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wie lange es wohl schon her war, dass man mir meine Tochter weggenommen hatte. Ich vergrub mein Gesicht in dem Stoff seiner Soutane und hielt mich an dem Mann nach Trost suchend fest, der für diesen Schmerz verantwortlich war.

      3. Falsche Worte

      Ich wusste nicht, wie ich zurück in mein Bett gelangt oder wie viel Zeit vergangen war, seitdem ich versucht hatte, aus meinem Zimmer zu gelangen. Ich hatte das Gefühl für alles verloren und an nichts Interesse. Trauernd lag ich in den Kissen und starrte vor mich hin. Pater Michael hatte mir etwas zu essen auf den Nachttisch gestellt. Auch daran konnte ich mich nicht erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war. Doch die Ränder des Käses waren bereits angetrocknet, was mir sagte, dass das Sandwich schon eine ganze Weile dort stehen musste. Mir war aber nicht nach essen. Und auch nicht nach trinken. Alles wonach ich verlangte, war, mein Kind zu sehen. Stattdessen öffnete sich die Tür zu meinem Schlafzimmer, und der Pater trat ein. Mein Blick war auf den Boden gerichtet, sodass ich nur seine Füße sah und wie sie sich mir näherten. Neben dem Bett blieb er stehen. „Du hast nichts gegessen”, bemerkte er. Am Klang seiner Stimme hörte ich, dass er besorgt war. „Du musst etwas essen”, sagte er fürsorglich.

      Ich konnte es nicht ertragen, wie er jetzt zu mir war. Für mich klang es wie Heuchelei, dass er sich nun um mich Sorgen machte. „Ich will zu meinem Baby!”, forderte ich, ohne ihn dabei anzusehen. Ich hörte, wie er tief durchatmete. Verlor er die Geduld mit mir? Gut! Denn dann würde er mich vielleicht doch schon bald zu ihr lassen.

      „Es geht nicht, Ada. Du weißt das. Wir haben es so oft besprochen”, sagte er. Meine Augen fingen an zu brennen, als die Tränen aufstiegen. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid”, säuselte er, als er sah, dass ich anfing zu weinen.

      Alles in mir zog sich zusammen, als hätte mir jemand in den Bauch geboxt, und mein Herz fühlte sich an, als würde es von einer kalten Faust umschlossen. Vor Trauer und Wut verzog sich mein Gesicht. „Lass mich allein!”, brachte ich mit rauer Stimme hervor und schloss die Augen. Ich wollte ihn nicht sehen. Sein Anblick war für mich unerträglich. Er flüsterte meinen Namen und berührte mich an der Schulter. „Fass mich nicht an! Geh weg von mir! Lass mich einfach in Ruhe!”, fuhr ich ihn an. Seine Berührung war für mich entsetzlich, seine Gegenwart zuwider. Als er sich nicht rührte, drehte ich mich auf meine andere Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Irgendwie wusste ich aber, dass er mich ansah. Ich spürte seine Blicke so deutlich auf mir, als wären es seine Hände.

      „Wieso weist du mich zurück? Ich will dir nichts Böses tun, Ada. Schick mich nicht weg. Nimm doch meine Hand. Sie bietet dir Hilfe und kann dir etwas von meiner Kraft abgeben. Lass mich dir doch helf- ”, begann er zu sagen, hielt dann allerdings inne, weil er sah, wie ich mir eine Hand aufs Ohr legte, damit ich seine falschen Worte nicht hören musste. Sie waren bedeutungslos für mich. Wie Staub. Man holt Luft, stößt sie wieder aus, und der Staub wurde mit ihr weggeweht. Und es war, als hätte es ihn nie gegeben.

      Es verging noch ein Moment, dann spürte ich, wie sich unter mir die Matratze bewegte. Er war gegangen.

      4. Meine Flucht

      Die Uhr auf meinem Nachttisch sagte mir, dass es nachmittags kurz vor halb fünf Uhr war. Unter der Erde ist es schwer einzuschätzen, welche Uhrzeit ist. Oder welchen Tag wir hatten. Ich hatte seit einiger Zeit nichts mehr vom Pater gehört oder gesehen. Als er gegangen war, hatte er den Teller mit dem vertrockneten Käsesandwich mitgenommen, das nun wohl im Mülleimer lag. Wie auch schon die anderen Mahlzeiten, die er mir gebracht hatte. Ich fragte mich, was er gerade tat. Ob er schon eine neue Mahlzeit für mich vorbereitete, die ich letztendlich doch nicht anrühren würde? Oder vielleicht schlief er auch? Müde von meinem Benehmen. Ich hoffte sehr darauf, dass er in seinem Bett lag und mit träumen beschäftigt war. Denn ich hatte mir in den letzten Stunden einen Plan zurechtgelegt, um von hier weg zu gelangen.

