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reisten sie zu den Eltern hinüber in das fremde Land. Keines kehrte zurück, keines blieb in der Heimat. Die alte Frau war schließlich ganz allein auf dem Gehöft.

      Sie bat sie auch gar nicht, bei ihr zu bleiben. »Du findest doch nicht, Rödlinna, daß ich sie bitten sollte, hier bei mir zu bleiben, wenn sie in die Welt hinausreisen und es gut haben können?« sagte sie oft, wenn sie im Stall bei der alten Kuh stand. »Hier in Smaaland harrt ihrer ja nichts als Armut.«

      Aber als das letzte Enkelkind gereist war, konnte die alte Frau nicht mehr. Mit einemmal wurde sie grauhaarig und gebeugt, ihr Gang wurde wackelnd, es sah so aus, als habe sie keine Kraft mehr, sich zu rühren. Und sie hörte auf zu arbeiten. Sie mochte sich nicht mehr um das Gehöft bekümmern, sondern ließ alles verfallen. Sie setzte die Gebäude nicht mehr instand und sie verkaufte sowohl Kühe als auch Ochsen. Nur die alte Kuh, mit der Däumling jetzt sprach, behielt sie. Die ließ sie leben, weil alle Kinder mit ihr draußen auf dem Felde gewesen waren.

      Sie hätte ja Mägde und Knechte in ihren Dienst nehmen können, um sich bei der Arbeit helfen zu lassen, aber sie konnte es nicht ertragen, Fremde um sich zu sehen, jetzt, wo ihre Angehörigen sie verlassen hatten. Und vielleicht sah sie es auch am liebsten, daß das Gehöft verfiel, wenn keins von den Kindern kam, um es zu übernehmen. Sie machte sich nichts daraus, daß sie selber arm wurde, weil sie nicht für das sorgte, was ihr gehörte. Aber sie fürchtete, daß zu den Kindern Kunde davon dringen könne, wie schlecht es ihr erging. »Wenn nur die Kinder es nicht erfahren! Wenn nur die Kinder es nicht erfahren!« seufzte sie, wenn sie im Stall umherschwankte.

      Die Kinder schrieben ihr beständig und baten sie, zu ihnen hinüberzukommen, aber sie wollte nicht. Sie wollte das Land nicht sehen, das ihr die Kinder genommen hatte. Sie war böse darauf. »Es ist sicher dumm von mir, daß ich das Land nicht leiden kann, das so gut gegen sie gewesen ist,« sagte sie. »Aber ich will es nicht sehen!«

      Sie dachte nie an etwas anderes als an die Kinder, und daß sie weggereist waren. Wenn es Sommer wurde, zog sie die Kuh heraus, so daß sie auf dem großen Moor weiden konnte. Sie selbst saß den ganzen Tag am Moor, die Hände im Schoß, und wenn sie nach Hause ging, sagte sie: »Sieh, Rödlinna, wären hier große, fette Äcker gewesen statt dieser unfruchtbaren Moore, so hätten sie nicht fortzureisen brauchen.«

      Sie konnte sich förmlich wütend sehen an dem Moor, das sich so groß und weit ausbreitete und keinen Nutzen schaffte. Und sie konnte dasitzen und davon reden, daß das Moor schuld daran sei, daß die Kinder von ihr gegangen waren.

      An diesem letzten Abend war sie elender und zitteriger gewesen denn je zuvor. Sie hatte nicht einmal das Melken mehr besorgen können. Sie hatte dagestanden und sich auf den Stand gestützt und erzählt, es seien zwei Bauern bei ihr gewesen, die hätten gefragt, ob sie das Moor nicht verkaufen wolle. »Denk' dir, Rödlinna,« sagte sie, »denk' dir, sie sagten, auf dem Moor könne Roggen wachsen! Nun schreibe ich an die Kinder, daß sie nach Hause kommen sollen. Nun brauchen sie nicht mehr fort zu bleiben, nun können sie Brot hier in der Heimat bekommen!«

      Das war der Brief, den sie hatte schreiben wollen, als sie in die Stube gegangen war.

      *

      Der Junge hörte nichts mehr davon, was die alte Kuh erzählte. Er machte die Stalltür auf und ging in die Stube hinein zu der Toten, vor der er noch vor kurzem so bange gewesen war.

      Erst stand er einen Augenblick still und sah sich um.

      Die Stube sah nicht so ärmlich aus, wie er es sich gedacht hatte. Sie war reichlich versehen mit solchen Gegenständen, wie man sie bei Leuten anzutreffen pflegt, die Verwandte in Amerika haben. In einer Ecke stand ein amerikanischer Schaukelstuhl, auf dem Tisch am Fenster lag eine bunte Plüschtischdecke, über das Bett war eine hübsche Decke gebreitet, an den Wänden hingen die Photographien der abwesenden Kinder und Kindeskinder in zierlichen, geschnitzten Rahmen, auf der Truhe standen hohe Vasen und ein paar Leuchter mit dicken, gewundenen Kerzen.

