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Insel der Vergänglichkeit. George Tenner
Читать онлайн.Название Insel der Vergänglichkeit
Год выпуска 0
isbn 9783750279124
Автор произведения George Tenner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
1. Kapitel
Ein Mittwoch im Juni 2008
Ben Thun war gerade dabei, die Mutterstute mit dem Fohlen auf die Weide zu stellen, als ihn das Geräusch eines anfahrenden Autos erreichte. Er drehte den Kopf, sah, dass ein Streifenwagen der Polizei auf das Grundstück fuhr und vor dem Haus anhielt. Mit einem Klick löste er den Führstrick vom Halfter der Stute. Sie drehte sich um, und Mutterstute samt Fohlen begannen einen Aufgalopp über die Weide.
Ben schloss das Gatter und ging auf die beiden Polizisten zu. »Was verschafft mir diese Ehre?«, fragte er.
»Herr Thun? … Gerd Thun?«
»Ich bin der Sohn. Mein Vater ist auf Reisen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Es gibt eine Anfrage der Schweriner Polizei. Ihr Vater wird für eine Befragung gebraucht«, sagte einer der beiden Polizisten.
»Aus Schwerin? Worum gehtʼs da?«
Der Polizist zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich auch nicht. Es geht um eine Zeugenaussage.«
»Ich gebe Ihnen die Handynummer meines Vaters. Da können sich Ihre Kollegen mit ihm in Verbindung setzen.« Er nannte die Nummer, die einer der Polizisten notierte. Die Polizisten verabschiedeten sich und fuhren davon.
Ben ging ins Haus zurück. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer seines Vaters.
Als sich der Rufton des Smartphones in Gerd Thuns Wagen bemerkbar machte, schaute er kurz auf das Display und aktivierte die Freisprechanlage.
»Ben … Grüß dich. Gibtʼs Probleme mit den Pferden?«
Ben Thun lachte. »Mit den Pferden ist alles in Ordnung. Aber die Polizei war gerade hier.«
»Die Polizei?«
»Sie brauchen dich für eine Zeugenaussage.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das konnten sie mir nicht sagen. Die Anfrage kommt aus Schwerin. Ich habe ihnen deine Handynummer gegeben, sie werden sich bei dir melden. Aber was in Gottes Namen gibt es in Schwerin, was du in irgendeiner Art und Weise bezeugen könntest?«
»In Schwerin, nichts.«
»Dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht.«
»Aber Ben, denk doch einmal nach. Wer wohnt denn in der Zuständigkeit des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern?«
Als sein Sohn nichts sagte, fasste der alte Thun nach. »Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern … Denk an deine Halbschwester.«
»Suzanne …«
Gerd Thun hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Suzanne war seine außereheliche Tochter. Offiziell hatte er von ihrer Existenz erst vor einigen Jahren erfahren, als er aus seiner Vita »Das Haus nahe des Strandes« in Bergen auf Rügen gelesen hatte. Damals hoffte er, dass die Makowskis, die inzwischen in den Norden der Insel gezogen waren, von dieser Lesung erfahren hatten und gekommen waren, um zu hören, ob er etwas von seinen Erfahrungen aus der Jugendzeit preisgab. Aber das war nicht der Fall gewesen. Eine weit entfernte Freundin Rosa Makowskis hatte Thun erkannt. Sie winkte ihm kurz zu. Daraufhin sprach er sie an. Er gab dieser Frau seine Karte, bat darum, Rosa in seinem Auftrage zu bitten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Er wollte ein Zeichen der Versöhnung setzen. Alles hat seine Zeit. Zeit, so sagt man, heilt alle Wunden.
Rosa hatte sich tatsächlich mittels einiger E-Mails mit ihm in Verbindung gesetzt und ihrer Tochter Suzanne Kontakt ermöglicht.
Das erste Treffen zwischen Suzanne und ihm fand in einem italienischen Restaurant in Berlin Weißensee statt. Das war vor sieben Jahren gewesen. Doch bei genauer Überlegung waren die Kontakte über die ganzen Jahre immer sehr fragil geblieben.
Auf einer Lesereise, die ihn nach Tornesch im Norden von Hamburg, Leer in Ostfriesland, Oldenburg und wieder Hamburg führte, hatte er sich bei der Rückfahrt nach Prätenow am 27. April mit Suzanne in Stralsund getroffen. Wieder hatten sie bei einem Italiener, in der Osteria Dell‘Oca am Neuen Markt, gespeist. Suzanne hatte das Lokal ausgesucht. Während er Grigliata Di Pesce Misto, verschiedene gegrillte Fischfilets, bestellte, bestand Suzanne darauf, ihre Scampi nur mit Spaghetti zu ordern. Alle Versuche, sie zu einem höherwertigen Angebot zu bewegen, liefen ins Leere.
