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der kurzen Zeit, in der er in der Volkskammer und im Bundestag tätig gewesen war, allerdings in sehr modifizierter Form, genossen hatte. Und die Koalitionsfreiheit, die sie sich bei der Gründung der Ost-SDP im Oktober 1989 einfach genommen hatten, ebenso, wie die Versammlungsfreiheit. Selbstverständlichkeiten für die Westdeutschen Brüder und Schwestern; welche in der Verfassung der DDR übrigens ebenso garantiert gewesen waren, wie im westdeutschen Grundgesetz. Nur hatte in den vierzig Jahren der sowjetischen Besatzungszeit niemand ausprobiert, ob man sie auch verwirklichen konnte. Erst als Gorbatschow Glasnost und Perestrojka verkündet und damit klar gemacht hatte, dass die Sowjetunion das Honecker-Regime nicht mehr stützen würde, war im Herbst 1989 die Probe aufs Exempel möglich geworden. Und deshalb spürte er die Wirklichkeit dieser Freiheiten jetzt beinahe körperlich.

      Wenn er es aber recht bedachte, war seine Rede- und Koalitionsfreiheit bereits im Bonner Wasserwerk erneut begrenzt worden. Weder in den Fraktionssitzungen, noch in den zwei einzigen Reden, die er dort vor dem höchsten deutschen Plenum halten musste, hatte er wirklich öffentlich sagen können, was seine tatsächliche Überzeugung zum Thema gewesen war. Es waren Rücksichten zu nehmen und Taktiken zu beachten! Und auch im freien Westen war „political correctness“ einzuhalten!

      Wenn er etwas richtig fand, was die Christdemokraten oder die PDS-Linken einbrachten, durfte er das nicht verteidigen, geschweige denn, mit ihnen gemeinsam abstimmen. Da war Fraktionseinheit geboten! Das konnte man vielleicht nicht direkt Fraktionszwang nennen, doch Wauer spürte den Gruppendruck deutlich und musste sogar einsehen, dass es anders auch schwierig würde. Dennoch störte ihn diese Art der freiwilligen Selbstzensur, die er auf noch wesentlich unangenehmere Weise aus der DDR-Zeit kannte, wo jedermann das Orwellsche „Zwiesprech“ gut beherrschen gelernt hatte.

      Das Gleiche setzte sich im Kreistag fort. Hier war es insofern schlimmer, als die Kreisräte formalrechtlich gar keine echte Legislative bildeten, sondern Mitglieder der Kreisverwaltung darstellten. Zwar war es hier einfacher, einen freien Redebeitrag zu einem der vorwiegend lokalpolitischen Probleme abzugeben, aber die Macht, die Verwaltung zur offenen Darlegung ihrer Vorhaben oder zur Öffnung ihrer Verträge und Protokolle zu zwingen, war in dieser Körperschaft noch eingeschränkter, als er das im Bundestag erlebt hatte. Daraus ergaben sich andauernde Auseinandersetzungen mit dem Landrat und seiner Verwaltung, bis hin zur Bemühung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die es inzwischen immerhin bereits gab.

      So versuchte Wauer jetzt vor allem, seine Gewerbefreiheit zu genießen. Seine „Sachsenprojekt GmbH“ entwickelte sich hervorragend. Bald musste er einen Bauleiter einstellen, welcher ihm die Arbeiten des Baucontrolling vor Ort abnehmen konnte. Das wiederum erforderte mehr Abstimmungsarbeit. Die Gewerbefreiheit erwies sich bald als eine ziemlich stressige Angelegenheit und irgendwie lief jetzt eben alles gänzlich anders, als in den volkseigenen Betrieben!

      Aber die Reisefreiheit! Mit seinem neuen Pass und dem neuen Geld hätte Wauer sogar nach Nordkorea reisen können. So weit wollte er aber gar nicht. Und vor allem reichte seine Zeit dafür nicht aus. Länger als eine Woche konnte er sein Planungsbüro überhaupt nie alleine lassen. Dennoch hoffte er, die großen Träume seiner Jugend, die Besteigung des Matterhorns, einen Besuch der Insel Helgoland, auf der Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied gedichtet hatte, und einen Besuch Roms, der ewigen Hauptstadt des Abendlandes, alsbald in die Tat umsetzen zu können.

      Zunächst war, wie verabredet, ein Besuch seines Cousins und dessen Familie in München geplant. Von da aus auf die Zugspitze zu gelangen, das war sein nächstes Ziel. Ostern 1993 sollte es unbedingt werden. Doch Robert war krank geworden und so war Wauer mit Sohn Lothar eine kurze Woche in die noch verschneiten Dolomiten zum Skilaufen gefahren. Sella-Ronda war ein großartiges und neuartiges „Ersatzerlebnis“ gewesen.

      Die Reise nach Bayern hatte dann aber doch im September jenes Jahres stattgefunden. Es war für ihn, Sibylle und ihren fast sechszehnjährigen Sohn Christian eine großartige Woche gewesen: Zum ersten Mal in ihrem Leben besuchten sie bei der Gelegenheit das weltberühmte Oktoberfest in München und wunderten sich über die dortigen astronomischen Preise. Dann fuhren sie mit der Zugspitzbahn bei herrlichstem Frühherbstwetter auf den höchsten deutschen Alpengipfel und unternahmen einige Bergwanderungen im Wettersteinmassiv, darunter Besuche im Höllental- und in der Partnachklamm. Ein Besuch Garmischs, Grainaus und eine Umrundung des Eibsees durften natürlich auch nicht fehlen.

