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      Lisa lugte auf die Wolken. Es war angenehm ruhig, die meisten Fluggäste dösten. Außer den Schritten der Stewardessen hörte sie nur das gleichmäßige Surren der Düsen. Lisa legte den Kopf auf Alwins Schulter und dachte an ihre Mutter, die sie nie wirklich gekannt, und die sie doch in ihrer Wahrheit erlebt hatte, dessen war sie sich sicher. Eine Wahrheit, die einem in leuchtenden Farben geschmückten Tempel glich.

      Lisa war bei ihren Großeltern in Kanada aufgewachsen. Ihr Vater, ein verheirateter Engländer, hatte sich nie zu der herumreisenden Zigeunerin bekannt, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Deren Eltern hatten jedoch einen Zirkus. Als ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt verschwand, übernahmen Lisas Großeltern ihre Erziehung. Die zwei älteren, liebevollen Menschen hatten ihr eine wunderbare Kindheit geschenkt und sie gelehrt, die Geborgenheit in der Reise, die Heimat in der Fremde zu umarmen.

      Sie war in ihrem Leben viel herumgekommen. Dabei hatte sie immer getan, was sie fühlte, tun zu müssen. Oft genug kam sie dadurch in Schwierigkeiten; tat Dinge, die viele Menschen aus der Bahn warfen. Sie riss dort Wände ein, wo sie andere mühsam errichtet hatten, und oft genug ging sie dabei Leuten auf die Nerven. Doch sie konnte nicht anders.

      Ihre Ehe mit Alwin war einem Segeltörn auf hoher See vergleichbar, weit weg vom sicheren Hafen. Dann, letztes Jahr, kam Leonhard. Als Alwin ihr mittgeteilt hatte, er hätte sich in einen jüngeren Mann verliebt, schlitterte Lisa zuerst in eine Depression. Es war, als wäre sie in eine seelische Totenstarre verfallen. Doch dann geschah, was sie trotz ihrer unkonventionellen Einstellung nicht für möglich gehalten hätte: Sie verliebte sich in den Liebhaber ihres Mannes. Für Alwin stellte das kein Problem dar, für Leonhard auch nicht, und sie erlebte mit diesen beiden Männern nie geahnte Höhenflüge.

      Es war ein paar Tage nachdem Leonhard sich verabschiedet hatte und Lisa eines Abends den Bestseller der Autorin Mary Rocking, „The Return of the Godess“, zu Ende gelesen hatte. Die folgende Nacht träumte sie diesen Traum. Es war ein Traum, in dem sie Farben schmecken und Gerüche tasten konnte. Als sie aufwachte, fühlte sie sich erleichtert. Den ganzen Tag über spürte sie, etwas war anders in ihrem Leben. Am Abend begann sie plötzlich zu schreiben; das erste Mal nach so langer Zeit, nachdem sie als Kind ihre Geschichten verbrannt hatte. Die Worte flossen nur so aus ihrer Feder. Nach drei Monaten gab es neunhundert handgeschriebene Seiten mehr auf diesem Planeten. Sie überarbeitete den Text über die Machenschaften einer Göttin namens „Tochronoth“ und ließ das Manuskript als Buch binden. Es existierte nur ein einziges Exemplar davon. Für sie war dieses kreative Erlebnis eine Offenbarung. Seitdem wusste sie, das Paradies war etwas aus dem sie niemals vertrieben worden war – einem magischen Dreieck ähnlich, das über einem Abgrund kreist.

      In London angekommen, nahmen sich Alwin und Lisa erst einmal ein Hotel. Weniger, um sich von dem langen Flug, sondern vielmehr von dem Schock zu erholen, höchstwahrscheinlich in göttlicher Mission unterwegs zu sein. Erst am Morgen des dritten Tages fragte Alwin in der mit Kaminfeuer erwärmten Frühstückshalle: „So, und was jetzt?“ Er sah Lisa an, als würde er noch immer irgendwo über den Wolken schweben.

      Seine Frau zuckte mit den Schultern. „Mal sehen...!“, gab sie lächelnd zurück. Sie schob sich eine weitere Weinbeere in den Mund und meinte, „gehen wir doch einfach spazieren!“

      Aber sie gingen nicht, denn da wären sie wahrscheinlich noch heute unterwegs. Also mieteten sie sich eine große hässliche Limousine, die für einen Parkplatz drei Pferdekutschenlängen beansprucht und deren Fenster mit kugelsicherem Glas verdunkelt sind. Wie alle anderen steckten sie im Stau. Als die Limousine schließlich an der Statue von Lord Nelson vorbeikroch, sagte Lisa zu Alwin, „Cherie, ich steige kurz aus!“ Anzuhalten brauchte der Fahrer ohnehin nicht. Lisa würde das Gefährt schon bald wieder eingeholt haben. Sie ging zu einem der großen steinernen Löwen und stand länger davor.

      „Victoria Street!“, rief sie dem Chauffeur zu, als sie die Limousine bei der Kurve Richtung Piccadilly Circus wieder erreicht hatte.