Doch kam eine sehr angeregte Unterhaltung zustande, bei der sie auch über die Beziehung sprachen, die Suzanne seit ihrem plötzlichen Wegzug aus Berlin zu einem Mann in Stralsund unterhielt.
Erst am Vorabend hatte Thun die Adresse ihrer Wohnung und den Namen des Mannes erfahren, mit dem sie jetzt lebte.
Das Haus lag ganz in der Nähe der Osteria Dell‘Oca in der Umgebung des Katharinenbergs, neben einem historischen Bürgerhaus, in dem in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein beachtliches Fuhrgeschäft mit dem Namen Schulz residierte. Gerd Thun erinnerte sich nicht mehr an die Hausnummer. Suzanne hatte sie doch genannt. Er dachte daran, dass das Alter immer mehr und mehr seine Erinnerungen trübte. Speziell die Kurzzeiterinnerungen. Aber eben nicht nur die. Wie alle Menschen seines Alters fürchtete er den Namen Alzheimer, ganz besonders in Verbindung mit dem Wort Krankheit.
»Du meinst, es hat etwas mit Suzanne zu tun?«, unterbrach Ben seinen Gedankenfluss.
»Das ist die einzige Möglichkeit.« Gerd Thun dachte an eine der letzten WhatsApp-Nachrichten, die er von Suzanne bekommen hatte.
»Bitte, kannst Du mir helfen? Ich hasse mein Leben.«
»Und?«, drängte Ben.
»Ich habe ein ungutes Gefühl. Es hat einige Hinweise gegeben, die ich als Warnsignale registriert hatte.« Er sagte ihm, was sie ihm geschrieben hatte, und fuhr fort: »Das betraf auch dich. Sie hat immer wieder versucht, Kontakt zu dir zu bekommen.«
»Du weißt, warum ich da abgeblockt habe. Ich hatte weiß Gott genug eigene gesundheitliche Probleme. Da konnte ich es einfach nicht ertragen, länger vollgenölt zu werden als unbedingt nötig. Und sie konnte sich einfach nicht kurzfassen.«
»Warte kurz. Ich fahre gleich auf einen Parkplatz.« Gerd Thun fuhr auf den nächsten Autobahnparkplatz, stellte den Motor ab und rief Suzannes WhatsApp-Konto auf. Ein Blick auf das Icon gab ihm einen Stich ins Herz.
Ein »Danke« oder ein »Es ist schön, dass es Dich gibt« ist so viel mehr wert als etwas Materielles. Er öffnete die Nachrichten.
»Bitte, kannst Du mir helfen? Es geht nicht um Geld. Ich hasse mein Leben.«
Es geht nicht um Geld. Den Teil hatte er vergessen. Aber genau dieser Teil der Nachricht war es gewesen, der alle seine Warnlampen blinken ließen.
»Warum hasst Du Dein Leben??«, hatte er mit zwei roten Fragezeichen zurückgeschrieben. Ein Emoji zwinkerte zwischen den zwei S. Damit wollte Thun ein wenig Spannung aus der Nachricht nehmen. Der Versuch ging nach hinten los.
»Weil es so ist.«
»Und nun? Da gibt‘s nur eins, zu versuchen, dass man das Beste daraus macht.« Er setzte eine Hand mit erhobenem Daumen und ein Icon mit einem Herzen dahinter. Dann schickte er die Nachricht ab. Das war am 1. Mai um 15:34 Uhr.
Sechs Tage lang kam keine WhatsApp-Nachricht mehr von Suzanne bei ihm an. Doch am 7. Mai schrieb Thun: »So, ich bekomme meine Gesundheit langsam wieder in den Griff. Wie steht es bei dir?«
Dreizehn Minuten später kam die Antwort. »Was soll ich sagen? Alles gut.« An das Ende hatte sie ein Icon gesetzt, das schockiert schaut, bei dem kalter Schweiß von der Stirn tropft und der Mund entsetzt offensteht.
»Na, von gut sind wir sicher beide noch weit entfernt. Aber wir müssen es nehmen, wie es kommt. Ben liegt wieder auf der Nase.«
Drei Minuten später schrieb sie: »Rufe mich bitte an. Es kotzt mich immer an, zu schreiben.«
Diese Nachricht erreichte Thun erst am Morgen des