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Mes­ser an sei­ne Stirn drückend, durch die Stra­ßen ins Ge­mein­de­ar­beits­haus.

      Noah Clay­po­le hielt nicht einen Au­gen­blick im Lau­fen inne und kam atem­los vor dem Tor des Ge­mein­de­ar­beits­hau­ses an. Ei­nen Au­gen­blick blieb er ste­hen, um eine mög­lichst kläg­li­che Mie­ne an­zu­neh­men, klopf­te dann laut und zeig­te dem al­ten Ar­men­häus­ler, der ihm öff­ne­te, ein so jam­mer­vol­les Ge­sicht, dass die­ser vor Er­stau­nen zu­rück­prall­te und frag­te: »Um Got­tes wil­len, was hast du denn, Jun­ge?«

      »Mr. Bum­ble, Mr. Bum­ble«, schrie Noah in gut ge­heu­chel­ter Angst und so laut und gel­lend, dass Mr. Bum­ble, der ihn so­fort hör­te, au­gen­blick­lich ohne sei­nen Drei­spitz in die Flur ge­stürzt kam – ein deut­li­cher Be­weis, dass un­ter Um­stän­den so­gar ein Kirch­spiel­die­ner die Be­sin­nung ver­lie­ren und alle Wür­de au­ßer acht las­sen kann.

      »Mr. Bum­ble, Mr. Bum­ble«, keuch­te Noah, »Oli­ver, Mr. Bum­ble, – Oli­ver – Oli­ver ist -«

      »Was denn, was ist er denn?« frag­te Mr. Bum­ble, und ein Strahl von Freu­de leuch­te­te aus sei­nen glä­ser­nen Au­gen. »Doch nicht da­von­ge­lau­fen? So sprich doch, Noah!«

      »Nein, Sir, nein, fort­ge­lau­fen ist er nicht, Sir. Aber mich, Char­lot­te und Mrs. So­wer­ber­ry hat er er­mor­den wol­len. O Gott, o Gott, Sir, – mein Hals, mein Kopf, mei­ne Brust – ich halts nicht aus vor Schmer­zen.«

      Sein Jam­mer­ge­heul lock­te den Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te her­bei.

      »Sir!« schrie Bum­ble. »Hö­ren Sie! Hier ist ein Jun­ge aus dem Wai­sen­stift, der von Oli­ver Twist bei­na­he er­mor­det wor­den wäre.«

      »Se­hen Sie, se­hen Sie«, rief der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te und blieb er­starrt ste­hen. »Hab ichs nicht gleich ge­sagt! Ich habe im­mer pro­phe­zeit: der Bur­sche wird noch ein­mal am Gal­gen en­den.«

      »Und das Dienst­mäd­chen hat er auch er­mor­den wol­len«, stot­ter­te Mr. Bum­ble mit asch­fah­lem Ge­sicht.

      »Und Mrs. So­wer­ber­ry auch«, setz­te Mr. Clay­po­le hin­zu.

      »Und sei­nen Herrn eben­falls, nicht wahr, Noah?«

      »Nein, der war aus­ge­gan­gen«, er­klär­te Noah, »sonst hätt er ihn si­cher auch er­mor­det.«

      »So? Hat er das an­ge­droht?« frag­te der Gent­le­man in der wei­ßen Wes­te.

      »Ja, Sir«, ant­wor­te­te Noah. »Und eine Emp­feh­lung von Mrs. So­wer­ber­ry, und Sie lässt fra­gen, ob Mr. Bum­ble nicht Zeit hat, gleich mit­zu­kom­men und ihn durch­zu­prü­geln, da der Herr Meis­ter nicht zu Hau­se ist.«

      »Ge­wiss, mein Jun­ge, ge­wiss«, ver­si­cher­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te und lä­chel­te gü­tig. »Du bist ein bra­ver Jun­ge – ein bra­ver Jun­ge. Hier hast du einen Pen­ny. Bum­ble, neh­men Sie mal gleich Ihren Stock und ge­hen Sie hin­über und tun Sie, was Sie kön­nen. Scho­nen Sie den Bur­schen nicht, Bum­ble!«

      »Nein, ge­wiss nicht, Sir«, ver­sprach der Kirch­spiel­die­ner und rieb das Ende sei­nes Stockes mit Wachs ein, wie es im Kirch­spiel üb­lich war, wenn eine Prü­gel­stra­fe voll­streckt wer­den soll­te.

      »Sa­gen Sie auch So­wer­ber­ry, dass er ihn ja nicht schont. Ohne Strie­men und Beu­len tuts der Laus­ben­gel nicht«, er­mahn­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

      »Ich wer­de die Sa­che schon be­sor­gen, Sir«, ver­sprach der Kirch­spiel­die­ner und mach­te sich mit Noah ei­ligst auf den Weg zum La­den des Sarg­tisch­lers.

