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sie, die Leere in ihrem Kopf zu überwinden und sie mit Gedanken auszufüllen. Mit Gedanken, die um Hannes kreisten. Doch so recht wollte ihr das nicht gelingen. Jedes Mal, wenn sie an den Mann dachte, den sie liebte, gab es ihr einen schmerzhaften Stich in die Brust. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass er sie hatte fallen lassen, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte. Maßlose Traurigkeit ergriff sie.

      Die durch die nur angelehnte Tür ihres Zimmers hereindringenden Geräusche auf dem Gang, die verschiedentlichen Zurufe der Krankenschwestern, die bereits mit den Vorbereitungen für die Ausgabe des Abendessens begannen, hörte sie nur wie aus weiter Ferne. Die sich in diesen Sekunden nähernden festen Schritte zweier Männer, die vor der Tür ihres Zimmers Halt machten, vernahm sie gar nicht. Auch nicht die Stimme des einen, der in gedämpftem Ton dem anderen etwas sagte.

      »Hier drin liegt sie, Herr Hornegg.« Dr. Bernau war es, der das sagte und hinzufügte: »Gehen Sie nur hinein!«

      »Kommen Sie nicht mit, Herr Doktor?«

      Dr. Bernau schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, das müssen Sie schon allein durchstehen. Wenn Sie mich aber brauchen – ich bin in meinem Zimmer links am Ende des Ganges.« Er nickte dem jungen Mann aufmunternd zu und ging davon. Einer ihm entgegenkommenden Schwester gab er die Weisung, in den nächsten fünfzehn Minuten das Zimmer 28 nicht zu betreten. »Keine Störung bitte, denn in dem Zimmer geht es jetzt um Sein oder Nichtsein«, gab er der Schwester mit einem vielsagenden Blick lächelnd zu verstehen.

      Die Schwester begriff im ersten Augenblick zwar nicht ganz, was Dr. Bernau mit seinen Worten meinte, lächelte aber verständnisvoll, als sie den jungen Mann erblickte, der gerade die Tür zu dem bewussten Krankenzimmer aufdrückte, eintrat und die Tür wieder hinter sich halb zuzog. Sie wusste ja, wer in diesem Zimmer lag, und ahnte etwas. Gewundert hatte sie sich ohnehin schon, dass die sympathische junge Frau, die schon ein paar Tage hier in der Klinik lag, bisher noch keinen Besuch bekommen hatte. Außer heute Nachmittag von einer älteren Dame das erste Mal. Als sie Sekunden später an diesem Krankenzimmer vorbeiging, vernahm sie durch die nicht ganz geschlossene Tür den doppelten Aufschrei.

      »Hannes …«

      »Christine …«

      Beide Rufe klangen freudig überrascht von der einen Seite und erleichtert und liebevoll von der anderen Seite.

      Die Schwester lächelte, und leise zog sie die Tür ganz zu, ehe sie weiterging, um sich um das gerade angefahrene Abendessen für die Patientinnen zu kümmern.

      Die gleiche Schwester war es auch, die nach einigen Minuten mit dem Essenstablett vor der Tür des Zimmers 28 stand, um der darin liegenden Christine Häußler das Abendessen zu bringen. Sekundenlang zögerte sie, weil sie an die Weisung Dr. Bernaus, nicht zu stören, dachte. Doch dann klopfte sie kurz und trat ein. »Das Abendessen, Frau Häußler«, sagte sie und – staunte nicht schlecht. Sie sah eine völlig verwandelte Patientin, eine lächelnde junge Frau, deren Augen freudig glänzten und die lachend erklärte, dass sie jetzt einen unbändigen Hunger verspürte. Sie sah auch, wie der junge Mann liebevoll die Hand der Patientin streichelte, und hörte ihn sagen: »Ich komme morgen wieder, Schatz, jeden Tag, bis du entlassen wirst. Ade bis morgen.«

      Der Schwester einen freundlichen Blick zuwerfend, verließ dieser junge Mann beschwingt das Krankenzimmer.

      Die Schwester war von alledem so überrascht, dass sie kein Wort über die Lippen brachte, sondern das Tablett mit dem Essen nur schweigend absetzte und sich entfernte. Sprudelnd aber berichtete sie Sekunden später dem gerade aus seinem Zimmer kommenden Dr. Bernau, was sie eben gesehen und erlebt hatte. »Die Patientin ist wie ausgewechselt, Herr Doktor.«

      Dr. Bernau lächelte. »Ja, Schwester, das können Sie sich merken – Liebe ist immer eine gute und meistens erfolgreiche Therapie«, sagte er und ließ die verdutzte Schwester einfach stehen.

