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schaut ihm die Fahrerin geradewegs in die Augen. Für einen flüchtigen Moment treffen sich ihre Blicke, für diesen Bruchteil eines Augenblicks betrachtet er sie. Die kurzen blonden Haare, die sie in einem dünnen Zopf aus dem Gesicht geflochten hat, die eine Strähne, die ihr immer wieder ins Gesicht rutscht und die sie dann, mit einer hastigen Handbewegung, wieder hinter ihr Ohr sperrt, und die frisch aussehende Prellung über ihrer Schläfe, die selbst das Make-up nicht verbergen will. Auch ihre Fenster sind geschlossen, trotzdem kann Philippe den älteren Song hören, der laut aus dem Innenraum schallt: „Brighter than the Sun“ singt sie dabei lautstark mit und als ihr und Philippes Blick sich treffen, grinst sie beschämt und sieht zu Boden. Lachend fliegen ihre Augen zurück auf den Mann im Jeep und mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie auf das dritte Auto, das sich vor Philippes Wagen schiebt. Philippe, der ihrem Finger mit den Augen gefolgt ist, zuckt erneut mit den Schultern und lacht ihr entgegen. Sie lächelt mitleidig zurück und schießt sich mit einer Fingerpistole eine unsichtbare Kugel in den Kopf. Mit heraushängender Zunge simuliert sie dabei den Tod durch ihren Finger. Ein lautes Lachen schallt durch den Jeep, die Maske über Mund und Nase verrutscht dabei, so dass auch die Frau im Fiat Philippes Lachen sehen kann. Kopfschüttelnd wirft sie ihm noch ein Augenzwinkern zu, bevor sie die freie Lücke vor dem Jeep mit ihrem Fiat füllt.

      Um 5:56 a.m. stellt er den Jeep endlich in der dunklen Tiefgarage ab. Erschöpft zieht er sich die Maske vom Gesicht und hustet einige Male den Feinstaub aus, den der Filter nicht auffangen konnte. Schnell beugt er sich zum Beifahrersitz und kurbelt das Fenster nach oben. Nachdem er auch das Fahrerfenster geschlossen und sich vergewissert hat, dass er auch wirklich den Autoschlüssel aus dem Wagen in seine Tasche gesteckt hat, wirft er die Autotür zu. Während er auf seinem Handy die vielen E-Mails beantwortet, für die er am Morgen keine Zeit gefunden hat, läuft er durch das Grau der muffigen, nach Abgasen riechenden, aber immerhin kühlen Tiefgarage. Bevor er die Tiefgaragentür mit dem Fuß aufschiebt, wirft er noch einmal einen flüchtigen Blick auf die für diese Uhrzeit erstaunlich volle Tiefgarage und schlüpft dann, die dunklen Augen wieder auf sein Handy gerichtet, durch sie hindurch. Die steile Treppe durch das enge Treppenhaus spurtet er nach oben, um den schmalen, fensterlosen, engen Wänden möglichst schnell zu entkommen. Am Treppenabsatz angekommen, fliegt er hastig durch die Tür zu den Büros hindurch und kann gerade noch bremsen, bevor er seinem Chef in vollem Lauf in die Arme stürzt. „Lafin! Dass ich Sie heute nochmal hier antreffen darf“, grob packt ihn der Captain an den Schultern und schiebt ihn zurück auf den Abstand, den man zu seinem Chef einzuhalten hat, „haben Sie mal auf die Uhr geschaut?“ Ein Ziffernblatt wird ihm ins Gesicht gehalten. Philippe blinzelt, um seine Augen auf die ungewohnte Nähe, in der das Ziffernblatt schwebt, einzustellen. Es gelingt ihm nicht. „Oh! Und Lafin, kommen Sie mir jetzt nicht mit losen Ausreden wie dem Verkehr, das will ich mir jetzt gar nicht anhören, das Einzige, was ich nämlich sehe, ist Ihre Unfähigkeit es mir recht zu machen.“ Philippe schnappt einige Mal verlegen nach Luft, bevor er sich entschließt seinem Chef nur mit einem knappen Nicken Verständnis vorzugaukeln. „Sehr gut Lafin, immerhin wissen Sie, wann es sich zu schweigen lohnt! Hier sind Ihre Aufgabenbereiche.“ Zwei dicke Ordner fallen in Philippes Arme. „Sir, ich bitte um Entschuldigung für meine Unwissenheit, aber was ist denn überhaupt passiert?“ Der Captain hält mitten in seiner wilden Gestikulation inne, streicht sich über den vollen grauen Schnäuzer, räuspert sich, schiebt sich näher an Philippe heran und spricht etwas leiser, weniger gestikulierend, weiter. „Haben Sie den § 4253 noch im Kopf.“ Philippe wirkt verwirrt. „Sie meinen den unausführbaren Umweltparagrafen?“ Der Captain scheint erleichtert, nicht auf vollkommene Ahnungslosigkeit zu treffen. „Ja genau den. Leider hat sich herausgestellt, dass der gar nicht mal so undurchführbar ist, wie man sagt.“ Der volle Schnäuzer rückt noch ein wenig näher an sein Ohr und Philippe kann das Rasierwasser riechen, das sein Chef schon seit er ihn kennt benutzt. „Sie haben diesen Paragrafen nun verabschiedet. Zunächst wird nur der erste Absatz bekannt gemacht, aber glauben Sie mir Lafin, da kommt noch sehr viel mehr, da kommen Dinge, die wir nicht unter Kontrolle haben werden. In einer Kleinstadt in Deutschland hat es gestern Abend deswegen eine Massenschlägerei in der Spätschicht eines Autokonzerns gegeben. Lafin, es gab achtzehn Verletzte und sechs Tote, wovon vier verbrannt sind. Ich meine es ernst, ich brauche Sie hier. Was der erste Artikel ist und welche folgen werden, steht alles in den Unterlagen, aber bitte,“ sein Chef sieht sich verstohlen um, bevor er weiterspricht, „bitte behalten Sie die anderen Artikel erstmal für sich, diese Informationen sind nicht für alle Ohren hier bestimmt. Wenn die Öffentlichkeit zu früh davon erfährt, bricht eine Massenhysterie los, die keiner von uns aufzuhalten vermag.“ Mit diesen Worten wendet sich der Captain von Philippe ab und hastet in die Richtung, aus der er gekommen ist. Bevor er hinter seiner Bürotür verschwindet, ruft er dem immer noch verloren im Flur stehenden Philippe noch zu: „Ah und Lafin, vergessen Sie Ihre Waffe nicht, die werden Sie heute sicher brauchen!“ Dann zieht er die Milchglastür hinter sich ins Schloss und lässt Philippe mit den vielen Informationen zurück, die sich hinter den Deckeln der schweren Ordner verbergen.

