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ist mir unterstellt, also denke ich schon, dass es genug ist.“ Mit einem hörbaren Schlucken und einem „natürlich Sir“ verschwindet die Frau wieder hinter dem Plastik. Dorian, der sich das Spektakel von weiter hinten angesehen hat, tritt jetzt auf Philippe zu und legt ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, warum ich mir die ganzen Nummernschilder notiere?“ Auf seine ironische Frage keine Antwort verlangend, spricht er weiter. „Weil ich nicht den Rang habe meinen Ärger an einem Officer auszulassen.“ Philippes Stirn legt sich in Falten. „War ich so gemein?“ Laut lachend reißt Dorian die Augen auf. „Bruder, dass du ihr nicht ins Gesicht gesagt hast, dass sie dumm ist, war auch schon alles.“ Etwas schuldbewusst durchquert Philippe den Vorhang, anstelle des erwarteten Officers findet er aber die zwei Frauen wieder, die Dorian und ihm am Morgen den letzten Zivilwagen vor der Nase weggeschnappt haben. Mit einem breiten Grinsen geht er auf die Damen zu. „Hallo Sabrina. Na, wie fährt es sich so in meinem Wagen?“ Beide blicken auf. „Lieutenant, Sie sind noch hier? Wir dachten, dass Sie sich für einen Selbstmord nicht zuständig fühlen.“ Ein Zähneknirschen. „Für einen Selbstmord nicht, aber für einen Mord schon. Das Gleiche könnte ich im Übrigen auch von Ihnen beiden sagen oder heißen Sie jetzt Selbstmordkommission?“ Ein gehässiges, aber ironisch gemeintes Lachen der beiden Frauen. „Ha. Ha. Ha. Uns wurde von einer überaus freundlichen, aber von Ihnen wohl doch genervten Dame berichtet, dass wir unsere“, sie formt mit Zeige- und Mittelfinger Gänsefüßchen in die Luft, „Ärsche sofort hierher bewegen sollen.“ Philippe lacht. Dorian schmunzelt und nickt, darauf bedacht von Philippe ungesehen zu bleiben, den Frauen zu. „Na gut ihr beiden, der Punkt geht an euch, wurdet ihr vom Officer schon aufgeklärt?“ Die beiden Frauen nicken. „Ihre Vermutung klingt gut, wir werden uns mit den zuständigen Gerichtsmedizinern und der Spurensicherung unterhalten, vielleicht finden wir weitere Spuren, die Ihre Theorie erhärten.“ Froh darüber, dass er sich nicht weiter rechtfertigen muss, lächelt er den beiden dankend zu. „Dann möchte ich Sie nicht weiter aufhalten.“ Mit einer einladenden Handbewegung gibt er den Weg zur Leiche frei und begibt sich zusammen mit Dorian zum Streifenwagen zurück.

      Um 08:33 p.m. rollt der Wagen nach drei weiteren Einsätzen in die Parklücke der Tiefgarage zurück. Die Schatten unter den Augen der beiden Männer sind tief. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen sie den Wagen und durchqueren, nebeneinanderher schweigend, die muffige Halle. Im Treppenhaus teilen sich ihre Wege, da Philippe seine letzte Kraft zusammennimmt, um das Treppenhaus schneller als eigentlich möglich zu durchqueren. Mit schnellen Schritten fliegt er durch die Tür, ein wenig später folgt Dorian. Beide Männer bleiben noch einen Augenblick im Gang stehen, um den Tag zu besprechen, da das Großraumbüro in der entgegengesetzten Richtung von Philippes Büro liegt. Ihre Ruhe bleibt leider nicht lange erhalten, denn ein dicker Schnurrbart tragender Mann fliegt mit schnellen Schritten auf sie zu. Dorian, der den Mann zuerst kommen sieht, zieht den Kopf ein. „Uh, da kommt der Captain, keine Lust zwischen euch zu geraten, ich mache mich auf die Socken, freue mich schon auf eine kühle Dusche und mach du auch nicht mehr so lange.“ Mit diesen Worten flieht Dorian den Flur herunter. Bevor der Captain Philippe wirklich erreicht hat, schreit er schon den Flur hinunter. „Lafin!“ Philippe zuckt zusammen und nimmt, durch den Ruf getrieben, Haltung an. „Sir.“ Wild prustend und mit dem dicken Zeigefinger wedelnd erreicht ihn der Captain. „Sie hatten eine Aufgabe!“ schreit er so laut, dass die Glaswände der Büros vibrieren. „Eine Aufgabe und Sie haben sie links liegen lassen. Ich habe Ihnen die Ordner nicht gegeben, weil Sie in Ihrem Büro besser aufgehoben sind, sondern damit Sie sie schnellst–möglich bearbeiten. Als ich heute Morgen aber in Ihr Büro ging, um nachzusehen, wie Sie vorankommen, musste ich feststellen, dass Sie gar nicht da sind!“ Zum ersten Mal an diesem langen Tag ist es Philippe, der ein kleinlautes „Ja, Sir“ verklingen lässt. „Ich rate Ihnen die Ordner sofort zu bearbeiten oder sie brauchen morgen gar nicht mehr wiederkommen Lafin!“ Das Schreien hat ein Ende. Philippe kämpft gegen das Gefühl an sich die schmerzenden Ohren zu reiben. In ihm wächst der Ärger über das Gesagte. Er verlässt seine angespannte Haltung und beugt sich zu dem dicken, im Gesicht hochroten, Mann hinüber. „Sir, ich möchte ja nicht ausfallend oder respektlos werden, aber Sie haben mich heute Morgen um vier Uhr nachts, an meinem freien Tag, aus dem Bett geklingelt und mir etwas von einem Sturm erzählt, der aufgehalten werden muss. Sie haben mich angerufen. Mich. Obwohl es genug andere Lieutenants gibt, die heute nicht frei hatten, haben Sie sich für mich entschieden. Ich bin hierhergefahren, habe mich nicht beschwert und angefangen den Sturm zu zähmen, der Ihnen, verständlicherweise, so viel Angst gemacht hat. Jetzt werde ich, nachdem sich der Sturm nun gelegt hat, in mein Büro gehen und die zwei Ordner durcharbeiten, wenn Ihnen an meiner Reihenfolge etwas nicht passt, dann tut es mir sehr leid, aber nach vierzehn Stunden Arbeit könnte mein Gehirn ein wenig hinken.“ Mit diesen Worten dreht Philippe sich von seinem Captain ab und stampft an ihm vorbei in Richtung seines Büros.

