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Politische Rhetorik der Gewalt. Dr. Detlef Grieswelle
Читать онлайн.Название Politische Rhetorik der Gewalt
Год выпуска 0
isbn 9783844281552
Автор произведения Dr. Detlef Grieswelle
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Gemessen an der früheren bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts und des räsonierenden Publikums der gesellig miteinander verkehrenden interessierten, informierten und gebildeten Privatleute hat sich die Öffentlichkeit in der modernen Massengesellschaft nicht nur zahlenmäßig ausgeweitet, sondern sich parteien- und verbändepluralistisch ungeheuer diversifiziert und in zahlreiche Machtkomplexe organisierter Teilöffentlichkeiten fragmentiert, die ihre Interessen an marktgängiger Publizität mit kommunikativer Professionalität verfolgen. Obwohl im Verständnis demokratischer Kultur die politische Mündigkeit nicht nur Einzelnen oder kleinen Gruppen zugestanden wird, sondern etwas darstellt, was alle zu gleichen Teilen besitzen, zeigen sich in der sozialen Wirklichkeit doch beträchtliche Chancenunterschiede für öffentliche Partizipation und Einflussnahme. Bei allen normativen Bedingungen politischer Öffentlichkeit wie Meinungs- und Informationsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usf. und dem Verbot an den Staat, den Bürgern den „Mund zu verbieten“, ist öffentliche Meinungsbildung in hohem Maße an kollektive Organisationen und die Macht der Medien, Parteien und Verbände gebunden. Frei diskutierende Privatleute der bürgerlichen Öffentlichkeit sind nicht mehr in der Lage, politische Herrschaft zu kontrollieren und ihre Entscheidungen zu beeinflussen, es fehlt ihnen an Zeit, an Macht und Kompetenz; die Großorganisationen haben viel größere Durchsetzungschancen, sie haben sich der Öffentlichkeit bemächtigt, sie prägen die Willensbildung. Politische Diskussionen werden wenig von Privatleuten, sondern vor dem Publikum der Privatleute geführt, staatsbezogen agierende Mächte wie Parteien, Verbände und Massenmedien halten mit ihren professionellen Apparaten den Bereich der Öffentlichkeit weitgehend besetzt. Politisches Öffentlichkeitsmarketing ist vor allem Teil der Partei- und Staatsrollen, auch der großen Interessenorganisationen, insbesondere der Spitzenverbände. Zu den Akteuren der Interessenartikulation gehören auch kulturelle Einrichtungen, „public interest groups“, die Kollektivgüterinteressen vertreten (Umwelt, Verbraucherschutz), Kirchen, karitative Verbände, auch weniger organisierte und vermachtete soziale Bewegungen und spontane Vereinigungen.
Für eine rhetorische Betrachtungsweise über Öffentlichkeit und öffentliche Meinung trifft es sich gut, dass öffentlichkeitssoziologische Analysen20, wie wir sie diskutieren, dem rhetorischen Ansatz verpflichtet sind und sich häufig expressis verbis hierauf beziehen. Moderne Öffentlichkeit ist entsprechend diesem Modell ein relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem Akteure (Sprecher) mit ihren Kommunikationsbeiträgen in der Regel über Massenmedien und ihre Foren/Arenen versuchen, beim Publikum Aufmerksamkeit und Zustimmung zu finden. Alle wesentlichen Fragen der Rhetorik wie das Sozialkapital eines Redners in Form beispielsweise von Prominenz und Prestige, die eingesetzten Thematisierungs- und Überzeugungsstrategien, verschiedene Kommunikationsstile, das Vertrauen des Publikums in Medien und Öffentlichkeitsakteure, die unterschiedlichen sozialen Strukturen und Segmentierungen des Publikums, die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Meinungsbildung des Einzelnen usf. finden in der Öffentlichkeitssoziologie Beachtung. Besonders betont wird, dass in der modernen Mediengesellschaft die Grenzen des Publikums schwer bestimmbar sind, die prinzipielle Unabgeschlossenheit konstitutiv ist. Entsprechend ist in einem solchen Kommunikations-system die Meinungs- und Willensbildung schwer zu steuern. Weiterhin ist vor allem zu beachten, dass das Publikum, auf das sich die Interessen der Öffentlichkeitsakteure richten, in demokratisch-marktwirtschaftlich verfassten Ordnungen vor allem als Elektorat und Kundschaft strategische Bedeutung hat. „Die politischen Interessen ergeben sich für die Sprecher aus dem strategischen Stellenwert des Publikums als Elektorat, die ökonomischen Interessen für die Medien aus dem Umstand, dass das Publikum sowohl die eigene Kundschaft darstellt als auch die Kundschaft jener Interessenten enthält, für die die Medien als Werbeträger dienen. Insoweit stellt sich Öffentlichkeit für Sprecher und Medien als ein Markt dar, und dieser Markt wird bestimmt durch Konkurrenzen“21.