      Das war Deutschland! Das waren die Gefilde, die sein Vater seit seiner Jugend gekannt und geliebt hatte und von denen er immer wieder die Schwarzweißabzüge seiner früheren Reisen und die neueren "Buntfotos" hervorgeholt hatte! Nach dieser Fahrt sah sich Wauer alle Bildbände an, die er vom Vater geerbt hatte, und konnte nun alles wiedererkennen.

      Mit der Reisefreiheit waren endlich auch sie, die Nachkriegsgeborenen Mitteldeutschlands, in der Lage, die westliche Hälfte des nach dem Krieg übrig gebliebenen deutschen Vaterlandes kennenzulernen. Wauer hatte eine Menge Ziele seines wiedervereinigten Vaterlandes im Kopf: Mosel und Rhein zuerst, Berchtesgaden und das Allgäu, Nord- und Ostfriesland und die Nordseeinseln, noch einmal den Schwarzwald und den Feldberg, wo er mit seinen Eltern noch vor dem Mauerbau als Zehnjähriger einen Kriegskameraden seines Vaters in Schramberg besucht hatte.

      Die Ostdeutschen fuhren im Gegensatz zu ihm jetzt überwiegend nach Italien und Spanien - wie einst die Westdeutschen in der Wirtschaftswunderzeit. Auch das würde er noch machen! Zunächst vielleicht London! Die britische Metropole, die er nach wie vor für die heimliche Welthauptstadt hielt, wollte er unbedingt kennen lernen. Doch an vorderster Stelle standen für ihn die westdeutschen Regionen. Nur fürchtete er, dass er bei all seiner Arbeit und seinen Verpflichtungen niemals genügend Zeit finden würde, seine unzähligen Reisewünsche auch nur annähernd verwirklichen zu können.

      2.

      Überhaupt war die Zeit nach seinem Empfinden nach der „Wende“ mit unglaublicher Geschwindigkeit dahingerast.

      Erst in seinem erzwungenen Ruhestand war ihm klar geworden, wie undeutlich er sich an die weltverändernden Ereignisse der neunziger erinnerte. Möglicherweise lag es an der Eigenwilligkeit seines Gedächtnisses, das ihm mit zunehmendem Alter eher Ereignisse seiner Kindheit präsentierte? Oder war es die Vielzahl der meist einschneidenden Begebenheiten jener Jahre, in der sowohl in der Bundesrepublik, wie auch „draußen“, eine politische Entscheidung die andere jagte und in der fast jeder Tag durch bedeutende Umbrüche vor allem im Osten Deutschlands gekennzeichnet war? Die Ereignisse in der übrigen Welt, besonders aber in Südeuropa und im Sowjetreich, hatte er dabei kaum wahrgenommen!

      Jetzt, wo er hier oben auf der „Ostrauer Scheibe“ in dieser Rehabilitationsklinik stationiert war, überraschend gut gepflegt und versorgt wurde und viele, wenn auch nur kleinere Spaziergänge unternehmen konnte, hatte er die Zeit, sein Leben nach dem Mauerfall noch einmal Revue passieren zu lassen.

      Wauer hatte in den neunziger Jahren mit dem Neuaufbau seiner Firma, der Pflege seiner todkranken Mutter, den Auseinandersetzungen in der Kreistagsfraktion und mit der teils überforderten, teils schon erste Anzeichen von Korruption zeigenden Landkreisverwaltung, eine solche Menge ganz alltäglichen Konfliktstoff um die Ohren gehabt, dass seine Tage vollständig ausgefüllt waren. Bei alldem hatte er das meiste verpasst, was damals außerhalb seines kleinen, sinnlich wahrnehmbaren Heimatkreises von vielleicht fünfzig Kilometern im Quadrat sonst noch passierte.

      Wenn er heute genauer wissen wollte, was damals, kurz nach der denkwürdigen Mitteilung zur "sofortigen Reisefreiheit" der DDR-Bürger durch Günter Schabowski und während seines mühevollen Einstieges in die so genannte „Freie Marktwirtschaft“ alles vorgefallen war, musste Wauer schon die vielfältig vorhandene, einschlägige Literatur, neuere historische Lexika, das umstrittene, seiner Meinung nach aber irgendwie geniale, „Wikipedia“ oder eine der anderen zahlreichen Quellen des Internets benützen, um sich eine einigermaßen verlässliche Übersicht über die jüngste deutsche, europäische und Welt-Geschichte zu verschaffen.

      Dass im Juli 1990 die nun vereinigte deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer, nach Bern 1954 und München 1974, in Rom erneut Weltmeister geworden war, hatte Wauer in jenem „Wahnsinnsjahr“ jedenfalls nur am Rande mitbekommen. Fußballweltmeister und Wiedervereinigung, ein fast unglaubliches

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