      Meine Kraft war immer noch nicht in meinen Körper zurückgekehrt. Ich war schwach, und es war mühsam, sich die vernünftigen Klamotten anzuziehen. Es hatte eine ganze Weile gedauert, wobei die Hose am schwierigsten gewesen war. Aber ich hatte es schließlich dennoch gepackt und war bereit, mich auf meine Flucht zu begeben. Eine ganze Zeit lang hatte ich es geschafft, meine Eile zu unterdrücken. Aber jetzt, wo es endlich daran war aufzubrechen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Hastig lief ich zu meiner Zimmertür. Ich riss sie auf und wollte auf den Gang hinaustreten, als plötzlich Pater Michael vor mir stand und mir den Weg versperrte. Ich war so fassungslos, dass ich ihn nur mit offenem Mund anstarren konnte. Hatte er tatsächlich vor meiner Tür Wache gehalten? Hatte er gewusst, dass ich versuchen würde zu fliehen? War ich wirklich so leicht durchschaubar?

      Als ich den ersten Schock verdaut hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah ihn trotzig an. „Lass mich gehen, Michael!”, verlangte ich und versuchte, mich an ihm vorbei zu drängen. Er reagierte schnell und stellte sich mir in den Weg. „Geh beiseite!”, forderte ich ihn auf. Er schüttelte nur den Kopf.

      Also schön, wenn er es so haben will! Dieses Mal gab ich mir keine Mühe, um ihn herumzulaufen. Dieses Mal wagte ich einen Frontalangriff. Ich kratzte all meine Kraft zusammen und lief genau in ihn hinein. Unsanft prallte ich von ihm ab und wurde wie ein Gummiball zurückgeworfen. Pater Michael fasste mich an den Schultern und schob mich durch die Tür zurück in mein Zimmer. Schnell packte er die Türklinke und wollte die Tür verschließen. Als ich das sah, lief ich sofort los. Aber ich war zu spät. Ich rüttelte an der Klinke, schlug gegen das Holz und schrie. „Lass mich raus, Michael!” Verzweifelt hämmerte ich gegen die Tür. Ich trat mit den Füßen dagegen. Meine Finger versuchten in den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu gelangen, als könnte ich sie dadurch aufhebeln. Aber das Holz blieb unnachgiebig. Kraftlos lehnte ich mich dagegen und begann zu weinen. „Du elender Mistkerl! Lass mich gehen!”, rief ich aus und schlug ein letztes Mal mit der flachen Hand gegen die Tür. Dann rutschte ich erschöpft an ihr hinunter und blieb auf dem Boden davor sitzen. Ich wusste, dass er immer noch da war. Sein Schatten fiel deutlich unter dem Spalt der Tür in mein Zimmer. Er konnte mich also hören. „Wie kannst du mir das antun?”, fragte ich ihn. Er gab mir keine Antwort.

      Ich weinte noch mehr. Meine Finger kratzten weiter über das Holz und tasteten erneut an der Klinke herum. „Bitte, lass mich raus. Ich möchte doch nur zu meinem Baby”, flehte ich Pater Michael ein letztes Mal an.

      Aber er ignorierte mein Betteln. „Es tut mir leid, Ada”, hörte ich seine Stimme durch die Tür hindurch flüstern. Dann entfernten sich seine Schritte von meinem Zimmer, und ich war wieder allein und eingesperrt.

      Irgendwann war ich auf dem Boden eingeschlafen, und als ich erwachte, begann ich sofort damit, die Tür erneut zu bearbeiten. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass ich sie doch noch dazu bewegen konnte, sich zu öffnen.

      „Ada.”

      Beim Klang seiner Stimme hörte ich abrupt mit meinem nutzlosen Schlagen und Hämmern gegen das Holz auf. „Lass mich gehen, Michael. Bitte, bitte, lass mich gehen”, bettelte ich. Ich hörte, wie er sich auf der anderen Seite der Tür bewegte. Vermutlich drehte er sich so hin, dass er direkt mit dem Gesicht zu mir saß.

      „Was hast du dann vor?”, wollte er wissen. Er gab mir einen kurzen Moment, um darüber nachzudenken. Aber ich war so sehr über diese Frage verblüfft, dass ich kaum klar denken konnte. „Wo willst du hin, Ada?”, fragte er mich. Ich wusste keine Antwort darauf. „Es gibt keinen Ort, wo du leben könntest, und du hast nichts außer dem, was du an deinem Körper trägst. Du kannst nicht gehen.”

      Die Wahrheit traf mich wie ein Schlag. Er hatte Recht. Ich hatte keine Ahnung, was nach meiner Flucht sein würde. Aber um ehrlich zu sein, war es mir scheißegal! Für mich zählte nur eines: Ich musste zu meinem Baby. „Bitte, lass mich raus”, flehte ich wieder. Ich begann zu weinen. Erst waren es stille Tränen, die über meine Wangen liefen. Doch dann wandelten sie sich zu merkwürdigen Klagelauten, die sogar mich erschreckten. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Das Wimmern musste einfach aus mir heraus.

      „Grundgütiger, Ada”, flüsterte der Pater hinter der Tür. Er klang entsetzt und traurig.

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