn und scher dich zu der Kis­ten dort und trink ihn – aber a bis­sel rasch ge­fäl­ligst. Du musst nach­her auf den La­den acht­ge­ben, ver­stan­den?«

      »Ver­stan­den, Zucht­häus­ler?« wie­der­hol­te Noah Clay­po­le.

      »Jes­sas, Jes­sas, Noah!« rief Char­lot­te. »Bist du aber heut lus­tig; lass doch den Ben­gel in Ruh.«

      »In Ruh las­sen?« sag­te Noah. »Der wird schon so­wie­so g’­nug in Ruh g’las­sen. Den las­sen sein Va­ter und sei­ne Mut­ter schon so­wie­so in Ruh. Sei­ne gan­ze Ver­wandt­schaft lasst ihn schon in Ruh. Was, Char­lot­te? Hi­hi­hi!«

      Char­lot­te konn­te sich gar nicht hal­ten vor Ge­läch­ter, in das Noah kräf­tig mit ein­stimm­te. Dann setz­ten sie sich zu­sam­men und war­fen von Zeit zu Zeit dem ar­men Oli­ver ver­ächt­li­che Bli­cke zu, wie er vor Käl­te schau­dernd auf sei­ner Kis­te im Win­kel saß und die schä­bi­gen Res­te ver­zehr­te, die für ihn auf­ge­ho­ben wa­ren.

      Noah war ein Zög­ling aus dem Wai­sen­stift und nicht etwa eine Wai­se aus dem Ar­beits- oder Ar­men­haus. Er war auch kein Find­ling und konn­te sei­nen Stamm­baum schnur­ge­ra­de bis zu sei­nen El­tern hin­auf, die dicht da­ne­ben wohn­ten, her­lei­ten. Sei­ne Mut­ter war eine Wasch­frau und sein Va­ter ein ver­sof­fe­ner Sol­dat mit ei­nem Stelz­fuß und ei­ner Ta­ge­spen­si­on von zwei­ein­halb Pence. Die Lauf­bur­schen in der Nach­bar­schaft pfleg­ten Noah mit dem Spitz­na­men »Wai­sen­stift­ler« oder »Le­der­büch­se« zu be­le­gen, und Noah hat­te es still­schwei­gend er­tra­gen müs­sen. Aber jetzt warf ihm das Schick­sal durch einen

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