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sich dem Griff seiner Mutter entrissen hat, stürmt dem Arzt entgegen und wirft ihm mit seiner ganzen fünfjährigen Kraft das Okapi entgegen, danach fingert er an der Tür herum, bis er den Griff zu fassen bekommt, hebt das Okapi vom Boden auf und stürmt in den grellen Flur hinaus. Der junge Mann will ihm noch hinterher, wird aber von Mona, die sich so weit gefasst hat, um zu sprechen, aufgehalten. „Lassen Sie ihn, er versteht das nicht, er ist nur sauer, weil er sieht, dass Sie uns traurig gemacht haben.“ Der junge Arzt schiebt die weit offen stehende Tür zu, lässt aber einen Spalt offen, falls Oskar beschließt wiederzukommen. Langsam beugt er sich zu der immer noch am Boden knienden Mona hinunter und reicht ihr wortlos seinen Arm. Mona zieht sich mit seiner Hilfe nach oben und sinkt neben Evelin auf das Sofa. Immer noch rollen dicke Tränen aus den verquollenen Augen. Der Arzt zieht unterdessen einen Stuhl heran und richtet das Wort an die beiden Frauen. „Er ist bereits mit schweren Verbrennungen eingeliefert worden, seine Atemwege waren stark verbrannt und er hatte eine ziemlich starke Rauchgasvergiftung, die ihm das Atmen schwer gemacht hat. Im Laufe der Operation mussten wir feststellen, das große Teile seines Brustkorbes zertrümmert waren, wir haben alles Menschenmögliche versucht, konnten aber nichts mehr für ihn tun. Um 02:45 Uhr erlag Ihr Mann dann seinen schweren Verletzungen. Er ist bereits bewusstlos eingeliefert worden, was heißt, dass er in seinen letzten Stunden nicht mehr leiden musste.“ Als der Mann seine Ausführungen beendet hat, hält er inne und lauscht respektvoll in den schluchzenden Raum hinein. Etwas verunsichert und hilflos beißt er sich auf seine Unterlippe und fixiert den Boden vor ihm. Auch für ihn ist das keine alltägliche Situation. Nach einigen Minuten erhebt er sich von seinem Stuhl, schiebt ihn zurück an seinen ursprünglichen Platz und legt einen kleinen schwarzen Gegenstand auf einen der Beistelltische neben dem Sofa. „Wenn Sie so weit sind, piepen Sie mich gerne an und wir können die nächsten Schritte besprechen, lassen Sie sich aber ruhig Zeit.“ Dann verlässt er leise und bedacht keinen unnötigen Lärm zu machen den Raum. Zurück bleiben nur die zwei Frauen, die sich, sobald er den Raum verlassen hat, in die Arme fallen und einander Trost geben.

      Irgendwann löst sich Mona aus der Umarmung, streicht ihrer Tochter über den lockigen Kopf, tippt ihr mit einem leichten Lächeln auf die schmal gewordenen Lippen, auf die Nase und öffnet den trockenen Mund, um die Stille zu brechen. „Evelin, du darfst traurig sein, du darfst auch wütend sein oder dich verraten fühlen, aber du darfst niemals vergessen, dass dieser Mann dich geliebt hat. Auch wenn er in letzter Zeit viel zu sehr mit der Arbeit beschäftigt war, er liebt dich trotzdem. Du denkst jetzt vielleicht, dass das ungerecht ist, dass es noch nicht Zeit war, aber auch, wenn du das Gefühl hast die Zeit ist stehen geblieben und du nicht weißt, wie du weitermachen sollst, denk einfach immer daran, dass die Uhr da oben auf dem Schrank“, sie deutete auf einen kleinen Wecker, der auf einem der Schränke des Raums steht, „diese Uhr ist, seit wir es erfahren haben, schon dreißig Minuten weiter gesprungen und das wird sie immer tun, egal was passiert. Die Zeit wird dich immer daran erinnern, dass es auch jetzt noch ein Morgen gibt.“ Sie erhebt sich aus der Umarmung des Sofas. Es scheint ihr schwerzufallen, als könnte sie ihre alt gewordenen Knochen nicht mehr so bewegen, wie sie es sonst getan hat, und sie fügt noch hinzu: „Ich werde jetzt zu Felix und Oliver gehen und es ihnen sagen, sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was passiert ist.“ Evelin, die immer noch in ihrer Trauer gefangen auf dem Sofa sitzt, will ihrer Mutter noch hinterherlaufen, aber irgendwas lähmt sie und macht es ihr unmöglich auch nur einen Finger zu krümmen. Sie will nicht allein in diesem schrecklichen Raum sitzen und diesem entsetzlichen Wecker lauschen, wie er die Zeit weiter drängt, er soll auf der Stelle stehen bleiben und die Zeit anhalten, so wie auch ihre eigene Zeit angehalten wird, er hat nicht das Recht zu entscheiden weiter zu ticken. So sitzt sie einfach nur da, starrt ins Leere und lauscht einem Wecker, der nicht ticken sollte.

