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schön“, schrie Betratos, „wer als Erster unten ist, der hat gewonnen.“

      „Abgemacht!“ Eolanee strich mit einem Finger über die Wurzel und zeigte ihr damit die gewünschte Richtung an. Der untere Teil begann rasend schnell zu schrumpfen, Fasern und Saft verlagerten sich. Das obere Teil begann ebenso rasant zu wachsen. Mit überraschender Geschwindigkeit wurden die beiden Kinder dem Boden entgegen getragen.

      Vielleicht war es ja nicht ganz fair, aber Eolanee setzte ihre besondere Fähigkeit ein, strich mehrmals verstohlen mit dem Finger über ihre Wurzel und gewann an Geschwindigkeit. Betratos merkte es, aber ihm fehlte Eolanees Gabe und seine Wurzel reagierte langsamer. Mit einem guten Meter Vorsprung setzte die Fünfjährige auf dem Boden auf.

      „Ich habe aber trotzdem gewonnen“, knurrte er enttäuscht.

      „Hast du nicht.“ Eolanee stemmte die Hände in die Hüften. „Meine Wurzel und meine Füße haben den Boden zuerst berührt.“

      Betratos grinste sie an. „Mag sein. Aber ich war der Erste. Es hieß ja, wer als Erster unten ist und nicht, wer als Erste unten ankommt. Der Junge gewinnt und du bist ja ein Mädchen.“

      Eolanee war für einen Moment sprachlos und das wollte schon etwas heißen. Gerade, als sie einen passenden Fluch gefunden hatte, hörte sie jedoch den fordernden Ruf ihrer Mutter.

      „Na warte, Betratos, das bekommst du noch zurück“, versprach sie ihm und erntete dafür nur ein fröhliches Lachen.

      Der Kegelbaum, in dem sich ihr Haus befand, war nicht der Einzige. Die kleine Siedlung von Ayan bestand aus einigen Dutzend dieser mächtigen Gebilde, die sich in unregelmäßigen Abständen erhoben und die anderen Bäume des Waldes noch ein Stück überragten. Der Wald von Ayan war groß und bestand aus einer Vielzahl von Laub- und Nadelbäumen, doch die Kegelbäume schienen Alles zu beherrschen. In ihrem Schatten wuchsen Moose und Pilze und da die Bäume und ihre Wurzeln viel Raum beanspruchten, standen sie weit auseinander. So gab es große Flächen mit Gras und Farnen, zwischen denen eine Vielfalt von Wildblumen wuchs. Kleintiere huschten umher, suchten nach Würmern und Insekten und mieden dabei sorgsam die Nähe der Fangwurzeln. Der Morgennebel war gewichen, aber das Tau nässte Gräser und Blumen und Eolanee genoss es, wie ihre nackten Füße den Boden berührten. Sie konnte ein schadenfrohes Kichern nicht unterdrücken, als Betratos auf einen harten Ast trat und einen Moment fluchend neben ihr her humpelte. Vergnügt hasteten sie unter dem eigenen Kegelbaum hervor, auf den Rand des Feldes zu, wo die anderen Mitglieder der Dorfgemeinschaft von Ayan bereits warteten.

      Das Tal war sehr groß und lang gestreckt. Am östlichen Talrand floss der kleine Fluss träge vorbei, dessen Wasser im Licht des neuen Tages silbrig schimmerte. In seiner Nähe lag das Feld, zu dem die Dorfbewohner Bewässerungsgräben angelegt hatten. Dieses Feld nahm fast ein Drittel des Tals ein und zog sich in einem sanften Bogen vom Norden über den Osten nach Süden. Der gesamte Westen des Tals blieb dem großen Wald vorbehalten.

      Da die Erntezeit gekommen war, standen die goldenen Ähren in voller Blüte und beugten sich unter dem Gewicht des Korns. Im sanften Wind glichen sie einem wogenden Meer, welches den erwachsenen Enoderi bis knapp über die Knie reichte. An den Spitzen der Getreidehalme hatten sich die grünen Blüten bereits halb geöffnet. Ein Zeichen dafür, dass sie ihre Sporen sehr bald freigeben würden.

      Eolanee und ihr Spielgefährte Betratos waren die letzten, die am Rand des Feldes eintrafen. Die Gemeinschaft von Ayan stand in andächtigem Schweigen, hielt Sensen, Körbe und Karren bereit, um endlich mit der Ernte zu beginnen. Aber noch war es nicht so weit, noch fehlte der Segen der Baumhüterin. Vielleicht wartete die geachtete Hüterin noch auf ein Zeichen der Göttin oder, was Eolanee verlegen erröten ließ, darauf, dass nun ihre Schutzbefohlenen endlich vollzählig waren.

