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vielleicht um etwas zurücklassen zu können, ein Zeichen, für die, die ihn finden würden, damit sie sehen könnten, dass er hier war und gekämpft hatte. Ein Tag später starb die Frau, die neben Philippe gesessen hatte, eine ganze Weile hatte sie sich an ihn gelehnt, ihre alten runzligen Hände um Philippes gelegt und mit ihm gesungen, ihm gesagt, dass alles gut werden würde, wenn man nur ganz fest die Augen schließt und daran glaubt. Philippe hatte ihr nicht geglaubt, ihren Anforderungen aber Folge geleistet, damit wenigstens sie sich gut fühlen würde, damit sie weiter daran glauben konnte. Nach ein paar Stunden wollte Philippe dann aufstehen, um seine schmerzenden Gelenke zu strecken, er hatte an ihr gerüttelt und sie angeschrien, aber die Frau reagierte nicht mehr.

      Dorian weinte, er weinte, wie er es nie getan hatte, wenn er schlimme Dinge in den Nachrichten hörte, aber das war etwas anderes, es war plötzlich persönlich geworden, jetzt, wo er Philippe vor sich sitzen hatte, wo er nicht umschalten konnte und einfach einen anderen Sender sah, jetzt war es wahr und real geworden und es berührte seine Menschlichkeit, wie ihn noch nichts berührt hatte.

      Die Frau neben Philippe blieb nicht die Einzige. In der folgenden Nacht starben Menschen um Philippe herum, die eine Stunde zuvor noch gesund und ansprechbar gewesen waren, sie kippten plötzlich zur Seite oder schliefen ein, ohne je wieder aufzuwachen, und als Philippe dachte, jetzt, ja jetzt, war die Zeit gekommen, wo er auch gehen durfte, wo er die letzte Reise auch antreten durfte, als er glaubte der Durst würde nicht schlimmer, die Luft nicht stickiger und die Lage nicht aussichtsloser werden, öffneten sich die Türen des Containers und ein grelles Licht durchflutete den engen Raum. Einige hielten sich die Hände vor die Augen, es schien, als würde das Licht Schmerzen in ihnen verursachen. Ein wenig später blitzten rote und blaue Lichter durch den Container, fremde Menschen packten Philippe an Armen und Beinen, zogen ihn vom Boden und trugen ihn aus dem Container in die Freiheit. Ein Stechen in seinem Arm, Menschen, die in einer fremden Sprache auf ihn einredeten, die an ihm rüttelten und ihm Fragen stellten, die Philippe nicht zu beantworten wusste. Immer wieder versuchte er an Wasser zu kommen, aber keiner der Menschen um ihn herum schien ihn zu verstehen, einmal griff er nach einer Wasserflasche, die neben ihm auf den Boden gefallen war, aber als er sie gerade ansetzen wollte, riss ihm einer der weißen Gestalten die Flasche aus dem Mund, deutete auf einen Beutel über seiner Schulter und schüttelte immer wieder den Kopf. Aus lauter Verzweiflung, Todesangst und Unverständnis riss er mit aller Kraft, die er in sich finden konnte, dem weiß gekleideten Mann die Flasche aus der Hand, setzte sie an die Lippen und schüttete das kühle Nass nur so in sich hinein. Die Freude über die gewonnene Energie und die Rückgewinnung seiner Zunge war aber nur von kurzer Dauer, sein Magen krampfte unter der plötzlichen Wasserplage und Philippe übergab sich mehrere Male auf den rauen Asphalt, bevor er in eine Dunkelheit fiel, die so schwarz und leer war, wie kein Mensch der Welt es erleben konnte.

      Nachdem Philippe seine Ausführungen beendet hatte, lagen sich beide Männer in den Armen. Noch am selben Tag fuhr Dorian in die Wache und suchte die Akte über jenen unverheißungsvollen Tag heraus, an dem der Container geöffnet wurde. Er starrte auf die Bilder der dicht an dicht gestapelten Menschen, auf ihre toten Augen, in denen keine Hoffnung lag, auf die Enge und auf die Zahlen, die auf der letzten Seite standen. Auf die Namen derer, die ihre Flucht in die Freiheit mit dem Leben bezahlen mussten, und auf die Namen derer, die mit diesen schrecklichen Bildern in ihren Köpfen weiterleben mussten. Obwohl die Schleuser gefasst worden waren, obwohl er wusste, dass Philippe nun das Leben führen konnte, das er führen wollte, fühlte er sich schuldig dafür, wie schlecht diese Menschen behandelt worden waren. Manche wurden sogar zurückgeschickt, zurück in ein Land, das kein Essen mehr hat, keine Anbauflächen, das meilenweit von Wasser bedeckt war und das jedes Jahr weniger Platz bot für seine Bevölkerung. In ein Land, in dem große Teile radioaktiv verseucht waren, und in ein Land, das viel zu spät etwas gegen die drohenden Überflutungen getan hatte. Immer wieder versuchten die Vereinten Nationen Frankreich dazu zu bewegen ihre Wälle zu vergrößern, ihre Atomkraft abzubauen und sich bereit zu machen für einen steigenden Wasserpegel und immer wieder hatten sie verneint und alle Hilfe abgelehnt auf Kosten der Menschen, die sich auf ihre Politik verlassen hatten.

