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an seinem linken Handgelenk. Das flache Display leuchtet zur Bestätigung einmal kurz auf und nachdem es sich der Raumhelligkeit angepasst hat, springt Philippe der Ziffernblock entgegen: 4:30 a.m. Sich das Frühstück aus dem Kopf schlagend, schiebt er die Kühlschranktür mit dem Knie zu und greift stattdessen zu der Hundefutterdose, die neben der Kaffeemaschine steht. Er soll nicht als Einziger ohne eine ordentliche Mahlzeit enden. Hastig füllt er frisches Wasser in den einen und das Trockenfutter in den anderen Napf und hechtet zur Eingangstür. Schnell streift er die Socken aus der Hosentasche über und greift gestresst hinter die Tür, die seine wenigen Schuhe verbirgt. Zum Vorschein kommen die schweren schwarzen Stiefel, die zur Uniform noch fehlen. Kurz hält er inne und beäugt sie sorgfältig auf Dreck und Risse, dann schnürt er sie aufmerksam um seine Füße. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr: 4:35 a.m. Wenn er es noch durch den dichten Verkehr pünktlich zur Arbeit schaffen will, muss er jetzt los. Seine rechte Hand, die er angespannt und gestresst durch den Zeitdruck zur Faust geformt nach unten hält, wird auf einmal kalt und nass. Erschrocken zieht er sie ruckartig nach oben und stößt dabei die spitze Hundenase beiseite, die zuvor sanft gegen die Hand gedrückt wurde. Die Windhunddame fiepst empört und springt verwundert zur Seite. „Oh Rina, das wollte ich nicht!“ Mit schlechtem Gewissen kniet Philippe sich auf den alten Dielenboden zu der Hündin herunter, langsam hält er dem immer noch erschrockenen Tier seine Hand hin und säuselt beschwichtigend. Dann schlingt er seine Arme um ihren dünnen Körper und klopft ihr im Aufstehen liebevoll auf die Seite, als Ausgleich leckt sie ihm den Handrücken und verschwindet anschließend wieder im Dämmerlicht des Lofts. Immer noch von schlechtem Gewissen geplagt, schnappt Philippe sich Auto- und Haustürschlüssel und schiebt die wuchtige Industrietür auf. Zur Begrüßung schlägt ihm die feuchte, warme Luft des Treppenhauses entgegen, die ihm die Entscheidung gegen den dicken Mantel schnell abnimmt.

      Als er endlich, leicht außer Atem, auf dem Gehweg vor der großen Halle steht und sich nach seinem Auto umschaut, lässt ihn das Gefühl nicht los, heute nicht pünktlich im Department zu sein. Genervt von dem Gedanken findet er den alten Jeep gegenüber einem Baum, der trotz Sommer keine Blätter trägt und dessen kahle Äste abgebrochen auf dem Dach des Jeeps liegen und den Bürgersteig säumen. Beim Überqueren der Straße fällt seine Aufmerksamkeit auf eine alte Frau, die einen Einkaufswagen befüllt mit Decken, Dosen, einem kleinen Kofferradio und allerlei anderem Gerümpel vor sich herschiebt. Ihre Kleider sehen abgenutzt, aber gepflegt aus, die Löcher der Hose sind hie und da mit Stoffstücken überdeckt und an manchen Stellen von Fäden geflickt worden. Das alte, über die Zeit grau gewordene Hemd ist sorgfältig in die Hose gesteckt und die vielen Flecken mit Blumen und Herzen übermalt. Die Schuhe sind abgenutzt und rissig, trotzdem sorgfältig abgebürstet. Ihre langen, grauen Haare hat sie mit einem alten Bleistift aus dem Gesicht gesteckt und um ihren Hals trägt sie eine Kette aus alten Holzperlen, die als Highlight einen alten Bierdeckel als Brosche zeigt. Man sieht ihr an, dass sie viele Nächte an schlechten Orten verbracht hat und an den tiefen Falten unter Augen und Mund sieht man die harten Zeiten, die sie durchleben musste. Dennoch unterscheidet sie sich, in ihrer gepflegten Art, von den anderen Obdachlosen, die um die Sommerzeit gerne in dem kleinen Park gegenüber Philippes Wohnung unter einem großen Baum schlafen.

      Philippe unterbricht seine schnellen Schritte und lenkt sie in Richtung der alten Dame mit ihrem Einkaufswagen. Verlegen grinsend hält er ihr den Haustürschlüssel mit dem Messinganhänger hin. Die alte Frau schlägt ihm kopfschüttelnd gegen die Schulter und schiebt den quietschenden Wagen weiter über die Straße. Philippe hechtet ihr mit schnellen Schritten hinterher und hilft den schweren Wagen auf der anderen Seite über den Bordstein zu heben. „Irma, bitte, ich brauche dich.“ Wieder versucht er ein verlegenes Grinsen. „Weißt du was, Philippe?“, ohne stehen zu bleiben, geht sie weiter, „ich glaube, du musst dein Leben mal selbst in den Griff bekommen, außerdem, hast du mal auf die Uhr gesehen?“ Erschrocken fliegen Philippes Augen auf sein Handgelenk: 4:42 a.m. „Ja, wo du das gerade ansprichst, ich habe kaum Zeit und bin eigentlich schon viel zu spät dran.“ Die alte Frau hebt ihren Zeigefinger und legt ihn über Philippes Lippen, dann fährt sie über die Buchstaben, die auf der rechten Ärmelseite eingraviert sind und ihn als Polizisten auszeichnen. „Philippe, du bist ein guter Mensch, aber du bist wirklich zu jung, um immer so viel Stress zu haben. Ein Mann sollte Zeit für seinen Hund haben und auch für andere Dinge, die wichtiger als Hunde sind.“ Besorgt streift sie ihm über die Wange und nimmt vorsichtig den Schlüssel aus Philippes Hand. „Außerdem sollte ich mich nicht so oft mit der Polizei sehen lassen.“ Sie lacht, sieht sich verstohlen um und beugt sich über den Wagen näher zu ihm heran. „Nachher denkt noch jemand ich sei ein schlimmer Finger.“ Mit diesen Worten wendet sie sich von ihm ab und schiebt ihren Wagen weiter den Gehweg nach oben. „Danke Irma, du weißt, wie dankbar ich dir dafür bin und Rina hat auch schon ihr Futter bekommen“, ruft er ihr nach, bevor Irma noch einmal ihre Hand hebt und ohne sich umzudrehen hinter einer Häuserecke verschwindet.