      Während ihre Mutter Nehela sie mit Verständnis ansah, blickte ihr Vater eher streng und wies mahnend auf die Baumhüterin. Diese sah Eolanee und Betratos kurz an, seufzte unmerklich und breitete dann ihre Arme aus. „Ich, Neredia Ma´ededat´than, die oberste Hüterin und Führerin der Bäume von Ayan, heiße den Wind willkommen. Möge die Frucht der neuen Saat den ewigen Kreislauf des Lebens fortführen.“

      Die Baumhüterin begann die rituellen Formeln der Ernte zu sprechen und die anderen Enoderi stimmten ein. Der Gesang menschlicher Stimmen begann das Tal von Ayan zu erfüllen. Die Kegelbäume reagierten auf die Laute und begannen ihre Fangwurzeln zu schwingen. Eine eigene Melodie entstand, die sich mit jener der Menschen vermischte. Dies war der Klang des Waldes, der das Leben der Bäume und ihrer Bewohner begleitete und bestimmte. Neredia, die Hüterin der Bäume Ayans, hatte ihre Augen nun andächtig geschlossen und stand mit ausgebreiteten Armen. Eine tiefe Falte auf ihrer Stirn verriet die Intensität, mit der sie ihre Sinne auf den richtigen Augenblick konzentrierte.

      Die Nähe zum Gebirge und die Beschaffenheit des Tals sorgten dafür, dass meist ein leichter Wind ging, der im Sommer die größte Hitze nahm. Er strich über das Tal auf die Berge zu und nur ein einziges Mal im Jahr wechselte er die Richtung. Dann wurde er stärker und kam von den Spitzen der Berge herab, glitt über das Tal hinweg nach Norden. Das war die Zeit der Blüte. Der Hauch des Windes streifte dann die geöffneten Blüten und führte den Samen der Pflanzen mit sich. So konnten sich die Pflanzen ausbreiten und weiter bestehen. Die Ernte durfte nicht zu früh einsetzen, so dass die kommende Generation des Getreides nicht gefährdet war. Auf diese Weise blieb der Kreislauf des Lebens erhalten. Die Baumhüterin würde über den richtigen Moment entscheiden.

      Eolanee hielt die Hand ihrer Mutter und konnte ihre Ungeduld kaum zügeln.

      „Es ist noch nicht so weit, Eolanee“, sagte Nehela mit leiser Stimme, damit die Baumhüterin nicht in ihrer Andacht gestört wurde. „Wir müssen noch warten.“

      „Worauf?“ Eolanee sah ihre Mutter mit großen blauen Augen an, die alle Unschuld der Welt beinhalteten. „Der Hauch des Windes ist da und die Blüten haben sich geöffnet.“

      „Aber noch nicht alle. Manche öffnen sich früh, die anderen folgen nach.“ Nehela ging ein wenig in die Hocke, damit sie Eolanee leichter in die Augen sehen konnte. „Wenn wir die Pflanzen zu früh ernten, dann haben einige ihren Samen noch nicht abgegeben. Wir würden sie töten und sie hätten keine Nachkommen. Der Kreislauf des Lebens wäre unterbrochen und das darf nicht geschehen.“

      „Aber wenn der Wind ihren Samen ergriffen hat, dann töten wir sie doch auch. Wo ist da der Unterschied?“

      „Wir können nicht auf Nahrung verzichten, Eolanee. Dadurch würden wir uns selber töten und auch das wäre nicht richtig. Wir töten nur, wenn wir es für unser Überleben müssen und wenn wir das tun, wie bei dieser Ernte, dann achten wir darauf, dass der Kreislauf des Lebens nicht unterbrochen wird.“

      „Aber die Pflanzen können doch auch so sterben. Letzten Sommer hat der Blitz in ein Feld eingeschlagen und viele Getreidepflanzen verbrannt.“ Eolanee sah Betratos und streckte ihm rasch die Zunge heraus. „Da ist dann doch auch der Kreislauf des Lebens unterbrochen.“

      „Weil die Große Schöpferin es so gefügt hat.“ Nehela schüttelte den Kopf. „Du hast dein Gewand beschmutzt.“

      „Hm?“ Eolanee errötete. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, dass Brot und Käse hinter ihrem Gürtel steckten und beides war inzwischen zerkrümelt und hatte Flecken in ihrer Toga hinterlassen.

      Ein goldener Schimmer schien sich über dem Feld auszubreiten, als die grünen Blüten nun ihre Pollen abstießen und diese mit dem Wind zu treiben begannen. Einige der Samenschirmchen kitzelten Eolanee in der Nase und sie nieste heftig, was ihr einen spöttischen Blick von Betratos eintrug. Für einen Moment schien die Sonne von den zahllosen Samen verdeckt zu werden, bis diese sich zu verflüchtigen begannen. Eolanee fragte sich unwillkürlich, wie weit einige von ihnen wohl vom Wind mitgeführt würden.

      Die Luft begann wieder klar zu werden. Die meisten der Pollen hatten sich auf dem Feld niedergelassen und Menschen und Pflanzen schienen von goldenem Staub bedeckt.

      Die Stimme der Baumhüterin erhob sich über den Gesang der Menge. „Wir alle sind ein Teil des Ganzen und müssen bedacht sein, zu bewahren und zu hüten und dafür zu sorgen,

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