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Der bittere Kuss meiner Mutter. Jan Carroll
Читать онлайн.Название Der bittere Kuss meiner Mutter
Год выпуска 0
isbn 9783752944334
Автор произведения Jan Carroll
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Wir spielten auch andere Sportarten, zum Beispiel Cricket und Tennis.
Gottseidank nahmen wir unseren Sport nie ernst – wir spielten nur, um Spaß zu haben − also spielten wir Cricket mit einem Tennisball. Wegen meiner schlechten Wurffähigkeit wurde ich in der Feldmannschaft zum Fänger eingesetzt. Als Werfer wurden diejenigen genommen, die kräftige Arme hatten und gezielt werfen konnten. Einmal spielte ich den Fänger und Mary Sue war Schlagmann. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund benutzte Mary Sue ein anderes Mädchen, um für sie zu rennen, sodass sie nach dem Abschlag nur grinsend dastand. Sie hatte schon viele Punkte gesammelt, aber diesmal traf der Ball sie vor dem Wicket am Bein.
„Aus!“, riefen wir im Chor. Sie bewegte sich nicht vom Fleck.
„Bein vor Wicket, Sue – du bist ‘raus!“
„Nein, bin ich nicht“, sagte sie gelassen und drehte sich in Erwartung des nächsten Wurfs zu dem Werfer um. Das wütende Schimpfen der kleinen Mädchenschar ignorierte sie.
„Na gut, dann lassen wir ihr den Vorteil des Zweifels.“
Der nächste Ball kam mit Wucht und sie versuchte, ihn abzuwehren und wegzuschlagen, aber traf daneben. Der Ball traf das Wicket und die Bails fielen herunter.
„Du bist ‘raus“, riefen wir ihr im Chor zu.
„Nein, bin ich nicht“, sagte sie.
Jede schrie, „raus, raus, raus“, aber Sue rührte sich nicht vom Fleck. Ich ging, um die Bails zu ersetzen und ließ die Stöcke provozierend vor ihrem Gesicht hin- und her pendeln. Wir starrten uns gegenseitig wortlos ins Gesicht. Sie drehte sich um und hob wieder ihren Schläger hoch – als Zeichen zum Weiterspielen. Ich ging in meine Feldspielerposition zurück. Der nächste Ball kam langsam und Sue wehrte ihn mit einem kräftigen Schlag ab. Ich brauchte mich nicht zu bewegen, sondern streckte nur meinen Arm aus, um den Ball lässig zu fangen. Die Mädchen hüpften hysterisch hoch und runter und schrieen:
„Diesmal bist du wirklich raus! Raus, raus, raus!“
Mary Sue rührte sich nicht. Sie war wie erstarrt. Während ich den Ball in der Hand hielt – wir warfen einen gefangenen Ball nie sofort wieder weg, sondern hielten ihn für eine Weile in der Hand – ging ich auf Mary Sue zu und sagte mit deutlich geformten Worten:
„Mary Sue, du bist ausgeschieden.“
„Ja“, sagte sie mit einem frechen Grinsen, „ich habe nur darauf gewartet, dass du es mir sagst.“
Wenn es regnete, spielten wir auf der Veranda Scharade. Es gab eine große Kiste gefüllt mit Kleidungsstücken, die als unsere Verkleidungen dienen sollten. In kleinen Gruppen besprachen wir im Flüsterton was wir pantomimisch darstellen wollten und gaben alles darum, dass die andere Gruppe es erraten würde. Zu dieser Zeit gab es noch kein Fernsehen. Die Ideen kamen daher aus Büchern, die wir gelesen hatten, oder aus Filmen, die wir gesehen hatten. Das Pantomime-Spiel gab solchen mit Schauspielertalent die Möglichkeit, sich unbefangen auszutoben – zur Befangenheit waren wir noch zu jung. Das Spiel hielt uns an Regentagen angenehm beschäftigt. Keiner beschwerte sich. Eigentlich jammerte nie jemand. Wir wurden nie gefragt, was wir wollten, wofür auch? Wir waren froh über das, was wir hatten.
Außer Wärme, ja, außer Wärme, denn es gab nur einen einzigen Heizkörper im Klassenzimmer. Jedes Jahr betete ich, dass ich ein Schulpult in der Wärme bekam. Einmal wurde mein Gebet erhört und ich saß ein Jahr lang neben dem Heizkörper. In den anderen Jahren mussten wir uns damit abfinden, unsere eiskalten Hände während der kurzen Pausen an der einzigen Heizung aufzuwärmen. Viele der Mädchen bekamen Frostbeulen. Madie und ich hatten die Schlimmsten. Ich erinnere mich, dass Madies Frostbeulen viel schrecklicher aussahen als meine. Sie hatte sie auch an ihren kleinen Füßen. Ihre waren aufgeplatzt und blutig, während meine ganz anders aussahen, irgendwie komisch. Nachdem die Röte und der Juckreiz aufgehört hatten, bildete sich eine große Blase, die ich mit einer Nadel vom Nähkasten vorsichtig aufmachte; die heraustretende Flüssigkeit lief über meine Hände und tropfte auf meinen Tisch. Meine Freundinnen standen um mich herum und schrieen angeekelt:
“Igitigitigit!“
Alles, was zurückblieb war die zusammengefallene Blase mit der roten Haut darunter. Mir fehlte der Mut, die übriggebliebene Blasenhaut abzuziehen. Nach dieser kleinen Operation wollte ich mir meine Hände waschen, aber um ins Badezimmer zu kommen brauchte ich den notwendigen Pass – ein flaches, farbiges Holzstück. Diese Sitte scheint heutzutage seltsam, aber damals machte es Sinn. Man konnte nur in das Badezimmer, wenn der Pass an seinem Platz hing. Wenn er nicht da war, wusste man, dass das Badezimmer besetzt war und wir mussten vor der Tür warten. Auch war es uns nicht erlaubt, unbeaufsichtigt in Gruppen ins Badezimmer zu gehen.