Außerdem gilt es festzuhalten, dass im Rahmen des Forumsmodells der soziologischen Öffentlichkeitstheorie „öffentliche Meinung“ nicht zu verstehen ist im Sinne individueller Einstellungen bzw. Meinungen der Bevölkerung, sondern von Meinungen, die in öffentlicher Kommunikation geäußert werden und die von einem mehr oder weniger großen Publikum wahrgenommen werden können. „Öffentliche Meinung“ bezieht sich also nicht auf Bevölkerungsmeinung, sondern auf medial vermittelte Meinungsäußerung von Sprechern vor einem Publikum. Weiterhin ist „öffentliche Meinung“ nicht einfach die Summe aller öffentlich geäußerten Meinungen, sondern jenes kollektive Produkt von Kommunikation, das durch Fokussierungen auf Themen und Synthetisierung von Meinungen hohe Konsonanzgrade aufweist, bisweilen sogar herrschende Meinung darstellt mit normativer Kraft, die also bei Abweichung eines Sprechers eine Mehrzahl anderer Sprecher zu Widerstand und Gegnerschaft veranlasst. Die Menschen bilden zwar ihre eigene Meinung in hohem Maße an der öffentlichen Meinung, sie orientieren sich dabei aber häufig nicht an der Wirklichkeit, sondern an ihren Eindrücken von öffentlicher Meinung und vor allem herrschender Meinung, und überschätzen oft sowohl deren Konsonanz wie auch deren Überzeugungskraft auf das Publikum.
Was nun die Akteure in moderner Öffentlichkeit betrifft, so ist es in der Regel eine Minderheit von Sprechern, die sich an eine große Mehrheit von Zuhörern wendet. Moderne Kommunikationsmittel haben Kommunikationszusammenhänge mit großen Teilnehmerzahlen ermöglicht, das bedingt per se eine Ungleichheit von Sprecher- und Hörerrollen.
Neben dieser fundamentalen Ungleichheit gibt es Ungleichheiten zwischen Sprechern, die als Asymmetrien in Kommunikationen bezeichnet werden. Drei Grundformen lassen sich unterscheiden. Zunächst einmal gibt es Ungleichheiten der Sichtbarkeit und Vernehmbarkeit, des jeweiligen Anteils am öffentlichen Raum; manche Teilnehmer sprechen häufiger oder länger als andere, erreichen einen größeren Adressatenkreis, empfangen mehr Aufmerksamkeit, bekommen also mehr Raum in der öffentlichen Sphäre. Zweitens gibt es Ungleichheiten des Einflusses, wobei Redemacht und Akzeptabilität von Aussagen auf der jeweiligen Überzeugungskraft der Rede, unabhängig von der Person, beruhen oder aber – wie häufig – auf Wahrnehmungen und Wertungen der Person bzw. ihrer Rollen und ihres sozialen Status, indem ihnen z. B. Wissen und Sachkompetenz, kollektive Repräsentation, moralische Führerschaft oder charismatische Qualitäten zugerechnet werden. Und drittens gibt es strukturelle Asymmetrien der Wissensverteilung in Kommunikationen, in Form von Informationsvorsprüngen in Themengebieten, von spezialisiertem Wissen, von kognitiven Stilen und Denkweisen etc.
Auch ist festzuhalten, dass soziale Stratifikations- und Machtstrukturen entscheidend die Einflusschancen bestimmen, vor allem die Verfügung über ökonomische Ressourcen und politische Machtpositionen. Die Verfügung über ökonomische Ressourcen ermöglicht es, eigene Botschaften über viele Kanäle zu verbreiten, Öffentlichkeitsspezialisten mit effektiver Formulierung und Präsentation zu beauftragen, Einrichtungen der Massenkommunikation auf direkte oder indirekte Weise zu beeinflussen. Politische Machtpositionen haben in der Regel beträchtliche Mittel für Öffentlichkeitsarbeit, erhebliche Informationsmonopole und vor allem Aufmerksamkeitsvorteile. Die Medien erwarten ja Themen und Meinungen, mit denen sie beim Publikum Aufmerksamkeit gewinnen, die politischen Sprecher Publizität für die Durchsetzung ihrer Themen und Meinungen.
Die politischen Sprecher haben konsequenterweise den zentralen Code des Mediensystems Aufmerksamkeit/Nicht-Aufmerksamkeit zu beachten. Informationen aus der Umwelt des Mediensystems – auch aus der Politik – werden wesentlich nach diesem Kriterium selektiert. Die Faktoren