      Als Philippe die Ordner auf seinen schmalen Schreibtisch fallen lässt, kommt es ihm vor, als würde mit dem dumpfen Schlag, den die schwarzen Deckel beim Aufprall auf die glatte Oberfläche erzeugen, auch in seinem Kopf ein dumpfer Schlag gegen seine Schläfen drücken und so unheilvolle Informationen ankündigen, die besser hinter den dicken Pappdeckeln versteckt geblieben wären. Beim Herabbeugen, um die Papiere aufzuheben, die durch den Aufprall vom Tisch geweht worden sind und zu deren Abarbeitung er vor dem eigentlich geplanten freien Tag nicht mehr gekommen ist, tritt einer seiner Kollegen in das winzige Büro. Geübt schiebt er sich an den Aktenschränken vorbei, auf denen immer noch unsortierte Papiere und Beweisfotos darauf warten zu ihren passenden Akten sortiert zu werden, und bringt hie und da einen zu hoch gewordenen Turm zum Schwanken. Mit einem schelmischen Lächeln sieht er auf Philippe herab, der nun gerade auf allen Vieren krabbelnd dabei ist unter seinem Schreibtisch zu verschwinden, um auch noch das letzte Blatt an seine Stelle zurückzulegen. „Na, suchst du auf dem Boden nach deinem geraubten Urlaubstag?“ Erschrocken springt Philippe auf, funkelt seinen Kollegen wütend entgegen und schlägt das wiedergefundene Blatt mit solcher Wucht zurück auf den Schreibtisch, dass die zuvor zusammengeklauten Papiere wieder vom Tisch segeln, gerade so, als wollten sie vor der Brutalität fliehen, die sich so rasant über das winzige Büro ausgebreitet hat. Sein Kollege, der nicht mit dieser Reaktion gerechnet hat, zuckt erschrocken zusammen, schlägt die Fersen aneinander und verschränkt demütig die Arme hinter dem Rücken. Für einen Moment ist es ruhig, die beiden Männer schweigen, ohne einander in die Augen zu sehen. Dann nach schier endlosen unangenehmen Sekunden, die mit der Langsamkeit vergehen, die Philippe sich am Morgen gewünscht hätte, räuspert er sich, um seiner Stimme die Härte zu nehmen, und erhebt das Wort. „Dorian, ich habe heute echt eine ganze Menge Arbeit vor mir.“ Dabei stellt er die Fingerspitzen auf einen der Ordnerdeckel, so, als vermeide er einen zu engen Kontakt zu den Geheimnissen, die sich darunter verbergen. „Die beiden Ordner muss ich unbedingt und schnellstmöglich durcharbeiten, bevor ich heute irgendetwas anderes machen kann. Sie kommen vom Captain.“ Der rothaarige Mann, der eingeschüchtert im Raum steht, redet leise und sehr viel distanzierter und respektvoller als zuvor. „Wenn er dich extra reinholt, um Akten zu bearbeiten, scheint es ihm aber wirklich wichtig zu sein. Ich verstehe das auch, Philippe, aber du bist immer noch für uns zuständig und wir würden alle gerne wissen, was da draußen los ist und warum wir heute in aller Herrgottsfrühe im Department sein sollten.“ Auf den fragenden Ausdruck, den Philippe anscheinend als ungewollte Antwort entgegnet, hält ihm der Mann sein Funkgerät hin und dreht es am Regler lauter, damit Philippe den Sturm in voller Stärke hören kann, der sich in seinem Büro sofort ausbreitet und wütend, ohne eines der Blätter aufzuwirbeln, verbreitet.

      Die Unglücksnachrichten reihen sich dicht an dicht aneinander, die Zentrale kommt kaum hinterher die vielen Streifenwagen an die Einsatzorte zu schicken und viele der Funkrufe, die von den Kollegen auf Streife zu hören sind, die Verstärkung bei Raubüberfällen, Bränden und Plünderungen brauchen, gehen in den vielen neuen Meldungen und Einsatzorten zumeist einfach unter. Philippes Augen sind zusammen mit denen seines Kollegen auf das Funkgerät gerichtet, wieder schweigen beide Männer, diesmal aus Entsetzen, und starren, von Meldung zu Meldung, von Funkspruch zu Funkspruch, besorgter auf das Funkgerät. Erst als Philippe es nicht mehr ertragen kann, schnappt er sich das Gerät, dreht es mit bebenden Fingern aus und beugt sich, ohne dabei

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