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sich den Weg in die Freiheit erkämpfen wollen. Doch Lilas Blick ist so eindringlich, so besorgt und aufmunternd, dass sie ihre Tränen nicht mehr länger halten kann. Dick laufen sie ihr übers Gesicht und sammeln sich unterm Kinn zu einem großen Tropfen, der erst wild schwankt und dann hinunterfällt. „Ich will im Moment nicht darüber reden, aber das hat nichts mit dir zu tun, wirklich nicht.“ Evelin wischt sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. Auf Lilas Antlitz zeichnet sich ein Lächeln ab, langsam zieht sie ein kleines stark in Mitleidenschaft gezogenes Papier aus der Tasche ihrer lilafarbenen Jeans und hält es Evelin vor die verquollenen Augen. „Es geht um das hier, stimmt’s?“ Evelin hört auf zu weinen und zieht Lila das Papier aus der Hand. Traurig hält sie das aufgeweichte Kinoticket in den Händen, das ihre Freundin aus dem Treteimer rettete. Lila redet weiter. „Du wolltest da mit Kaleo hingehen, oder?“ Evelin nickt schniefend. Lila hebt eines der Kaninchen aus seinem Käfig und setzt es Evelin auf den Schoß. „Und, warum bist du nicht hin­gegangen? Hat Kaleo etwas falsch gemacht? Habt ihr euch gestritten?“ Evelin krault den weißen Nager hinter den langen Ohren. „Es geht gar nicht um Kaleo. Es ist nur ...“ Evelin verstummt und wird wieder nachdenklich. Lila kniet sich neben sie. „Was ist nur?“ Evelin atmet tief ein. „Der Film ist es. Papa hat mir immer gesagt, dass wir da zusammen hingehen würden. Er hat aber nie Zeit, nicht mal mehr am Wochenende. Also hat Kaleo mich gefragt, ob wir hingehen. Ich habe ja gesagt, aber nur weil ich gehofft habe, dass es meinen Vater stören würde. Es war ihm aber egal, er meinte, er hätte zu viel mit einem seiner Projekte zu tun. Gestern lief der Film das letzte Mal, aber irgendwie konnte ich nicht gehen. Jetzt fühle ich mich furchtbar, weil ich Kaleo versetzt habe, der jetzt bestimmt denkt, dass er etwas falsch gemacht hat.“ Lila bläst die Wangen auf. „Und warum sagst du Kaleo nicht einfach, warum du nicht gehen konntest? Er würde es sicher verstehen.“ Evelin schüttelt müde den Kopf. „Seine Eltern sind so weit weg und mein Vater ist hier. Er würde es nicht verstehen.“ Lila legt ihrer Freundin den Kopf aufs Knie und zeichnet Kreise ins Fell des Kaninchens. „Ich glaube, dass Kaleo alles versteht, wenn es um dich geht. Ihr sprecht dieselbe Sprache, ohne den Mund zu öffnen.“

      Zwei Stunden später stehen Evelin und Lila vor dem Haupteingang der Schule. Erschöpft betrachten sie den leeren Schulparkplatz. Kein Bus, kein Auto, kein Lehrer oder Schüler weit und breit. Nur die trockene Hitze, die Umrisse ihrer Schatten und die sehr lange, sehr gerade Straße, die sich zwischen den Feldern wie ein Pfeil entlangzieht. Leichter Dunst liegt in der Luft, die Überbleibsel von Smog, dem feinen Staub der Felder und Insekten, die zu Tausenden durch die Luft surren, zirpen und brummen.

      Der Weg nach Hause ist lang, da das kleine Dorf, in dem Evelin und Lila schon seit ihrer Geburt leben, keine eigene Gesamtschule, sondern nur eine kleine Grundschule mit integriertem Kindergarten hat, müssen sie in der vierzehn Kilometer entfernten Stadt zur Schule gehen. Der heutige Tag ist heiß und trotz der späten Uhrzeit brennt die Sonne unbarmherzig auf die beiden herunter und lässt den Sommer wie Flammenwerfer über ihre Köpfe tanzen. Evelin läuft der Schweiß über die Stirn, ihr Gesicht ist starr nach unten gerichtet, um sich vor dem grellen Licht der Sonne zu schützen, nur ab und an, wenn ein kahler Baum den Weg streift und ein wenig schützenden Schatten bietet, lässt sie ihren Blick über die auf der Straße tanzende Hitze und die Weiten der einst so saftig grünen Wiesen fahren. Sie betrachtet die Zäune, die damals Dutzende von Schafen und Kühen beherbergten und heute nur noch vereinzelte Pfosten oder heruntergedrückte Drähte sind. Manchmal, wenn sie der Weg runter von der Straße und an der Steilküste entlangführt, sie den Wellen zusehen kann, wie sie mit lautem Tosen gegen die Steinwand schlagen, dann meint Evelin sogar riechen zu können, wie es damals gerochen hat. Sie meint zu riechen, wie die Bauern ihre Ernte von den vielen Feldern holten oder die Äpfel und Birnen in ihre Anhänger verluden, um sie an jedem Dienstag in der Stadt und jeden Montag auf dem Dorfmarkt zu verkaufen. Heute haben sich viele der Bauern weiter im Landesinneren angesiedelt, weil die Luft dort feuchter und die Felder deutlich fruchtbarer als an der Küste sind und die Bäume ihre Blätter und Wurzeln noch so dicht tragen, dass Mais und Korn durch ihre Größe vor den Unwettern und Stürmen schützt, die sich regelmäßig über die Insel schlagen. Da die meisten Bauern aber nicht aus ihren Dörfern fortziehen möchten, in denen die meisten schon seit Generationen leben, nehmen sie die zum Teil dreimal so langen Stecken in Kauf, die sie mit ihren Traktoren zurücklegen müssen, um ihre neuen Felder bewirtschaften zu können.

