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Als erstes müssen wir die Grenze dieser Landschaft erreichen, denn wir befinden uns hier im Nichtigen Reich. Alles ist der Nichtigkeit preisgegeben, da es keinen Stein, keine Pflanze, keinen Tümpel und keinen Berg wirklich gibt, aber wenn wir…“

      „Eben…! Alles ist so nichtig hier!“, unterbrach Prof Draciterius Elester aufgebracht. „Dann kehren wir doch ins Buch zurück! Ich brauche keine eigene Geschichte. Meine adeliges Blut ist geschichtsträchtig genug!“

      „Nein, das ist nicht möglich!“, mischte sich Penny Lo ins Gespräch. „Wir können nicht mehr ins Buch zurück! Wären wir wenigstens in der wirklichen Welt, dann könnten wir unser Buch suchen und vielleicht wieder zwischen den Zeilen verschwinden. Doch wo das Nichtige Reich genau ist, wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wer wir genau sind! Wir haben die Form von Menschen und Tieren, aber das einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir in einem Buch entstanden sind! Außerdem ist das hier bei weitem nicht Schottland! Wir wandern doch schon tagelang Richtung Westen und hätten längst das Meer erreichen müssen, doch hier gibt es kein Meer!“ Diese Feststellung traf die Meerkatze Fischa. Ihre Enttäuschung war riesig. Da sie das Meer in ihrer Gattungsbezeichnung trug, hatte sie sich immer schon gewünscht, es einmal zu sehen.

      Der Professor quengelte unterdessen unbeirrt weiter: „Und ob ich ein Mensch bin! Nieder mit dem versklavenden Idealismus, es lebe der Humanismus – auch wenn ich meiner Zeit etwas vorgreife! Schauen Sie sich ein Bild aus dem 16. Jahrhundert an: auf einer zweidimensionalen Fläche ist bereits eine räumliche Darstellung zu erkennen! Dank dem logischen Verstand und der genauen Beobachtung! Pah, wahrlich, ich sage Ihnen: cogito, ergo sum! Wir gehen einfach den Weg zurück, meine Herrschaften, und ich werde diesem Nichts eine Dimension hinzufügen – dank meiner Pendelexperimente, um uns wieder unserer wahren Heimat zuzuführen! Vertrauen Sie auf die Wissenschaft der Renaissance – ich habe schließlich Leonardo da Vincis geometrische Skizzen nicht umsonst studiert!“ Viele Augenpaare blickten begeistert auf den kleinen Mann. Nur Merlot und einige wenige sahen betreten aus. Der junge Vampir knickte sogar sichtlich ein. Er hatte nämlich einen Hang zu geisteswissenschaftlichen Überlegungen und dachte weiter als der Professor der Renaissance: wenn es nämlich dieses Nichtige Reich gar nicht gab, dann gab es ihn wahrscheinlich genauso wenig – das zumindest verriet eine von allem Idealismus befreite Logik. Trotzdem tauchte das Dämmerlicht die Gesichter aller in trübe Schatten.

      Schließlich erklang wieder Elesters Stimme. „Pat, nimm mal den Stock!“ Als Elester begann, in die Luft zu hauchen, verstand der Junge. Er hielt dem Kapuzenmann einen nichtigen Stock vor den Mund, sofort entzündete er sich. Bald darauf brannte ein kleines, wenn auch nichtiges, Feuer. Elester starrte in die nichtigen – wir wissen es schon – Flammen und dachte nach.

      Merlot hielt es schließlich nicht mehr aus. „Aber…, wenn wir irgendwo sind, wo wir nirgendwo sind, sind wir selbst dann überhaupt irgendwie oder sind wir vielleicht nirgendwie?“ Die Reaktion der Gefährten war für Merlot erstaunlich. Selten hatten seine Worte dasselbe ausgelöst wie seine Bisse – panische Aufschreie. Am schlimmsten dran war Eulalia. Nach tagelangem Herumirren mit diesen Irren, frisch bespuckt von einem Unding, und jetzt auch noch der Gewissheit beraubt, überhaupt zu existieren, reifte in ihr im Nirgendwo die Erkenntnis, dass dies keine Vorhölle, sondern die Haupthölle sei. Ob es eine solche überhaupt gab, hatte sie sich nie gefragt. Sie kniete nieder und begann um Verzeihung ihrer Sünden zu bitten. Bel Raven näherte sich ihr vorsichtig und meinte leise: „Es wird alles wieder gut!“

      „Leute, wer oder was, wie und wieso, wodurch und weswegen, ob wir oder ob wir nicht existent sind, das tut jetzt alles nichts zu Sache! Auch wenn es uns gar nicht gibt, wäre es furchtbar langweilig, uns nicht vom Fleck zu bewegen. Also schlage ich vor, wir gehen einfach weiter!“, rief Penny Lo so laut sie konnte.