      Der Junge fand eine Schachtel mit Streichhölzern und zündete die Kerzen an, nicht weil er das Bedürfnis hatte, besser zu sehen als bisher, sondern weil er glaubte, der Verstorbenen auf diese Weise Ehre zu erweisen.

      Dann ging er zu ihr hin, drückte ihr die Augen zu, legte ihr die Hände kreuzweise über die Brust und strich ihr das dünne, graue Haar aus dem Gesicht.

      Es kam ihm gar nicht mehr in den Sinn, bange vor ihr zu sein. Er war so von Herzen traurig, daß sie ihr Alter so in Einsamkeit und Sehnsucht hatte verleben müssen. Jetzt wollte er wenigstens diese Nacht bei ihrem entseelten Körper wachen.

      Er suchte nach dem Gesangbuch, und als er es fand, setzte er sich hin und las ein paar Gesänge halblaut. Aber mitten im Lesen hielt er inne, weil er an seine eigenen Eltern denken mußte.

      Ach, daß sich Eltern so nach ihren Kindern sehnen können! Das hatte er nie geahnt. Ob die daheim sich auch wohl nach ihm sehnten, so wie sich die alte Frau gesehnt hatte?

      Der Gedanke machte ihn froh, aber er wagte nicht, daran zu glauben. Er war nicht so gewesen, daß sich jemand nach ihm sehnen konnte.

      Aber was er nicht gewesen war, konnte er werden.

      Rings um sich her sah er die Bilder der Fortgereisten. Es waren große, starke Männer und Frauen mit ernsten Gesichtern. Da waren Bräute mit langen Schleiern und Herren mit feinen Kleidern, und da waren Kinder, die lockiges Haar hatten und schöne, weiße Kleider. Und er fand, daß sie alle zusammen blind in die Luft hinausstarrten und nicht sehen wollten.

      »Ihr Ärmsten!« sagte der Junge zu den Bildern. »Eure Mutter ist tot. Ihr könnt es nicht wieder gutmachen, daß ihr von ihr gereist seid. Aber meine Mutter lebt.«

      Hier hielt er inne und nickte und lächelte vor sich hin. »Meine Mutter lebt!« sagte er. »Mein Vater und meine Mutter leben beide!«

      Freitag, den 15. April.

      Der Junge wachte fast die ganze Nacht, aber gegen Morgen schlief er ein, und da träumte er von seinem Vater und seiner Mutter. Er konnte sie kaum erkennen. Sie hatten beide graues Haar bekommen und alte, runzelige Gesichter. Er fragte, woher das komme, und sie antworteten, sie seien so alt geworden, weil sie sich nach ihm gesehnt hatten. Er wurde gerührt und verwundert zugleich, denn er hatte immer gedacht, sie würden froh sein, daß sie ihn los waren.

      Als der Junge erwachte, war der Morgen mit schönem, hellen Wetter angebrochen. Erst aß er selbst ein Stück Brot, das er in der Stube fand, dann gab er den Gänsen und der Kuh ihr Morgenfutter und öffnete die Stalltür, so daß die Kuh nach dem nächsten Gehöft hinübergehen konnte. Wenn sie allein gegangen kam, würden die Nachbarn schon verstehen, daß der alten Frau etwas zugestoßen sein müsse. Sie würden nach dem einsamen Gehöft eilen, um zu sehen, was die Alte machte, und wenn sie dann ihren entseelten Körper fanden, würden sie sie begraben.

      Kaum waren der Junge und die wilden Gänse in die Luft hinaufgekommen, als sie einen hohen Berg mit fast lotrechten Wänden und einem jäh abgeschnittenen Gipfel erblickten, und sie begriffen, daß dies der Taberg sein müsse. Und oben auf dem Taberge stand Akka mit Aksi und Kaksi, Kolme und Neljä, Biisi und Kuusi und allen sechs Gösseln und wartete auf sie. Das war eine Freude und ein Schnattern und ein Flügelschlagen und Schreien, wie es nicht zu beschreiben ist, als sie sahen, daß es dem Gänserich und Daunenfein gelungen war, Däumling zu finden.

      Ziemlich hoch auf den Taberg hinauf wuchs Wald, aber der oberste Gipfel war kahl, und von dort aus konnte man weit umher nach allen Seiten sehen. Sah man nach Osten, nach Süden oder Westen, so war da fast nichts weiter zu sehen, als ein armseliges Hochland mit dunklen Tannenwäldern, braunen Mooren, eisbedeckten Seen und blauenden Bergabhängen. Der Junge mußte zugeben, daß es nicht so aussah, als wenn derjenige, der dies erschaffen hatte, sich besondere Mühe bei seiner Arbeit gegeben hätte, er hatte es nur in aller Eile grob herausgehauen. Sah man dahingegen nach Norden, so war es eine ganz andere Sache. Hier sah das Land so aus, als sei es mit der größten Liebe geformt. Auf der einen Seite sah man lauter schöne Berge, sanfte Täler und silberblanke Flüsse, bis ganz hinab nach dem großen Wetternsee, der eisfrei und glänzend klar dalag und schimmerte,

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