      Das Auto seiner Tante ist schnell, sehr schnell, um genau zu sein, es fegt über die trockenen Straßen und legt sich geschmeidig in die engsten Kurven, in die Kaleo es zwingt. Die Reifen heften sich gut an die Straße und treiben es stetig voran, einige Male wird die Geschwindigkeit von Ampeln oder Fußgängerüberwegen unterbrochen, aber das spornt Kaleo nur noch mehr an, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Seit er vor drei Monaten achtzehn geworden ist, hat er nicht viele Möglichkeiten gehabt seine neu errungene Freiheit auch zu nutzen und so genießt er, trotz seiner besorgten Stimmung, das Fahr­erlebnis in vollen Zügen. Ab und zu kommt ihm ein schlechtes Gewissen, weil er seiner Tante versprochen hat vorsichtig zu fahren, aber dann redet er sich einfach ein, dass er nur versprochen hatte vorsichtig, aber nicht langsam zu sein. Er rast vorbei an den Wasserspeichern der Stadt, die auch dieses Jahr wieder zu wenig Wasser tragen, und jagt um die Ecke des alten Obstladens, der aufgrund der schlechten Ernte frühzeitig geschlossen hat. Als der Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses mit quietschenden Reifen zum Stehen kommt und Kaleo den gequälten Motor abschaltet, bleibt er noch einen Moment auf dem kalten Lederpolster sitzen und lauscht der Kühlanlage des Motors. Durch sein Gewissen getrieben, tippt er eine Nachricht an seine Tante in den ellipsenförmigen Gegenstand: Bin heil angekommen, mir und dem Auto geht es gut oder sollte ich lieber sagen dem Auto und mir, je nach dem, auf was du eben mehr Wert legst, schreibe dir, wenn ich etwas erfahren habe, ich hoffe du schläfst schon, es ist ja schon fast der nächste Morgen. Bevor er die Nachricht verschickt, lugt er noch kurz auf seine Armbanduhr, 03:51 Uhr, und steigt aus dem tiefliegenden Wagen auf den Krankenhausparkplatz. Ein leichter Wind weht über die Dächer der Autos und obwohl es weder der Wind ist noch die Luft, die wirklich kalt sind, fröstelt er. Irritiert über die Kälte, die in ihm aufsteigt, zieht er sich die Sweatshirtjacke über und macht sich auf den Weg zum Haupteingang. In der Eingangshalle angekommen bleibt er einen Augenblick stehen, etwas hilflos blickt er sich in der hohen Halle um, bevor seine Augen auf den Informationsschalter fallen. Zielgesteuert geht er auf den Glastresen zu und legt etwas verunsichert eine Hand auf das kühle Glas. „Guten Abend, oder Morgen, keine Ahnung wie man das hier nennt, vermutlich eher Morgen, aber na ja, ist ja auch egal.“ Ein verstohlenes Lächeln. „Ich möchte gerne zu Paul Barens oder Felix Mending.“ Die Frau hinterm Tresen, die erst jetzt ihren Kopf hebt, um Kaleo eines genaueren Blickes zu würdigen, schaut gelangweilt drein. Als sie ihre Begutachtung des Jungens abgeschlossen hat, richtet sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computerbildschirm zu. „Name?“ Kaleo runzelt die Stirn. „Oh, keine Ahnung was der Ihnen bringt, aber mein Name ist Kaleo McDonahue.“ Die Frau hinterm Tresen sieht verwundert auf, als sie Kaleos Namen hört und kräuselt die Lippen. Kaleo, der ihren verwirrten Gesichtsausdruck richtig deutet, schmunzelt über die Reaktion der so bieder aussehenden Frau. „Ich bin Amerikaner, in Hawaii geboren, deswegen der Name, soll ich Ihnen den buchstabieren?“ Ein knappes Nicken bestätigt Kaleos Vermutung. Nachdem alle Missverständnisse beseitigt sind, bedeutet ihm die Frau im Wartezimmer Platz zu nehmen, da er nicht zur Familie gehöre. Kaleo, der mit so einer Antwort natürlich gerechnet und nichts anderes erwartet hat, schlendert links am Tresen vorbei in den Wartebereich.

      Immer noch angespannt, lässt er sich auf einen der Stühle fallen und beginnt Lila eine Nachricht zu schreiben, in der er ihr mit knappen und vorsichtigen Worten mitteilt, dass er im Wartebereich Platz genommen hat und da ist, wenn er gebraucht würde. Danach richtet er seine Aufmerksamkeit nach vorne, um die Halle und ihre Menschen genauer im Auge zu haben, bis er den kleinen Jungen sieht, der unter einem der großen Tische sitzt. Verwundert springt er auf und durchquert die Halle. Tatsächlich, er hat sich nicht verguckt, unter dem großen Tisch, der wohl sonst für Schreibarbeiten genutzt wird, sitzt Oskar. Mit seinen kleinen Armen umklammert er seine Knie und wippt zu einer unhörbaren Musik. Neben ihm liegt ein Plüschokapi. Kaleo, der Evelins Bruder noch nie so verunsichert gesehen hat, kriecht, ohne ein Wort zu sagen, mit unter den Tisch. Eine Zeit lang sitzen die beiden da und lauschen einer Musik, die nicht da zu sein scheint. „Das Okapi ist der Wahnsinn“, spricht er den kleinen Jungen an, ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich denke, Sie sind der Besitzer dieses außergewöhnlichen, behuften Säugetiers, das weder Giraffe noch Zebra zu sein vermag.“ Der Junge hört auf zu wippen. „Dachte ich mir“, redet Kaleo unbeirrt weiter. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Liegen auf kalten Fliesen unter einem Tisch in einem Krankenhaus das richtige Habitat ist, aber Sie, Herr Oskar, haben, wie ich ja weiß, sehr viel mehr Ahnung von Okapis als mein unwissendes Ich.“ Der kleine Junge mag den Ausführungen Kaleos zwar nicht lauschen, wendet seine Aufmerksamkeit aber doch nach oben, um seinen ungewöhnlichen Gast genauer zu mustern. Dabei achtet der Fünfjährige akribisch darauf, nicht Kaleos Augen zu kreuzen. Stattdessen

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