      „Gehen, aber in welche Richtung? Das ist hier die Frage!“, ereiferte sich Professor Draciterius aufgebracht. „Ob´ s edler im Gemüt... alle, die an unumstößliche Größen wie Bilderrahmen glauben, gehen mit mir. Wir gehen dorthin zurück, woher wir gekommen sind! Von dort werden wir unsere geistige Heimat zurückerobern – mithilfe genauer wissenschaftlicher Analyse der Wirklichkeit!“ Angesichts der Bedrohung völliger Identitätslosigkeit ging ein fanatischer Aufschrei durch die Gruppe.

      Elester erblasste. Die meisten seiner Kumpanen scharten sich um den Professor. Er stand auf und sah sich um. „Nun… Wenn es so sein soll, wer geht dann mit mir?!“

      Bel Raven kam mit Eulalia vom Tümpel zurück. Sie stellte sich mit der Willenlosen hinter Elester. Auch Pat Swift und Penny Lo gesellten sich zu ihm.

      „Konfrontiert mit dem Nichtsein ziehe ich die Aussicht auf ein fortschrittliches Nichtseins der Aussicht auf ein rückschrittliches Nichtsein vor, also komme ich mit euch! Ihr müsst mir nur eines versprechen!“, bemerkte Merlot.

      „Und das wäre?“, erwiderte Elester matt.

      „Tagsüber muss ich mir die Augen verbinden, da brauche ich unbedingt jemanden, der mich führt!“

      „Aberrrr dass isch doch klar, mmmein Junggge!“ Jim Hicksley torkelte herbei. „Wo DU bissch, da binnn auch ich! Highly!“

      „Fein, dann sind wir ja eine wirklich starke Truppe!“, brummte Elester, während ihm seine Kapuze vor die Augen rutschte.

      „Elester...“

      „Ja, Bel...“

      „Nun, ich kenne unsere Geschichte ja schon, und an dieser Stelle fragt Bel Raven Elester, ob er sehr verzweifelt wäre, wenn sie, natürlich nicht wegen des Glaubens an unumstößliche Größen, sondern vielmehr wegen narrativer Umstände, sich der Gruppe der siebenunddreißig anschließen würde.“

      „Und was sagt Elester da?“, fragte Elester.

      „Er sagt: ‚Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so oder so sehr verzweifelt bin!’“, erklärte Bel.

      „Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so und so sehr verzweifelt bin!“, wiederholte Elester. Bel schloss sich somit der größeren Gruppe an.

      Die Nacht war hereingebrochen. Das Feuer warf einen flackernden Lichtkreis. Vom Waldrand her bewegte sich eine Gestalt auf sie zu. Die hintere Reihe der Fünfundvierzig teilte sich, und der Dunkelheit entsprang ein in Reiterhose, Stiefel und kariertem Hemd daherstapfendes monokeltragendes Individuum.

      „Willkommen, Lord Waxmore, wir halten gerade eine Versammlung ab. Wollen Sie mit Professor Draciterius und den anderen zurück an den Ort, an dem unsere Reise begonnen hat? Obwohl sie diesen vermutlich nie finden werden. Aber wollen sie zurück, um der Hoffnung nachzuhängen, wieder in unser Buch zu gelangen, oder...“, fragte Elester lustlos.

      „Guten Abend Mylords! Unser Buch? Was verbindet mich denn mit diesem Buch? Nichts als die Erwähnung meines Namens – keine Abenteuer, keine Aufgaben, ja nicht einmal eine Nebenhandlung wurde mir zugeschrieben. Nie und niemals möchte ich dorthin zurück!“, unterbrach der Lord Elesters Ausführungen.

      „Ha, Niedergang des Adels! Sie werden sich noch ansehen, Mylord! Irren Sie nur blaublütig in diesem Nichtigen Reich herum! Im Namen der siegreichen Wissenschaft werde ich diesem unwürdigen Geschehen Widerstand leisten!“ Ohne weitere Verabschiedung, dafür mit wilden Schlachtrufen, stürmte Professor Draciterius Richtung Wald davon. Sechsunddreißig Individuen folgten ihm.

      Sechsunddreißig Individuen?

      „Nehmt mich mit!“, keuchte es aus dem Nirgendwo. Obwohl sich Penny Lo dreimal umdrehte, konnte sie nicht erkennen, wer gerufen hatte.

      „Ich sitze auf deiner linken Schulter!“

      Pat Swift grinste. Dann bemerkte er: „Das ist die Flohspinne Tarantilli! Sie ist so klein, dass sie kaum zu sehen ist, und sie wiegt auch nichts. Ich glaube, sie hat dich als Sänftenträger gewählt!“

      „Na von mir aus...“ Plötzlich spürte Penny Lo einen Windhauch neben sich. Draculetta, die Fledermaus, landete auf ihrer rechten Schulter und piepste: „Nicht auszuhalten, dieser Haufen! Vor allem der Professor! Hu hält ja viel aus…“

      „Wartet!“

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