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Stand der Sonne anpasste. Baumsaft trat aus den Blattadern, schimmerte im Licht und reflektierte es zu den im Schatten liegenden Bereichen. Unten, am Fuß des Stammes, wallten die letzten Morgennebel und begannen sich aufzulösen. Farne, Gräser und Moose wurden erkennbar, die um die Kegelbäume wuchsen.

      Das junge Mädchen sah zu den benachbarten Kegelbäumen hinüber, aber nur wenige Enoderi waren auf den umlaufenden Gängen. Die meisten Bewohner Ayans hatten sich offensichtlich früh zum Feld hinaus begeben, um der erwarteten Baumhüterin ihren Respekt zu erweisen.

      Der Kegelbaum ihrer Familie stand direkt am Waldrand und so hatte Eolanee einen guten Ausblick auf einen Teil der Felder und das große Ostgebirge, welches sich in der Ferne abzeichnete. Das letzte rote Glühen an seinen Flanken war nun dem hellen Tageslicht gewichen. Zwischen den Ausläufern des Gebirges und den Feldern zog sich das silbrige Band des kleinen Flusses entlang, nach dem Ayan benannt worden war und der hier eher einem munter plätschernden Bach glich, der zwar einige Meter breit war, doch Eolanee kaum bis an die Knie reichte.

      Eolanee trat an die hohle Wurzel, die in einer Ecke des Zimmers stand, strich mit einem Finger über die Einfassung und wartete. Der Kegelbaum erkannte ihren Wunsch. Tief im Boden begannen einige Wurzeln zu saugen, pumpten das Grundwasser in den Stamm hinauf, bis sich das hölzerne Becken mit klarem Wasser gefüllt hatte. Eolanee führte nur die notwendigste Morgenwäsche durch. Immerhin hatte ihre Mutter sie ja zur Eile ermahnt. Sie sagte sich, dass es besser mehr Zeit für das Frühstück aufwenden sollte, als mit ihrer persönlichen Reinigung, da es mit nüchternem Magen nur eine schlechte Erntehelferin sein würde. So trocknete sie sich ab, schlüpfte in ihre Tunika und schlang sich den geflochtenen Gürtel aus Pflanzenfasern um die Hüften. Zwei geschnitzte Holzfiguren hakten ineinander und verschlossen ihn. Sorgfältig zupfte Eolanee ein paar Falten glatt. Noch während sie den Raum verließ, spülte der Baum das Becken aus und sog das Wasser wieder in sich auf, wo es in seinen Kapillaren gereinigt wurde.

      Das Volk der Enoderi lebte seit Urzeiten in den mächtigen Kegelbäumen. Nur im Land der Enoderi stieß man auf diese eigenartigen Gewächse und niemand wusste wirklich zu sagen, ob die Kegelbäume mehr Pflanze oder mehr Tier waren. In jedem Fall waren es einzigartige Wesen, darüber waren sich alle Enoderi einig und ebenso einzigartig war die Symbiose, welche ihr Volk mit den Bäumen verband.

      Eigentlich waren die Kegelbäume Raubpflanzen. Ihre Schösslinge nisteten sich in der Rinde eines anderen Baumes ein, begannen von dessen Lebenskraft zu wachsen und ihn zu überwuchern. Dabei bildeten sie ein dichtes Wurzelgeflecht um den Stamm der anderen Pflanze, so dass diese schließlich in einer hölzernen Röhre stand, die immer dicker und höher wurde. Diese Röhre umhüllte schließlich auch die Krone, was der Raubpflanze zu ihrem typischen Kegel verhalf. Irgendwann starb der umwachsene Baum ab und der Kegelbaum entwickelte seine einzigartige Struktur. Am Boden mit einem schlanken Zentralstamm, dessen Geflecht inzwischen zu einer undurchdringlichen Borke geworden war und darüber mit einem immer weiter ausladenden Kegel, der oben in einer flachen Plattform endete.

      Innerhalb des Baumkegels bildeten sich zahlreiche Hohlräume, welche die Enoderi für ihre Wohnräume verwendeten. Sie nutzten die natürlichen Strukturen des Kegelbaums und wo diese nicht ausreichten, bauten sie neue hinzu, mit denen sich die Bäume bereitwillig verbanden. Die Kegelbäume halfen den Enoderi, indem sie sich deren Wünschen anpassten. Im Gegenzug pflegten die Enoderi die Bäume und schützten sie vor Schädlingen. Denn so mächtig der Kegelbaum auch war, es gab Feinde, die in ihn eindringen und ihn töten konnten. Mancher Baum war gestorben, der nicht die helfenden Hände einer Baumhüterin gefunden hatte. Die komplexen Zusammenhänge der Symbiose wurden den Enoderi von Kindesbeinen an vermittelt, denn sie waren die Grundlage ihres Lebens.

      Von ihrem Schlafraum trat Eolanee direkt in den Wohnraum der Familie. In diesem Kreissegment befand sich die Kochstelle und der Schlot des Kamins mündete in dem mächtigen Stamm, ohne ihn zu gefährden. Eolanees Vater hatte sorgfältig nach dem Loch eines abgestorbenen Astes gesucht und der Baum hatte es bereitwillig erweitert. Die Glut einer Fackel hatte dem mächtigen Stamm den Wunsch des Baumbewohners angezeigt. Harz war in das Innere des abgestorbenen Astes gesickert, hatte sich verfestigt und einen feuerfesten Belag gebildet.