      Lila steht die Hitze und Anstrengung des Weges und der heißen, fast brennenden Luft ins Gesicht geschrieben, erschöpft bleibt sie immer wieder stehen, um sich mit ihrem T-Shirt den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. „Wie weit ist es denn in Gottes Namen noch?“, fragt sie mehr in den Himmel als zu Evelin, die die Antwort genauso gut kennt wie ihre Freundin. Der Weg ist noch lang, sie haben gerade einmal den Kilometerstein fünf erreicht, das heißt, dass ein bisschen weniger als die Hälfte noch vor ihnen liegt. „Weißt du was?“, ruft Evelin ihrer Freundin zu, die sich gerade auf einem Stein niedergelassen hat, um den Sand der Dünen aus ihren Schuhen auf die flimmernde Straße zu kippen. „Ich habe eine Idee, hier ganz in der Nähe müsste es gehen.“ Evelin packt ihre Freundin am Handgelenk und zieht sie, vollkommen abrupt und ohne ein weiteres Wort zu sagen, von der asphaltierten Straße hinter sich her ins hohe, trockene Gras. Immer weiter läuft Evelin, und Lila gezwungenermaßen dicht hinter ihr. Dann plötzlich und fast erstarrt bleibt Evelin stehen und bremst ihre Freundin unsanft ab, bevor diese die nun vor ihr aufklaffende Steilküste hinunterfallen kann. Mit einem empörten Aufschrei kippt Lila ins knisternde Gras und bleibt dort schwer atmend liegen. Evelin, die keine Sekunde verlieren zu wollen scheint, greift nach der Hand ihrer Freundin und zieht sie mit den Worten „Vertraust du mir?“ wieder nach oben. Lila hat kaum Zeit sich gegen die energisch an ihr zerrende Freundin zu wehren, als sie schon wieder auf ihren Beinen steht. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund mich so zu erschrecken.“ Evelin grinst breit und voller Vorfreude. „Habe ich, Lila, schließ einfach die Augen ganz fest, so stark, dass du Punkte sehen kannst.“ Immer noch unsicher, ob man ihrer Freundin trauen kann, schließt Lila die Augen und tritt noch einen Schritt näher an die Steilwand. „Gleich ist es so weit“, flüstert Evelin ihrer Freundin ins Ohr.

      5. Rügen, Deutschland

      Um ihn herum ist es still, so still, dass man bestimmt eine Nadel hätte fallen hören können, die auf den grauen Beton der Produktionshalle fällt. Paul hat die Augen geschlossen, ganz fest, so dass er Punkte sehen kann. In seinem Inneren versucht er das Chaos zu beseitigen, das seit dem alles verändernden Vormittag in ihm wütet. Zwischen den Punkten tanzen die Bilder des Tages hin und her, wie in einem dieser Kinderspielzeuge, bei denen man mit dem Auge durch einen Stab schauen muss und mit jedem Drehen ein neues Bild erkennen kann. Genauso bunt und durcheinander tanzen sie. Nur manchmal kann er ein paar dieser Bilder greifen und zu einer klaren Erinnerung formen.

      Das Erste, was er zusammensetzen kann, ist ein Moment, der am späten Nachmittag stattgefunden hat. Er war gerade dabei gewesen, nachdem er eine Kapsel in das Kapselfach der Kaffeemaschine geworfen hatte, seine Tasse unter den Automaten zu stellen. Der frische Geruch umgab ihn dabei wie eine Wolke und hüllte ihn in eine beruhigende Stimmung, als der erste Anruf kam. Verständnislos, wer ihn bei seiner ersten Tasse Kaffee störte, drückte er auf den kleinen Hörer, der im Bildschirm seines Handys erschien, und nahm den Anruf entgegen. „Paul Barens, Werksleiter von Dukjon Süd, wie kann ich behilflich sein?“ „Ah, schön dass ich Sie gleich erreiche Paul, hier spricht Marcel Kron, wir haben uns letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier kennengelernt, wir sprachen über den Einsatz von Holz im Autobau.“ In Pauls Gedächtnis war kein Marcel Kron aufzufinden, egal wie tief er in seiner Erinnerung wühlte. Merkwürdig, sie müssen sich ja gut verstanden haben, wenn er ihn so ohne weiteres beim Vornamen ansprach, aber nicht gut genug, um sich zu duzen. „Ach ja Marcel, wie geht es Ihnen?“, gaukelte er ihm die Bekanntschaft vor, um das Gespräch voranzubringen und endlich den nun kalt werdenden Kaffee genießen zu können. „Ja, wo Sie fragen Paul, mir geht’s gerade gar nicht so gut, haben Sie schon einmal von § 4253 gehört?“ Klar hatte Paul von diesem seltsamen Paragrafen gehört, eigentlich sogar öfter, als ihm lieb war, viele nannten ihn nur den „unausführbaren Umweltparagrafen“, weil die Regierung angeblich Dinge verbieten will, die der Umwelt schaden. „Ja klar habe ich von diesem Paragrafen gehört, aber mal ehrlich, damit kommen die doch

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