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Sie war eine unersättliche Leserin guter Romane und ich glaube, die Merediths und Tolstois, die ich geerbt habe, waren für sie angeschafft worden.

      Mein Vater hatte ganz andere Vorlieben. Seine Schwäche war die Redekunst, als junger Mann hatte er selbst vor politischen Kreisen in England gesprochen. Wäre er finanziell unabhängig gewesen, er hätte sicherlich eine politische Laufbahn angestrebt. Er wäre wahrscheinlich sogar erfolgreich gewesen – es sei denn, sein Sinn für Ehrenhaftigkeit, der so fein war, dass es ans Quijotehafte grenzte, hätte ihn unlenkbar gemacht – denn er besaß viele der Gaben, die ein Parlamentarier früher brauchte: ein ansprechendes Äußeres, eine volltönende Stimme, eine beträchtliche Geistesgegenwart, Wortgewandtheit und ein gutes Gedächtnis. Trollopes politische Romane liebte er sehr; heute nehme ich an, dass er stellvertretend seine eigenen Sehnsüchte erfüllte, indem er der Laufbahn des Phineas Finn folgte. Er schätzte Lyrik, soweit sie rhetorische oder pathetische Elemente oder beides aufwies; Othello, glaube ich, war sein Lieblingsstück von Shakespeare.

      An humoristischen Autoren von Dickens bis W.W. Jacobs hatte er fast durchweg große Freude; und er war selbst beinahe konkurrenzlos der beste Geschichtenerzähler, den ich je gehört habe; jedenfalls der beste von seiner Art, der Art nämlich, die alle Figuren abwechselnd durch reichlichen Einsatz von Grimassen, Gesten und Pantomime darstellt. Das größte Vergnügen für ihn war es, wenn er sich für ein Stündchen mit einem oder zwei meiner Onkel in ein Zimmer zurückziehen und Anekdoten mit ihnen austauschen konnte.

      Freilich hatten weder er noch meine Mutter auch nur das Geringste für die Art Literatur übrig, der ich mich verschrieb, kaum dass ich mir meine Bücher selbst aussuchen konnte. Keiner von ihnen hatte je auf den Klang der Hörner aus Elfenland gelauscht. Es gab kein Exemplar von Keats oder Shelley im Haus, und was von Coleridge vorhanden war, wurde, soviel ich weiß, niemals aufgeschlagen. Wenn ich also ein Romantiker bin, tragen meine Eltern keine Schuld daran. Tennyson freilich schätzte mein Vater, aber nur den Tennyson von In Memoriam und Locksley Hall. Über die Lotus Eaters oder den Morte d’Arthur habe ich von ihm nie ein Wort gehört. Meine Mutter hatte, wie man mir sagte, für Lyrik überhaupt keinen Sinn.

      Zusätzlich zu guten Eltern, gutem Essen und einem Garten (der mir damals riesengroß erschien), in dem ich spielen konnte, genoss ich zu Beginn meines Lebens noch zwei weitere Segnungen. Eine davon war unser Kindermädchen Lizzie Endicott, an der selbst die unbestechliche Erinnerung der Kindheit keinen Makel entdecken kann – nichts als Freundlichkeit, Fröhlichkeit und gesunden Menschenverstand. Diesen Unsinn mit den vornehmen „Kinderfräulein“ gab es damals noch nicht. Durch Lizzie konnten wir unsere Wurzeln im Landvolk von County Down schlagen. Dadurch gingen wir in zwei ganz verschiedenen sozialen Sphären ein und aus. Diesem Umstand verdanke ich meine lebenslange Immunität gegen die bisweilen anzutreffende Gleichsetzung von Kultiviertheit mit Tugend. Noch bevor mein Erinnerungsvermögen einsetzte, hatte ich begriffen, dass man bestimmte Scherze mit Lizzie machen konnte, die im Wohnzimmer völlig fehl am Platze waren; und ebenso, dass Lizzie, soweit das einem Menschen möglich ist, schlicht und einfach gut war.

      Der andere Segen war mein Bruder. Obwohl er drei Jahre älter war als ich, erschien er mir nie wie ein großer Bruder; wir waren von Anfang an Verbündete. Dennoch waren wir sehr verschieden. Unsere frühesten Bilder (und ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der wir nicht unausgesetzt gemalt und gezeichnet hätten) bringen es an den Tag. Er zeichnete Schiffe, Züge und Schlachten; ich dagegen zeichnete, wenn ich ihn nicht gerade nachahmte, das, was wir beide „Tiere in Kleidern“ nannten – die anthropomorphen Tiere der Kinderliteratur. Seine erste Geschichte – als der Ältere ging er vor mir vom Zeichnen zum Schreiben über – trug den Titel Der junge Radscha. Schon damals hatte er Indien zu „seinem“ Land gemacht; das meine war „Tierland“.