      Der Streifenwagen gleitet durch den dichten Verkehr, der zwischen den meterhohen Häuserwänden vorbeirollt. Die Luft wird immer stickiger und heißer, umso weiter die Sonne in den Himmel ragt, und die Autofahrer immer aggressiver. Sie hupen und drängeln, sie schreien hinter ihren Fenstern verborgen und schlagen genervt gegen Lenkräder und Armaturenbretter. Nur wenn der weiß- blaue Streifenwagen an ihnen vorbeikommt, machen sie Platz, halten mehr Abstand und verstummen mit aufgerissenen Mündern, glätten ihre geballten Fäuste. Philippe nervt das, dieses „Alibi-Gekusche“, wenn sie die Aufkleber und Aufbauten auf dem Wagen sehen, sie tun fast so, als würde Philippe Dorian auf der Stelle befehlen zu schießen, sobald sie an einem Wagen vorbeikommen. Es ist offensichtlich niemandem bewusst, dass sie wirklich nicht die Zeit haben, jeden Verkehrsrowdy in seine Schranken zu weisen, deswegen ist es Philippe auch eigentlich lieber einen Zivilwagen zu nehmen. Es ist ihm lieber in der Masse unterzugehen und die wahre Natur der Menschen zu beobachten. Kurz nachdem Dorian und er die Wache verlassen haben und Dorian das Funkgerät eingeschaltet hat, um der Leitstelle Position und Wagennummer durchzugeben, beginnt der Sturm aus dem Gerät zu wüten.

      Einen Einsatz nach dem anderen fahren die beiden an. Manchmal ist nur ein Gespräch, manchmal Körperkontakt und manchmal auch eine Waffe nötig, um die wie kopflose Hühner durcheinanderrennenden Menschen in geregelte Bahnen zu lenken. Um 01:00 p.m. legen sie dann, nach dem neunten Einsatz, eine Pause ein, regeln das Funkgerät nach unten und melden sich bei der Leitstelle ab. Mit den frischen Sandwiches einer nahegelegenen Fastfoodkette bewaffnet fahren sie den Wagen auf einen kleinen Parkplatz, verschließen ihn und laufen ein Stück über den Parkplatz, zwischen zwei Wolkenkratzern hindurch, zu der Promenade, die sich hinter den Häuserriesen auftut. Beide Männer nehmen sich die gelb angelaufenen Masken vom Gesicht, husten die staubige Luft aus ihren Lungen und atmen die kühle Luft ein, die vom Hudson über die Stadt, die niemals schläft, getragen wird. Philippe nimmt einen großen Biss von dem triefenden Sandwich und betrachtet die meterhohe Kaimauer. Stöhnend lässt er sich auf den Boden fallen und hängt die müden Beine über den Rand des Piers. Dorian tut es ihm gleich und gemeinsam beobachten sie die Wellen, die aufgebracht gegen die Mauern schlagen. Manchmal wird der Blick der Männer von einer schreienden Möwe vom Fluss zurück auf die lange Mauer gezogen, die sich über die gesamte Insellänge erstreckt. Die hohen Wände sehen brutal und unfreundlich aus, erfüllen aber schon seit Jahren ihren Zweck. Einen Zweck, für den die ganze Welt die damals noch New York City heißende Stadt verspottete und auslachte.

      In aller Welt wurde in den Nachrichten von dem Milliardenplan berichtet, den gesamten Bereich um die Küste herum zu erhöhen und so den Überflutungen zu entgehen. Frankreich voran prahlte mit eigens angestellten Wissenschaftlern, mit seiner Überlegenheit und der Dummheit der Amerikaner und auch die Deutschen zitierten in vielen Zeitungen, dass sie gewiss keine Mauer errichten werden, um einem Hirngespinst nachzugeben. Nur die italienischen Zeitungen schrieben manchmal einen weniger drastischen Bericht, vielleicht aus Angst, dass die Amerikaner recht haben könnten, dass die Polkappen wirklich schmelzen und die Flutwellen wirklich kommen würden. Vermutlich sorgten sie sich um Städte und Inseln wie Venedig, wollten das aber selber nicht eingestehen. Die Amerikaner hingegen blieben bei ihrem irrwitzigen Plan und begannen, viele Jahre bevor die schmelzenden Polkappen zur Gefahr wurden, Milliardensummen in hohe Kaimauern, Erhöhungen von Straßen und Häusern und in einen Wall, der an vielen Stellen errichtet wurde, zu stecken. Die Welt beobachtete dieses, aus ihrer Sicht, Geldverbrennen und lachte. Sie lachte und lachte, bis es irgendwann die New Yorker waren, die lachten, denn einige Jahre später begann sich der Wasserspiegel rasant zu heben und auch andere Länder wie Großbritannien, Griechenland, Kuba und Co. errichteten Wälle und Kaimauern, um ihr Land zu schützen. Für Länder wie die Niederlande kam jedoch jede Rettung zu spät und viele Niederländer mussten ins nahe Inland fliehen. Nur Frankreich blieb standhaft und verleugnete nach wie vor die immer schlechter werdenden Umstände. Sie verneinten die Klimaerwärmung und bezweifelten, dass der sich hebende Meeresspiegel an den schmelzenden Polkappen liegen könnte. In ihren Zeitungen wurde von der Lügenpresse anderer Länder berichtet und von dem übertriebenen Schüren von Angst ihrer Regierungen. Auch als die Vereinten Nationen mit Nachdruck rieten gefährdete Regionen zu evakuieren und Frankreich Hilfe anboten, blockten

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