Als ich zurückkam, setzten Madie und ich uns zusammen, um meine aufgestochenen Frostbeulen zu untersuchen.
„Alles gut“, entschieden wir in Einigkeit. Ein paar Tage später war die Haut ausgetrocknet und fiel ab, aber schon bildete sich wieder eine neue Frostbeule an einem anderen Finger. Und so ging es im Winter immer weiter.
Das Leben im Klosterinternat war bestens organisiert und die Tage vergingen schnell. Jede Mahlzeit und jeder Tag begann und endete mit einem Gebet und jede Stunde des Tages war ausgefüllt mit Aktivitäten oder Lernen. Wir dankten Gott nicht nur für das, was wir erhalten würden, sondern auch für das, was wir schon hatten.
An allen Tagen außer einem wuschen wir uns mit kaltem Wasser. Für unser wöchentliches heißes Bad kamen die kleinen unauffälligen Schwestern, um uns den Rücken zu schrubben. Mir war nie aufgefallen, dass einige der Nonnen nicht viel älter waren als ich, denn irgendwie schienen sie mit ihren seltsamen Gewohnheiten aus einer ganz anderen Welt zu kommen. Glücklicherweise waren sie Mitglieder des Ordens des Heiligen Herzens − Sacré Coeur − welcher körperliche Züchtigung nicht erlaubte. Sie waren streng und hatten ihr Leben ihren jungen Schützlingen gewidmet.
Die Strafe für schlechtes Benehmen im Unterricht bestand darin, im Papiermülleimer zu stehen und zwar mit dem Gesicht zur Ecke und natürlich in Stille. Einige Male musste ich den Unterricht stehend im Papiermülleimer verbringen. Ich studierte die Wand vor mir, wie die Farbe langsam abblätterte und dabei interessante Muster bildete.
Der Religionsunterricht war regelmäßig mein Untergang. Wir sollten jeden Tag das Evangelium auswendig lernen, sodass wir es Wort für Wort herunterbeten konnten, wenn wir von einer Nonne gefragt wurden. Aus irgendeinem Grund blockierte ich. Wenn ich das Evangelium oder die Lektion des Tages rezitieren musste, stand ich auf und schaffte gerade die ersten zwei Sätze, bevor ich in eine kühne Stille verfiel. Einige meiner Klassenkameradinnen versuchten mir die nächsten Zeilen zuzuflüstern, aber ich weigerte mich stoisch auch nur ein weiteres Wort auszusprechen, an welches ich mich nicht selbst erinnern konnte. Es machte mir dagegen nichts aus, die Evangelien oder sogar den gesamten Sermon vorzulesen, aber dieses zusätzliche Rezitieren fand ich überflüssig. Keine Lilie brauchte zusätzliche Vergoldung und erst recht nicht die Lilie Gottes.
Es war völlig irrelevant, warum ich ungehorsam war. Da sich niemand die Mühe gab, nach dem Grund zu fragen, gab ich mir auch keine Mühe, es zu erklären. Ich war ungehorsam und das war’s.
Ich liebte alle anderen Fächer – mein Hunger nach Wissen war unstillbar. Ich liebte lesen, schreiben und rechnen und zähle mich heute zu denjenigen, die Glück hatten, in diesen Fächern noch richtig belehrt worden zu sein. Ich liebte auch die Rechtschreibung und war überrascht, dass andere sich damit schwer taten. Bei Rechtschreibspielen waren Lizzie Love und ich immer die Besten. Eigentlich gewann ich immer. Ich erinnere mich an das einzige Mal, als sie gewann – und dabei ging es nur um ein einfaches Wort – nämlich mit h oder ohne h. Die Einfachheit des Wortes brachte mich darum, es richtig zu buchstabieren.
Die Logik des Rechnens bereitete mir Freude und gab mir Zufriedenheit. Am liebsten löste ich Textaufgaben: Wenn ein Zug mit einer Geschwindigkeit von ... bla bla bla. Das war noch zu einer Zeit, als jeder Grammatik konnte und somit verstand auch jeder die Textaufgaben. Wie dem auch sei, Geometrie mochte