Скачать книгу

darfst eines nicht vergessen”, hörte ich ihn sagen. Ich schluchzte und wimmerte. Aber nicht, weil ich ihm dadurch signalisieren wollte, weiterzusprechen. Ich ahnte, was er sagen wollte. Nur war ich es leid, es zu hören. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Und du kannst ihr nicht entgehen. Es ist dein Schicksal. Du kannst nicht einfach aufhören. Du wurdest als Jägerin geboren. Es ist deine Verpflichtung. Das hier ist dein Leben”, sagte er. Seine Stimme klang müde, als wäre er es leid, mich an diese Sache zu erinnern.

      „Das hier ist nicht mein Leben. Es ist eine Rolle, in die ich geschlüpft bin, weil es andere so wollten. Mein Leben war das, was ich vor alledem hatte”, bemerkte ich bitter. Erschöpft kroch ich von der Tür weg und auf mein Bett zu.

      Ich wusste nicht, was mich mehr erschütterte: die Tatsache, dass ich mein Kind niemals in meinen Armen halten oder dass der Pater so grausam war und mich niemals gehen lassen würde. Das hatte ich nun endgültig begriffen: Ich würde hier niemals herauskommen.

      5. Ende der Geduld

      Nicht einmal der Schlaf konnte mir helfen, Ruhe zu finden. Die Träume, die ich hatte, waren grausam. Und auch wenn ich mit offenen Augen dalag, sah ich die Bilder noch vor mir. Irgendwann hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und auch jede Empfindung abgeschaltet. Wie versteinert lag ich in meinem Bett und starrte vor mich hin. Wenn der Pater zu mir kam, um nachzusehen, ob ich seine gemachten Mahlzeiten gegessen hatte, lag ich immer noch genauso da, wie er mich zuvor schon gesehen hatte. Er seufzte dann jedes Mal, weil er feststellte, dass ich wieder das Essen hatte verderben lassen. Aber er gab nicht auf. In regelmäßigen Abständen kehrte er zurück und stellte mir etwas Frisches hin, nur um es wenige Stunden später unangetastet wegzutragen. Dann hörte ich auch den Schlüssel, der sich im Schloss herumdrehte. Er vergaß nie, die Tür zu verriegeln.

      Ich saß aufrecht in meinem Bett und starrte auf die Überdecke. Die Muster ihrer Stickereien verschwammen vor meinen Augen. Ich war eine leblose Statue. Ich saß da, ohne mich zu bewegen. Ich aß nicht, weil ich keinen Hunger verspürte. Ich trank nicht, weil ich nicht durstig war. Es hatte keinen Sinn für mich. Nichts hatte für mich einen Sinn. Ich sah nichts Schönes mehr und nichts Gutes um mich herum. Ich spürte nur Kälte.

      Pater Michaels Schritte ertönten im Gang vor meinem Zimmer. Die Tür wurde aufgeschlossen, und er trat ein. Er war immer da. Unaufhörlich, ohne etwas von seiner Energie zu verlieren wie ein batteriebetriebenes Spielzeug, kümmerte er sich und wollte mich davon abhalten, zu verhungern und zu verdursten. Für einen Moment blieb er im Rahmen stehen. Wahrscheinlich überraschte es ihn, mich in einer anderen Position vorzufinden als bei seinen anderen Besuchen. Rasch erholte er sich von seiner Verwunderung und kam zum Bett. Geräusche drangen an meine Ohren, die mir sagten, dass er einen Teller auf meinen Nachttisch stellte und dazu ein Glas. Es plätscherte leise, als das Wasser darin hin und her schwappte. „Ich habe dir ein paar Cracker mitgebracht. Bitte versuch doch wenigstens sie zu essen”, bat er mich. Seine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Zwischen den Fingern hielt er einen Cracker.

      Ich machte aber keine Anstalten, ihn zu nehmen. Ich wollte ihm den Gefallen nicht tun. Ich wollte nicht das Essen essen, das er mir anbot. Und ich wollte nicht das Wasser trinken, dessen Bläschen sprudelten, bis es nach Stunden abgestanden war. Pater Michael seufzte und senkte seinen Arm wieder. Ich spürte seine Verzweiflung, und es verschaffte mir Genugtuung.

      Ich litt.

      Er sollte auch leiden.

      Er hatte mir keine Gnade gewährt. Nun tat ich das Gleiche mit ihm.

      „Dein Schweigen und dein Verweigern bringen mich noch um den Verstand! Du müsstest dich sehen, Ada! Du bist ganz weiß und hast dunkle Schatten unter den Augen. Deine Wangen sind eingefallen und deine Lippen aufgesprungen, weil du nichts isst oder trinkst”, sagte er mir.

      Was war los mit ihm? Gefiel ich ihm so nicht? Es war doch sein Werk!

      „Bitte iss doch etwas. Wie sollst du denn wieder gesund werden, wenn du dich so stur verhältst?”, sagte er und hielt mir erneut den Keks vors Gesicht.