      Alwin legte den Arm um sie. „Was willst du denn in der City, hast du etwa vor, eine Weltwirtschaftskrise heraufzubeschwören?“

      Lisa schwieg. Als sie der Limousine endlich entstiegen, setzte Alwin seine Sonnenbrille auf. Zumindest das war heute an London besonders: das Wetter war wunderschön. Sie gingen durch die mit Menschen dichtbevölkerte Straße, als Lisa unvermittelt stehenblieb.

      „Es wird uns wahrscheinlich niemand beobachten, aber vielleicht kannst du so tun als würdest du mit mir reden, während ich mich mit dem steinernen Löwen dort oben an der Fassade unterhalte?“

      Alwin betrachtete bloß den von Taubendreck beschissenen Löwen auf der Fassade eines im vorletzten Jahrhundert erbauten Herrschaftshauses. „Natürlich, Liebling!“

      Ihren Blick nach oben gerichtet begann Lisa vorsichtig: „Guten Tag, Sir Leo, der Vierte hoch 3, können Sie sich noch an mich erinnern?“

      Der steinerne Löwe verzog keine Miene, denn er war ja ein steinerner Löwe. Nach dem dritten Gruß jedoch war ein nur für Lisa wahrnehmbares sattes Brummen von der Fassade her zu hören. „Wer stört mich da in meiner Ruhe?“

      „Erinnern Sie sich noch an mich? Wir haben uns letzten Frühling kennen gelernt.“, fügte sie fast entschuldigend hinzu. Dann sprach sie schnell weiter. „Genaugenommen war es in einer andere Zeit, und ich hatte auch ... nun, eine etwas andere Form!“

      „Pah, und von so verrücktem Gesindel lass ich mich um meinen Mittagsschlaf bringen!“, brüllte der Löwe aufgebracht.

      Alwin stand da und verrenkte seine Lippen. Da Lisa den kleinen König der Londoner Steinwüste schon ein bisschen kannte, sprach sie unbeirrt weiter. „Ich bin es, nun, sagen wir mal, ich bin Bela Petty. Es war Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts und ich war eine Eule!“, versuchte sie der Steinfigur etwas auf die Sprünge zu helfen.

      Sir Leo, der Vierte hoch 3, schwieg kurz; dann ließ er helles Brummen hören. „Ach ja, die kleine Eule, die keine war, und verfolgt wurde – von wem eigentlich? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“

      „Das tut doch heute nichts zur Sache, aber Sie haben mir durch Purtschitz, die Spitzmaus, einen sicheren Schlafplatz vermittelt, wofür ich Ihnen heute noch dankbar bin!“

      „Bitte, bitte! Werden Sie schon wieder verfolgt? Der Taubenschlag westlich von St. Pauls wäre zu haben! Ein prima Versteck!“ Sir Leo war freundlicher geworden, nachdem seine steinernen Gehirnzellen in Schwung gekommen waren.

      „Danke, Sir Leo, der Vierte hoch 3. Heute bin ich ausnahmsweise nicht auf der Flucht. Aber ich hatte das Gefühl, ich sollte Ihnen einen Besuch abstatten. Ihr Artgenosse am Trafalgar Square hat mir nämlich berichtet, dass Jim Hicksley seit vier Wochen plötzlich spurlos verschwunden ist!“

      „Jim Hicksley… ist das vielleicht der betrunkene Amerikaner, der die Tauben gefüttert hat?“, unterbrach Alwin Lisa unvermittelt.

      Erstaunt sah sie ihren Mann an. „DU kennst Jim Hicksley?“

      „Ja, damals, als wir dich gesucht haben…, in deinem Buch. Ich meine…, ich hab es ja auch gelesen, und ich war doch der, der Hicksley nach dir befragt hat...!“, stotterte Alwin. Warum er jetzt so reagierte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sicher war, dass er Lisa zu sehr liebte, um sie mit ihrer Intuition alleine zu lassen. Dann lieber mit in ihre Welt gehen! Außerdem hatte sie ihn in diesem Buch so hervorragend beschrieben, schon dafür schuldete er ihr eine Gewisse Loyalität.

      Lisa schüttelte besorgt den Kopf. „Der Arme, er muß ganz durcheinander gewesen sein, als es plötzlich ‚plopp’ gemacht hat, und ihr nicht mehr da wart!“ Zu dem steinernen Löwen hochblickend meinte sie nach einem Augenblick: „Ihr Kollege hat gesagt, dass die Bank auf der Jim saß, plötzlich leer war! Haben Sie vielleicht Jim in der Victoria Street gesehen?“

      „Hm, nein, hab ich nicht, er kam auch sonst nur selten in dieses Viertel.“

      „Sir Leo, haben Sie vielleicht um die Zeit, als Hicksley verschwunden ist, so vor vier Wochen ungefähr, haben SIE da etwas Besonderes gespürt oder bemerkt?“

      „Vier

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