      Die Ordner sind schwer und riechen nach frisch kopiertem Papier. Das Papier ist scharfkantig und unbenutzt und erinnert Philippe an das hohe Grass auf einem Feld, die ihm als Kind so oft die Haut aufgeschnitten hatte. Eine Weile lässt er die Ordner geschlossen vor sich liegen, tastet sie aber nicht an, manchmal ist er versucht einfach aufzustehen und die Unwissenheit weiter zu genießen, dann schlägt er aber doch den harten und unnachgiebigen Kartondeckel zur Seite. Die Titelseite zeigt in fettgedruckten Buchstaben die vier Ziffern, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf gegeistert sind. 4253. Langsam fährt er mit seinen Fingerkuppen über das glatte Papier. Seite für Seite gleitet Philippe durch die Finger, der Text ist schwer zu verstehen, bürokratisches Gerede. Manchmal muss Philippe die Zeile wiederholen, ganze Seiten nochmal lesen, um zu begreifen, was da geschrieben steht. Er schüttelt immer wieder den Kopf, will nicht glauben, was bald verboten sein wird. Seine Augen brennen stark, als er den ersten Ordner zuschlägt. Entrüstet starrt er in den Raum hinein, seine Welt scheint Kopf zu stehen, nichts mehr so zu sein, wie es mal war. Obwohl in seinem Kopf ein gigantischer Knoten seine Gedanken so fest verknäult, dass es fast weh tut, greifen seine Hände, wie in einem Bann gefangen, nach dem dünneren der beiden Ordner, der Pappdeckel schwingt zur Seite und das Deckblatt erscheint. Statt der Fortführung der Absätze, die Philippe eigentlich erwartet hatte, prangt auf dem Titelblatt nur ein Wort: „The Disposal“ – „Die Verfügung“. Verwundert blättert er zur Seite, liest die Einführung, nickt, schüttelt den Kopf, schaudert, schlägt den Ordner wieder zu. „Das können die nicht machen“, spricht er in den Raum hinein. „Was stellen die sich vor, das wird doch Konsequenzen geben. Das kann nicht …“ Er reibt sich mit der Handfläche über das Gesicht und schüttelt erneut den Kopf. Er erhebt sich von seinem Schreibtischstuhl, kramt sein Zeug zusammen und lugt auf die Uhr. 02:12 a.m. „Merde“, es war schon so spät oder früh, er weiß es nicht. Schnell entlädt er die Waffe und lässt das Holster wieder hinter den dicken Safewänden verschwinden. Eine Hand greift nach der Tasche, die andere zu den Ordnern, ein kontrollierender Blick über das Büro, dann zieht er die Tür zu und tritt auf den Gang.

      Er schlägt den Weg zum Haupteingang ein, durchquert das kleine Foyer, grüßt den Wachmann, hechtet durch die Schwingtüren des Haupteingangs und lässt sich auf die Steinstufen fallen. Eine Hand liegt auf den Ordnern, eine Hand auf seinem Knie. Der Himmel ist klar, der Smog hat sich in dieser Nacht verzogen. Was für ein beschissener Tag das gewesen war, er hätte so gut werden können, wäre er einfach im Bett liegen geblieben. Das Problem ist, vor der Wahrheit hätte er fliehen können, er hätte sich die Decke über den Kopf ziehen, sein Handy auf stumm schalten und einfach verdrängen können, was heute passiert ist, aber vor der Zukunft kann man nicht wegrennen, das wird ihm von Minute zu Minute klarer. Die Zukunft würde kommen, ganz sicher, mit jedem Ticken der Uhr rückt sie näher, für manche tickt sie in diesen Tagen schnell, für manche langsam, aber sie würde kommen. Was ihm diese Zukunft bringen würde, er weiß es nicht, aber ganz sicher hatte sie sich nach dem heutigen Tag geändert und sie würde sich noch weiter ändern, jeden zweiten Monat würde sie sich ändern, immer wenn ein neuer Absatz bekannt gegeben würde und die Menschen würden es mit ihr tun, diesmal würden sie sich ändern, sie hatte nun keine Wahl mehr.

       Sieben Jahre später

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