      Ich ignorierte wieder sein Betteln. Er hatte es auch mit meinem getan. Und wozu sollte ich gesund werden? Was war es nütze, wenn mir das Wichtigste in meinem Leben fehlte? Doch es war einmal zu viel des Guten, und ihm riss der Geduldsfaden. Pater Michael kniete sich neben mich aufs Bett, packte mit einer Hand meinen Hinterkopf und versuchte mit der anderen, den Cracker in meinen Mund zu zwingen. Aber ich biss fest die Zähne aufeinander. Er hatte keine Chance. Das Essen zerbröselte nur zu kleinen Krümeln, die sich über die Decke verteilten. Er zog einen weiteren Cracker aus der Packung hervor und legte ihn zurecht. Ich spürte seine Finger an meinem Mund und wie sie versuchten, mit Gewalt meine Lippen auseinander zu kriegen, die sich so sehr zusammengepresst hatten, sodass es mir schon wehtat. Wieder gelang es ihm nicht. Frustriert schrie er auf und schleuderte nicht nur den Cracker, der neben mir gewartet hatte, durchs Zimmer, sondern auch die restliche Packung, die knisternd im hohen Bogen quer durch den Raum flog. „Verdammt, Ada!”, rief er aus und sprang vom Bett auf. Er drehte sich im Kreis herum und vergrub die Hände in den Haaren. Dann kehrte er zurück zu mir und packte mich an den Schultern. Kräftig schüttelte er mich durch. „Ich liebe dich, und ich brauche dich hier! Tu mir doch den Gefallen, und iss etwas!”, sagte er und versuchte, mir in die Augen zu sehen. Stur blickte ich an ihm vorbei und zeigte mich ihm völlig unbeeindruckt. „Wie kann man nur so dickköpfig sein?!”, schrie er mich an.

      Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper und blieb stumm. Für eine Weile spürte ich seine Blicke auf mir. Dann seufzte er und gab sich geschlagen. Ihm fiel offenbar nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Pater Michael lief hinüber zu der am Boden liegenden Cracker-Packung und hob sie auf. Dann verließ er den Raum. Und wieder hörte ich den Schlüssel, als er mich einschloss.

      6. Durst

      Als er fort war, blickte ich auf meine Uhr. Es war 22.45 Uhr. Seufzend schüttelte ich die Krümel von meiner Bettdecke und legte mich wieder hin. Ich wollte versuchen zu schlafen. Ein bisschen Hoffnung, dass ich dieses Mal keine Alpträume haben würde, hatte ich noch. Doch ich irrte mich. Ich hatte wieder den gleichen Traum wie die anderen Male zuvor. Immer wieder sah ich vor mir eine dunkle Gestalt in einen Umhang gehüllt, die mir mein Baby wegnahm und es wegtrug. Ich wollte sie aufhalten, ihr mein Kind entreißen. Aber ich war festgeschnallt auf der Liege. Und wie jedes Mal wachte ich mit rasendem Herzen und Tränen in den Augen auf. Ich fragte mich immer wieder, ob der Traum eine Erinnerung war, die sich im Schlaf bei mir meldete, oder ob es meine Fantasie war, die mir diesen Streich spielte. Ich wusste schon gar nicht mehr, was wirklich war und was nicht.

      Zitternd setzte ich mich im Bett auf und schaltete die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Das Licht brannte in meinen Augen, und ich bekam stechende Kopfschmerzen. Ich sah die Uhrzeit und war erstaunt darüber, wie wenig Zeit erst vergangen war. Gerade einmal eine halbe Stunde. Mein Blick fiel auf das Glas Wasser, welches der Pater dort hatte stehen lassen. Als ich die klare Flüssigkeit sah, musste ich mir unwillkürlich über die Lippen lecken. Nur konnte ich sie nicht befeuchten. Ich hatte gar keine Flüssigkeit mehr in mir übrig. Sie war mit den unendlichen Tränen aus meinem Körper geschwemmt und bisher nicht wieder aufgefüllt worden.

      Plötzlich war ich wahnsinnig durstig und schnappte mir das Glas. Meine Hand zitterte, als ich es anhob. Ich hatte kaum Kraft, diese einfache Tätigkeit auszuführen. Schließlich hatte ich seit Tagen nichts gegessen, was mir hätte Energie geben können. Ich musste beide Hände nehmen, damit ich das Gefäß an meinen Mund führen konnte. Aber irgendwie schaffte ich es und nahm einen ersten zaghaften Schluck. Es war wunderbar, die Flüssigkeit an den Lippen zu spüren und wie sie meinen Mund befeuchtete. Die Kühle rann meine Kehle hinunter, und ich spürte, wie sie in meinem Magen landete. Ich setzte das Glas erneut an und leerte es in einem Zug. Aber mein Durst war noch nicht gestillt.

      Ich kletterte aus meinem Bett und schwankte in mein Badezimmer. Immer wieder füllte ich das Glas voll und leerte es umgehend. Ich weiß nicht, wie viel ich trank, aber ich fühlte mich erfrischt und nicht mehr dem Wahnsinn nahe wie jemand, der kurz vor dem Verdursten ist. Zufrieden ging ich zurück in mein Bett und legte mich

Скачать книгу