      An diese Dinge dachte Eolanee jedoch nicht, als sie zur Kochstelle ging und in den Topf hinein sah. Sie stieß einen missmutigen Laut aus und schloss den Deckel wieder. Auf dem Tisch sah sie etwas Brot und Käse liegen und so ging sie hinüber und setzte sich. Die hölzernen Möbel waren fest mit dem Baum verwachsen und so spürte dieser Eolanees Größe und Gewicht und passte sich ihren Bedürfnissen an. Der Hocker wuchs ein wenig in die Höhe und aus seinem Sitz schob sich ein weiches Polster aus grünen Trieben.

      Auf dem Tisch standen ein Krug und mehrere Becher, die aus Lehm gebrannt waren. Manche Enoderi benutzten hölzerne Trinkgefäße, doch das Mädchen mochte diese nicht. Jenes Holz fühlte sich nicht gut an. Nicht lebendig und warm, wie das eines lebenden Baumes, sondern kalt und tot.

      „Eolanee?“

      Sie sprang auf und sah aus dem Fenster. Für einen Moment wankte sie und wäre fast gestürzt, denn der Baum war von ihrer Bewegung verwirrt und entschloss sich schließlich, den Hocker wieder zu schrumpfen. Eolanee, die soeben noch über den Fensterrahmen spähen konnte, sackte nach unten. Aber der kurze Blick hatte genügt, um Betratos zu erkennen.

      „Ich komme“, rief sie fröhlich, steckte etwas Brot und Käse in ihre Tunika und hastete aus dem Wohnraum zum Rundgang.

      Jede Wohneinheit eines Baums war von einem schmalen Balkon umgeben. Einem hölzernen Weg mit zierlich erscheinendem Geländer, auf dem man den Baum vollständig umrunden konnte. Von hier aus konnte man bequem die Fangwurzeln ergreifen, die von der Dachkrone des Kegels herab hingen. Der Zentralstamm war nicht mehr als ein kraftvoller Ständer, auf dem alles Gewicht ruhte. Seine Bodenwurzeln erschlossen ihm das notwendige Wasser, aber sie waren alleine nicht in der Lage, den riesigen Baum mit Nährstoffen zu versorgen. Die Mineralstoffe im Boden reichten in seiner Jugend, doch nicht, wenn er seinen Kegel entwickelte. Dafür hatte der Baum seine langen Fangwurzeln, die von der oberen Baumkrone hingen und bis in den Boden hinabreichen konnten. Sie waren beweglich, spürten ebenfalls nach Mineralien und Wasser, und verschmähten auch Tiere nicht, um den Baum zu ernähren. Mit diesen Fangwurzeln konnte ein Kegelbaum auch größere Lebewesen ergreifen und so war er ein zuverlässiger Schutz, wenn seine Bewohner einmal von einem Raubtier bedroht wurden.

      Der Bedarf der mächtigen Pflanzenwesen an Nährstoffen war hoch. Ohne ihre Bewohner würden sie den umgebenden Boden in einigen Jahrhunderten ausgelaugt haben. Dann müssten sich die Stämme aus dem Boden lösen, die Fangwurzeln würden stärker und länger werden, bis sie das Gewicht der Bäume tragen und diese bewegen konnten. Doch die Symbiose mit den Enoderi machte dies überflüssig. Waldobst, Beeren und ein Teil der Getreideernte düngten regelmäßig den Standplatz der Kegelbäume.

      Eolanee ließ eine Hand behutsam über den Handlauf des Geländers gleiten. Jetzt, zur Erntezeit, hatte der Baum hier empfindliche Blüten gebildet und das Mädchen wollte die zarten Gebilde nicht beschädigen. Bienen und Schmetterlinge summten und schwirrten umher und zogen ihre Aufmerksamkeit für ein paar Augenblicke auf sich.

      „He, wo bleibst du?“, drängte Betratos Stimme.

      Betratos war einer von Eolanees Spielgefährten und in ihrem Alter. Eigentlich war er der Spielgefährte Eolanees, denn er liebte es wie sie, den anderen gelegentlich einen Streich zu spielen. Oft forderten die beiden Kinder dabei die Toleranz der Älteren heraus und gelegentlich mussten sie als Strafe zur Baumhüterin. Diese ließ sie Baumkäfer suchen, statt die Kinder unbeschwert herum tollen zu lassen. Doch trotz ihrer Strenge liebte Eolanee die Hüterin der Bäume.

      Betratos wohnte zwei Ebenen über Eolanees Familie. Er hatte sich bereits eine Fangwurzel geangelt und hielt sich an einer Schlaufe fest, welche die Wurzel rasch gebildet hatte. „He, komm schon, du bist mal wieder spät dran. Die anderen stehen alle schon mit der Baumhüterin am Feld.“ Der Junge lachte fröhlich. „Hast du noch nicht bemerkt, dass der Wind da ist?“

      „Klar, habe ich das bemerkt“, sagte Eolanee und zog eine beleidigte Schnute.

      Sie schätzte die Entfernung ab, sprang vom Balkon und packte eine andere Wurzel.

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