      Hier hat­ten die Din­ge in­zwi­schen kei­ne we­sent­li­che Än­de­rung er­fah­ren. Mr. So­wer­ber­ry war noch im­mer nicht zu­rück, im­mer noch schlug und stieß Oli­ver aus Lei­bes­kräf­ten ge­gen die Bret­ter­wand. Die Schil­de­run­gen, die Mrs. So­wer­ber­ry und Char­lot­te von sei­ner Wild­heit ga­ben, wa­ren so ver­blüf­fen­der Art, dass Mr. Bum­ble es für an­ge­bracht hielt, vor­erst ein­mal zu par­la­men­tie­ren, ehe er die Kel­ler­tü­re auf­sperr­te. Er leg­te zu die­sem Zweck sei­nen Mund an das Schlüs­sel­loch und rief mit Bass­s­tim­me hin­ein:

      »Oli­ver.«

      »Las­sen Sie mich hin­aus«, ant­wor­te­te Oli­ver von in­nen.

      »Kennst du mei­ne Stim­me, Oli­ver?« forsch­te Mr. Bum­ble.

      »Ja.«

      »Und du fürch­test dich nicht vor mir? Du zit­terst nicht?«

      »Nein«, ver­setz­te Oli­ver kühn.

      Mr. Bum­ble war sprach­los vor Er­stau­nen. »Er muss ver­rückt ge­wor­den sein«, be­merk­te Mrs. So­wer­ber­ry.

      »Nein, das ist nicht Ver­rückt­heit, Ma­da­me«, sag­te Mr. Bum­ble, »das macht das Fleisch.«

      »Was?« rief Mrs. So­wer­ber­ry.

      »Ja, ja, das kommt vom Flei­sches­sen, Mrs. So­wer­ber­ry. Da ha­ben Sies. Über­füt­tert ha­ben Sie ihn. Sie ha­ben sei­nen re­bel­li­schen Sinn ge­weckt. Und das war un­recht ge­han­delt, wie Ih­nen auch die Her­ren Amts­vor­stän­de, die ge­wiss er­fah­re­ne Män­ner sind, be­stä­ti­gen wer­den. Hät­ten Sie ihm wei­ter sei­nen Ha­fer­schleim ge­ge­ben, wäre so et­was nie pas­siert.«

      »O Gott im Him­mel, Gott im Him­mel«, jam­mer­te Mrs. So­wer­ber­ry, die Au­gen fromm zur De­cke er­he­bend. »Das hat man da­von, wenn man li­be­ral denkt.«

      Wie­der fing Oli­ver an, ge­gen die Bret­ter­wand zu häm­mern, da ging die Türe un­ten und Mr. So­wer­ber­ry kam nach Hau­se. Nach­dem ihm Oli­vers Mis­se­tat haarklein ge­schil­dert wor­den, wo­bei es an Über­trei­bun­gen na­tür­lich nicht fehl­te, rie­gel­te er un­ver­züg­lich die Kel­ler­tü­re auf und zog sei­nen re­bel­li­schen Lehr­jun­gen am Kra­gen her­aus.

      Oli­vers Klei­der wa­ren in­fol­ge der Prü­ge­lei to­tal zer­ris­sen. Sein Ge­sicht war zer­kratzt und mit Beu­len be­deckt, und das Haar hing ihm wild über die Stirn. Aber im­mer noch lag die Zor­nes­rö­te auf sei­nen Wan­gen, und wie er her­aus­ge­zerrt wur­de, schoss er einen grim­mi­gen Blick auf Noah.

      »Du bist mir ja ein net­ter Bur­sche«, schrie Mr. So­wer­ber­ry, schüt­tel­te ihn tüch­tig durch und gab ihm eine Ohr­fei­ge.

      »Er hat mei­ne Mut­ter be­schimpft«, ant­wor­te­te Oli­ver.

      »Na, was ist denn da wei­ter da­bei, du un­dank­ba­rer Tau­ge­nichts«, gell­te Mrs. So­wer­ber­ry. »Hat er da­mit viel­leicht nicht recht ge­habt.«

      »Nein, er hat nicht recht ge­habt«, rief Oli­ver.

      »Sie hat es ver­dient«, schrie Mrs. So­wer­ber­ry.

      »Das ist eine Lüge«, er­klär­te Oli­ver kühn.

      So­fort brach Mrs. So­wer­ber­ry in eine Flut von Trä­nen aus, die ih­rem Gat­ten kei­ne Wahl mehr wei­ter ließ. Woll­te er wirk­lich einen Au­gen­blick zö­gern, Oli­ver streng zu be­stra­fen, so gab es für ihn jetzt kei­ne Ent­schul­di­gung mehr; sei­ne Ehe­hälf­te wür­de ihm die schreck­lichs­ten Pre­dig­ten ge­hal­ten ha­ben. Er züch­tig­te Oli­ver da­her in ei­ner Wei­se, die Mr. Bum­bles Ein­grei­fen mehr als über­flüs­sig mach­te. Dann wur­de der

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