      *

      Verdutzt, zumindest überrascht war auch Dr. Lindau am folgenden Tag, als er Visite machte und mit Dr. Bernau und der Stationsschwester das Zimmer 28 betrat und Christine Häußler begrüßte. Wie in den vergangenen Tagen hatte er auch heute eine teilnahmslose und in einer Art Lethargie befindliche Patientin vorzufinden befürchtet. Doch das krasse Gegenteil war der Fall. Schon nach seiner ersten Frage nach dem Befinden erhielt er eine Antwort, die ihn staunen ließ.

      »Gut, Herr Doktor, sogar wunderbar«, erwiderte Christine lächelnd und mit froh glänzenden Augen. »Wie lange muss ich noch in der Klinik bleiben?«, setzte sie fragend hinzu.

      Dr. Lindau wechselte einen erstaunten Blick mit Dr. Bernau und wandte sich gleich wieder an die Patientin. »Fünf oder sechs Tage vielleicht noch«, beantwortete er Christine Häußlers Frage. »Haben Sie es denn eilig, wieder nach Hause zu kommen?«, wollte er wissen und lächelte.

      »Ja, Herr Doktor, denn wir wollen heiraten«, erwiderte Christine. »Mein Hannes hat es mir gestern gesagt.«

      Wieder flog ein Blick des Chefarztes zu Dr. Bernau hin. »Dann kann ich eigentlich nur gratulieren, Frau Häußler«, sagte er zu der Patientin.

      »Danke, Herr Doktor …«

      Dr. Lindau wurde ernst. »Keine Schlaftabletten mehr, Frau Häußler?«, fragte er.

      Christine schüttelte den Kopf. »Nein, niemals«, antwortete sie. »Es war dumm von mir«, setzte sie leise hinzu.

      Dr. Lindau atmete erleichtert auf. Die Psychiatrie konnte er nun vergessen. »Ich freue mich für Sie«, sagte er und reichte Christine verabschiedend die Hand. »Tja, dann also weiter«, wandte er sich an Dr. Bernau und an die Stationsschwester und schritt zur Tür.

      »Herr Doktor …«

      »Ja?« Dr. Lindau drehte sich um.

      »Entschuldigung, ich meinte Herrn Doktor Bernau«, entgegnete Christine und sah Dr. Bernau fest an. »Danke, vielen Dank«, sagte sie leise.

      Dr. Bernau verstand. Er ärgerte sich sekundenlang, dass er vergessen hatte, Herrn Hornegg zu sagen, dass sein Mitmischen, seine Initiative in dieser Liebesangelegenheit unerwähnt bleiben sollte. »Schon gut, Frau Häußler«, rief er der Patientin leise zu. Etwas verlegen folgte er dem Chefarzt auf den Gang hinaus. Er erwartete jetzt einige peinliche Fragen von Dr. Lindau, der sicher wissen wollte, wofür die Patientin sich bedankt hatte. Zumindest würde er etwas ahnen.

      Und da kam sie auch schon, die Frage, kaum dass sich die Stationsschwester entfernt hatte. »Haben Sie ein wenig Schicksal gespielt, Herr Bernau?«, wollte Dr. Lindau wissen.

      Dr. Bernau nickte. »Es tut mir leid, aber …«

      »Es tut Ihnen leid?«, unterbrach der Chefarzt seinen Mitarbeiter. »Na, erlauben Sie mal! Seien Sie froh, dass Sie sich dazu überwunden haben. Es sind nicht allein die medizinischen Kenntnisse, die einen guten Arzt ausmachen. Bleiben Sie so.«

      Dr. Bernau atmete auf. Solche anerkennenden Worte des Chefarztes freuten ihn mächtig. »Ich bemühe mich«, sagte er.

      »Das ist gut«, gab Dr. Lindau lächelnd zurück. »Doch nun wieder an die Arbeit«, wechselte er das Thema. »In zehn Minuten sehen wir uns bei der Arztbesprechung wieder.« Er murmelte einen Gruß und schritt davon.

      Dr. Bernau straffte sich, und mit zufriedener Miene betrat er das Stationszimmer, um mit der Stationsschwester die für den Tag vorgesehenen Behandlungen und Therapien abzusprechen. Wie ein Pfadfinder, der eine gute Tat vollbracht hat, wie es nun einmal die Pfadfinderregeln vorschrieben, kam er sich im Augenblick vor. Die Stimme der Stationsschwester erinnerte ihn aber gleich wieder daran, dass er kein Pfadfinder, sondern ein Arzt in der Klinik am See war und als solcher medizinische Aufgaben zu erfüllen hatte.

Das Glück hat einen Riss bekommen

      Dr. Hendrik Lindau saß zurückgelehnt im Stuhl. Er hatte die Füße übereinandergeschlagen, er war ganz bei der Sache. Hin und wieder klopfte er mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. Dies geschah, wenn er einem Satz besondere Bedeutung beimaß.

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