      Der Verkehr ist wie immer unausweichlich. Kilometerweit schlängelt sich Auto für Auto durch die vollgestopften Straßen. Vor Philippes Augen fallen die Minuten wie in einer Klappzahlenuhr schneller und schneller und er kann nichts dagegen tun, um sie aufzuhalten. In Gedanken fährt seine Hand mehrmals zum Handschuhfach, in dem das mobile Blaulicht auf seinen nächsten Einsatz wartet, aber die Vernunft hält ihn immer wieder davon ab. – Nein Philippe, das ist kein Notfall, oder doch? – Immer wieder richten sich seine Augen auf die Armbanduhr. 4:50 a.m. 4:52 a.m. 4:53 a.m. 4:59 a.m. Ständig dieser nervige Verkehr, der rund um die Uhr, den ganzen Tag, die ganze Nacht, lärmend durch die engen Straßen zwischen den Häuserschluchten führt. Die Fenster der Autos sind alle geschlossen, um den dicken Abgaswolken zu entgehen. Schleppend rollen sie Reifen für Reifen, Stoßstange an Stoßstange weiter. Egal wie lange die Wartezeit ist, egal wie lange eine Rotphase dauert, die Motoren dröhnen weiter und die vielen Menschen, die alleine und gelangweilt hinter den Lenkrädern eingeklemmt sitzen, genießen mit ausdruckslosen Gesichtern die Klimaanlagen, die sie die Hitze der Luft vergessen lassen. Die wenigen, die ihren Motor abstellen, die es ohne Klimaanlage und ohne gefilterte Luft wagen einzuatmen, die mit schweißnasser Stirn abwägen doch einmal das Fenster herunterzufahren, weil sie für einen kurzen Moment vergessen, dass durch heruntergefahrene Fenster schon lange keine kühle, frische Luft mehr hereindringt, sondern nur dicke Wolken von monatealtem Smog und Abgasen. Diejenigen, die das wagen, werden von lauten Hupkonzerten begleitet, weil sie es versäumt haben ihr Auto rechtzeitig zu starten, weil sie versäumt haben den Zündschlüssel rechtzeitig zu drehen und nicht schon vor der Gelbphase nervös loszurollen.

      Auch Philippe gehört zu den Verkehrsteilnehmern, die ihren Wagen abstellen, sobald das Auto vor ihm mit blinkenden Bremslichtern zum Halten kommt. Er gehört zu denen, an denen man sich vorbeidrängelt, um sich vor sie zu setzen, sobald der Sicherheitsabstand zu groß wird, sobald die Lücke nur groß genug für das eigene Auto ist. Philippe hasst das Autofahren, er verflucht jede einzelne Sekunde davon, er hasst es, sich eine Maske aufziehen zu müssen, die die Luft filtert, bevor sie in seine Lunge dringt, weil er es nicht aushalten kann, in dem engen Jeep zu sitzen, ohne jedes einzelne Fenster aufzukurbeln. Er hält die Enge nicht aus, diesen entsetzlichen geschlossenen Raum, in den er sich fünf bis sechs Tage die Woche begeben muss, um zur Arbeit zu fahren. Nur wenn er die zierliche Hündin mal zum Arzt fahren muss, hält er die Fenster geschlossen, damit sie nicht den Abgasen ausgesetzt ist, nur dann kann er es, nur wenn er es wirklich muss, hält er es in dem engen Jeep mit geschlossenen Fenstern aus. Der alte Jeep besitzt zwar eine Klimaanlage, jedoch schaltet Philippe sie nie an, er versteht nicht, warum die Menschen sich zu teure Klimaanlagen in zu teure Autos bauen lassen, nur um sich für wenige Stunden ihres Tages falsche Temperaturen vorgaukeln zu lassen. Der Schock, den der Körper hat, jedes Mal, wenn er das klimatisierte Auto verlässt, war es Philippe wirklich nicht wert.

      Wieder lugt er auf die Uhr: 5:10 a.m., in zwei Minuten muss er bei der Arbeit sein, wenn er es seinem Captain recht machen möchte. Seine Augen fliegen über die verstopften Straßenblöcke, die er noch abfahren muss, vor sechs Uhr würde er nie auf dem Department sein. Genervt schlägt er seinen Kopf ein paar Mal gegen das Lenkrad und verharrt so einige Sekunden, bevor er erneut zum Handschuhfach greift, dann aber doch den Kopf schüttelt und die Aufmerksamkeit zurück auf die Straße richtet. Vor ihn schiebt sich gerade ein Auto in den zu groß gewordenen Sicherheitsabstand, schulterzuckend wischt er sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn, zupft die

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