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die zweite Seite, 20 Mal die dritte Seite u.s.w. ausspuckte und er schließlich 20 Kopiersätze à 15 Seiten von Hand sortieren musste. Was zur Hölle hatte er hier verloren? Wenn es so weiterlief, würde er nichts, rein gar nichts über Christine Deubachers Arbeitskollegen herausfinden. Er dachte an Silvias milchkaffeebraunen Augen und ihren betörenden Duft und erinnerte sich daran, warum er das alles tat.

      ***

      „Sie sehen schlecht aus!“

      Die Stimme hinter ihr hatte ihr gerade noch gefehlt. Die Nacht war anstrengend gewesen, wie schon die letzten zwei zuvor. Slavica war viermal schreiend aufgewacht. Die Unruhe der Mutter übertrug sich auf das Kind. Wie immer, wenn es Probleme gab. Und Probleme, die gab es jetzt reichlich. Der Arzt wollte die nächste Rate für Slavicas Therapie, die so gut anschlug. Sie musste eine neue Wohnung finden. Barrierefrei. Behindertengerecht. Bezahlbar. Bald. Und jetzt kam Lothar Appelt. Er wohnte einen Stockwerk über ihr und hielt Slavica und ihr die Tür auf, als beide das Haus Richtung Bushaltestelle verlassen wollten. Herr Appelt war 52, entweder schon sehr lange geschieden oder noch nie liiert gewesen. Jedenfalls hatte ihn Milka noch nie mit einer Frau gesehen. Meistens beschäftigte er sich mit seinem Auto. Seit ihrem Einzug machte er ihr Komplimente, war nett zu Slavica und schien sich nichts daraus zu machen, dass Milka Krasnick seinen Annäherungsversuchen beständig widerstand.

      „Ich muss los!“ sagte sie eisig und fühlte ihren Rosenkranz in der Jackentasche. Sie musste den Bus erreichen. Slavica hatte sich geweigert, die Winterjacke anzuziehen. Nach einigen Versuchen gab Milka auf und tröstete sich, dass der Bus geheizt sein würde. Die Tagesstätte sowieso. Aber in der Strickjacke konnte das Mädchen nicht lange draußen bleiben. Bei ihrem schwächelnden Immunsystem war die nächste Lungenentzündung vorprogrammiert.

      „Ich kann Sie fahren!“ sagte Lothar freundlich. „Slavica ist ja auch zu dünn angezogen für dieses Wetter.“

      „Danke, wir kommen schon zurecht!“ lehnte Milka ab und schob Slavicas Rollstuhl über die Türschwelle. Es erstaunte sie, dass Lothar Appelt auf Slavicas Kleidung achtete. Die meisten sahen nur ihre Behinderung. Manchmal schwamm ein verstohlener Gedanke an die Oberfläche ihrer durchorganisierten Welt: dass es nett wäre, noch jemanden zu haben, der sich kümmerte. Jemand, der auch für Slavica da wäre. Aber Milka hatte nicht die Kraft für Experimente, die schief gehen konnten. Sie erinnerte sich an die Schwierigkeit, Slavica an einen neuen Betreuer in der Tagesstätte zu gewöhnen. Ein neuer Mann in ihrer Familie – das erschien Milka völlig unmöglich.

      „Auto, Auto!“ jauchzte das Mädchen im Rollstuhl und klatschte die spastischen Hände zusammen.

      „Sehen Sie, Ihre Tochter habe ich schon überzeugt! Kommen Sie, Frau Krasnick! Es geht auch viel schneller!“

      „Auto!“ kreischte Slavica. Die Mutter sah auf ihr Kind. Dann auf die Uhr.

      „Gut“, sagte sie.

      Im Auto kamen sie ins Gespräch und Milka erzählte mehr, als sie wollte. Lothar Appelt wusste bereits von dem Verlust einer Kundin, die gestorben war und von dem Geld, das ihr jetzt fehlte und dringend gebraucht wurde. Jetzt erzählte sie auch von einer anderen Auftraggeberin, die ihr immer noch Geld schuldete, aber ständig nur leere Versprechungen machte. „Ich hätte auf Sofortkasse bestehen müssen. Mein Fehler.“

      „Ich kann mich darum kümmern“, bot Lothar Appelt an. „Wir gehen vor das Arbeitsgericht und klagen das Geld ein.“

      Milka schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“

      „Natürlich geht das! Es kann ja nicht sein, dass Sie dauernd auf Ihr Geld warten müssen!“

      „Ich will das nicht!“ lehnte Milka ab. „In dieser Sache bin ich nicht angemeldet beschäftigt!“

      „Das ist doch nicht Ihr Problem, sondern das der Auftraggeberin!“ beharrte Lothar Appelt und bog an der Kreuzung links ab.