      Ich glaube nicht, dass unter den heute noch existierenden Zeichnungen welche sind, die aus den hier geschilderten ersten sechs Jahren meines Lebens stammen, doch ich habe eine Menge, die nicht viel jünger sein können. Nach ihnen zu urteilen, scheint mir, dass ich der Begabtere von uns beiden war. Schon sehr früh konnte ich Bewegung zeichnen – Figuren, die so aussahen, als liefen oder kämpften sie tatsächlich – und die Perspektive ist gut. Doch nirgends, weder in den Arbeiten meines Bruders noch in meinen eigenen, findet sich auch nur ein einziger Strich, der einer noch so rudimentären Vorstellung von Schönheit gefolgt wäre. Da sind Dramatik, Komik, Einfallsreichtum; aber ein Gefühl für Gestaltung ist nicht einmal im Keim vorhanden, und die sichtliche Unkenntnis natürlicher Formen ist erschreckend. Bäume sehen aus wie Wattebäusche, die auf Pfosten stecken, und nichts weist darauf hin, dass einer von uns die Form auch nur eines der Blätter des Gartens kannte, in dem wir täglich spielten.

      Jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir, dass dieses Fehlen der Schönheit kennzeichnend für unsere Kindheit war. Kein Bild an den Wänden meines Vaterhauses zog je unsere Aufmerksamkeit auf sich – und es gab auch keines, das sie verdient hätte. Wir bekamen nie ein schönes Gebäude zu Gesicht oder ließen uns auch nur träumen, dass ein Gebäude schön sein könnte.

      Meine ersten ästhetischen Erfahrungen, wenn sie denn ästhetisch waren, waren nicht von dieser Art; sie bezogen sich nicht auf die Form, sondern waren bereits unheilbar romantisch. Eines Tages in jener allerersten Zeit brachte mein Bruder den Deckel einer Keksdose ins Kinderzimmer, den er mit Moos bedeckt und mit Zweigen und Blumen geschmückt hatte, sodass daraus ein Spielzeuggarten oder ein Spielzeugwald wurde. Das war das erste Mal, dass mir Schönheit begegnete. Was der echte Garten nicht vermocht hatte, brachte der Spielzeuggarten fertig. Er machte mir die Natur bewusst – freilich nicht als Schatzkammer von Formen und Farben, sondern als etwas Kühles, Tauiges, Frisches, vor Leben Sprühendes.

      Ich glaube nicht, dass mir dieser Eindruck in jenem Moment sehr wichtig war, aber in der Erinnerung gewann er bald eine große Bedeutung. Solange ich lebe, wird meine Vorstellung vom Paradies etwas von dem Spielzeuggarten meines Bruders haben.

      Und jeden Tag hatten wir die „grünen Hügel“, wie wir sie nannten, vor Augen; die niedrige Linie der Castlereagh Hills, die wir vom Kinderzimmer aus sehen konnten. Sie waren nicht sehr weit weg, aber für Kinder waren sie völlig unerreichbar. Sie lehrten mich die Sehnsucht und machten mich, zum Wohl oder Wehe, bevor ich sechs Jahre alt war, zu einem andächtigen Verehrer der Blauen Blume.

      Waren ästhetische Erfahrungen selten, so gab es religiöse Erfahrungen überhaupt nicht. Manche Leute haben aus meinen Büchern den Eindruck gewonnen, ich sei streng puritanisch erzogen worden, aber das ist keineswegs der Fall. Ich lernte das Übliche, wurde zum Beten angehalten und als die Zeit dafür reif war, wurde ich in die Kirche mitgenommen. Ich nahm selbstverständlich hin, was man mir sagte, aber ich kann mich nicht erinnern, ein besonderes Interesse dafür verspürt zu haben.

      Mein Vater, weit entfernt davon, besonders puritanisch zu sein, war nach den Maßstäben des neunzehnten Jahrhunderts und der Church of Ireland recht hochkirchlich eingestellt und wie bei der Literatur war auch sein Zugang zur Religion demjenigen, den ich später für mich fand, gerade entgegengesetzt. Er hatte eine spontane Freude am Reiz der Tradition und der poetischen Schönheit der Bibel und des Gebetbuchs (alles Dinge, die ich erst spät und mit Mühe schätzen lernte) und man müsste wohl lange nach einem gleichermaßen intelligenten Menschen suchen, der sich so wenig aus Metaphysik machte wie er.

      Über die religiöse Einstellung meiner Mutter kann ich so gut wie nichts aus eigener Erinnerung sagen. Jedenfalls hatte meine Kindheit ganz und gar nichts Überirdisches an sich. Von dem Spielzeuggarten und den grünen Hügeln abgesehen war sie noch nicht einmal sehr fantasieanregend. In meiner Erinnerung lebt sie vornehmlich als eine Zeit alltäglichen, prosaischen Glücks und sie erweckt in mir nicht die schmerzliche Sehnsucht, mit der ich auf meine viel weniger glückliche Jugendzeit zurückblicke. Nicht das gefestigte Glück, sondern die momentane Freude ist es, die die Vergangenheit verklärt erscheinen lässt.

      In diesem allgemeinen Glück gab es eine Ausnahme. Meine früheste Erinnerung ist der Schrecken gewisser Träume. Das ist ein verbreitetes Problem in diesem Alter, aber immer scheint es mir noch merkwürdig, dass sich in dem umhegten und behüteten Raum der Kindheit so oft ein Fenster öffnet und den Blick freigibt auf etwas, das der Hölle sehr nahekommt.

      Meine bösen Träume waren von zweierlei Art, nämlich

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