      „Bus!“ kreischte Slavica. „Schau!“

      „Ja, mein Schätzchen, das ist ein Bus!“ bestätigte Milka mit Blick auf ihre enthusiastische Tochter. Sie hoffte, dass Lothar Appelt das Thema bleiben ließ. Doch dieser ließ nicht locker. Er schimpfte über die Rücksichtslosigkeit der Auftraggeberin und bot an, sich mit der Dame zu treffen. Milka musste etwas antworten. Etwas glaubwürdiges, sonst würde Lothar möglicherweise so lange im Trüben herumstochern, bis er auf etwas stieß. Sie wandte sich wieder ihrem Nachbarn zu.

      „Ich darf keine zwei Minijobs neben dem Hauptberuf haben“, sagte Milka ernst. „Ich kann mir nicht erlauben, auch noch meinen Teil der Sozialversicherungsbeiträge nachzuzahlen. Frau Rosner-Neidhart wird zahlen, ich bin mir sicher. Ich will sie bloß nicht verärgern.“

      Im gleichen Augenblick erschrak sie. Sie hätte den Namen nicht verraten dürfen. Lothar Appelt hakte nicht nach, sondern nickte verständnisvoll. „Wenn Sie meine Hilfe brauchen, fragen Sie mich! Ich weiß, wie man Druck aufbaut! Warten Sie ab, ruck zuck haben Sie das Geld!“ Er legte seine rechte Hand auf ihren linken Oberschenkel. Milkas Augen weiteten sich vor Schreck. Auf keinen Fall, wollte sie, dass sich ihr Nachbar hier einmischte und die Decke anhob, die ihr Schutz bot. Niemand durfte erfahren, dass es unter dieser Decke erschreckend schwarz war.

      „Danke“, sagte sie leise und ignorierte seine Hand. Sie musste vorsichtig sein, was sie ihrem eifrigen Nachbarn verriet.

      ***

      Auf die quälende Lektion bezüglich subjektiver zeitlicher Wahrnehmung hätte Tim gern verzichtet: Je mehr er sich danach sehnte, die Uhrzeiger mögen auf 15:00 Uhr rücken, desto langsamer schienen die Minuten zu vergehen. Die Kopierarbeiten langweilten ihn. Er brannte darauf, in die Detektei zu fahren, um seine dortigen Aufgaben zu erledigen. Um viertel vor drei war er endlich fertig und sah sich unsicher um. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ed Poulsen ihn vor Ablauf der verabredeten Zeit gehen ließ, erschien ihm sehr gering. Eher würde er ihn mit weiterer Arbeit versorgen, die ihn noch länger beschäftigte. Tim wog die Möglichkeiten ab. Um drei vor drei brachte er den Stapel mit den Kopien ins Büro und verabschiedete sich so schnell, dass keine Zeit blieb, auf eine Antwort von dem schikanösen Poulsen zu warten.

      Tim war offenkundig nicht der einzige, der sich wünschte, in der Detektei allein zu sein, um in Ruhe arbeiten zu können. Er hatte über alle Personen, die er getroffen hatte, geschrieben und war gerade dabei zu formulieren, was er über sie herausgefunden hatte, als er ein Geräusch vernahm. Und das missfiel ihm. Der Klang der sich öffnenden Eingangstür war unverwechselbar. Wenn er schon nicht alleine sein konnte, so hoffte er auf Keller. Oder Zinsmeister. Sogar Nuray wäre ihm recht gewesen, obwohl sie seit Ende ihres Praktikums nicht mehr gekommen war.

      Er sah ihre apfelgrüne Regenjacke als erstes. Natürlich, bei seinem Glück an diesem Tag konnte es nicht anders sein.

      Die mangelnde Begeisterung war gegenseitig. Doch dazu kam noch etwas anderes. Sie wirkte ertappt.

      „Ich dachte, es sei niemand mehr da!“, begrüßte Franziska ihn kühl.

      Heute trug sie keinen Pferdeschwanz, sie hatte die Haare dicht ins Gesicht frisiert. Sie hatte so viel Lidschatten aufgetragen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie die Augen damit überhaupt noch öffnen konnte. Auf den zweiten Blick erkannte er, warum sie das getan hatte. Die Schwellung an ihrem Auge fiel wirklich nur bei genauerem Hinsehen auf.

      „Doch. Ich nehme meinen Job ernst und mache meinen Bericht fertig!“ sagte Tim. „Und was wollen Sie heute hier? Müssen Sie nicht bei Ihrem Kind sein?“

      „Jolina ist bei meiner Mutter.“

      Das beantwortete nur die zweite Frage. Tim sah sie auffordernd an.

      „Ich bin auch gleich wieder weg“, sagte sie und ging zielgerichtet auf ihren Schreibtisch zu und zog eine Schublade auf.

      „Was denn? Wollen Sie mir jetzt zu schauen, was ich hier mache?“ fragte sie provokant. Tim schüttelte den Kopf.

      „Es ist gut, wenn Jolina in Sicherheit ist“, sagte er.

      „Was soll das?“ fragte Franziska.

      „Wie

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