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      22

       Paul kam wieder zu sich, überall mit Blutspritzern bedeckt. Er kniete sich - vor Schock wie schläfrig benommen - neben Dad hin und starrte, noch vom früheren Schlag betäubt, ungläubig auf dessen blutgetränkte Leiche. Langsam erst dämmerte ihm die harte, schreckliche Realität.

       Zuerst erkannte er den Körper gar nicht und dachte, es wäre der Penner, der dort lag, von seinem großen Helden niedergestreckt. Erst als er zum Gesicht der Gestalt vor ihm hinauf blickte, erkannte er die Situation wie sie wirklich war.

       (Dad? Was...? Wie...? Wieso? WIE IST DAS MÖGLICH, GOTTVERDAMMT??? dachte Paul)

       Paul hatte plötzlich einen Impuls, gegen die Leiche zu treten. Noch mal und noch mal und noch mal. Dads totem Körper ins Gesicht zu schlagen und sich weinend auf seinen breiten, bewegungslosen Brustkorb sinken zu lassen und solange zu weinen, bis sein ganzer Körper keinen Tropfen Wasser mehr in sich haben würde und elendiglich neben seinem Helden verrecken würde.

       Er folgte diesem Impuls natürlich nicht, sondern setzte sich neben das, was von Dad noch übrig war und starrte ausdruckslos, abgestumpft, geschockt in die sternenbefüllte Leere, zum dunklen Horizont.

       Die Söhne konnten beide noch nicht glauben, was sie da sahen, sie wollten es nicht glauben, als sich die Gestalt über Dads Leiche beugte, die 50 Dollar aus seiner Brieftasche nahm, sich in Kurts Richtung drehte und ihm zurief: „Das Leben ist nicht fair, mein Junge, sondern eine Hure. Das musst du wie jeder andere auch lernen. Du bekommst nur, was du auch gibst... Oder geben wirst.“

       Er machte eine Pause, Paul (der hilflos und bewegungs-unfähig neben seinem toten Dad kniete) vollkommen ignorierend - mit seinem Blick starr den Baum fixierend, hinter dem Kurt erstarrt und zitternd hockte.

       Kurt war paralysiert vor überschäumender Furcht, er hätte weder wegrennen, noch kämpfen, noch schreien können. Nun war sein Kopf leer, einfach leer, ganz und gar leer.

       Beide – die Gestalt und Kurt - schienen abzuwarten, ob der Andere etwas erwidern würde, doch beide blieben stumm.

       Schließlich nach einem langen, mystischen Augenblick, brach die Gestalt die Ruhe und meinte lächelnd: „Ich weiß mehr über dich als du ahnst, Kurt. Wenn wir uns wiedersehen, wirst du es vielleicht verstehen. Ich hoffe, du erkennst mich, wenn es soweit ist. Denke über meine Worte nach, Kurt.“

       Ohne Paul eines einzigen Blickes zu würdigen, drehte er sich um und verschwand, verwirrt und desorientiert, in eine scheinbar frei gewählte Richtung, als wüsste er nicht, wie er hierher gekommen war. Das Glühen um die Gestalt herum war verschwunden.

      23

       Kurt schrak schweißgebadet aus dem Traum auf und setzte sich im Bett aufrecht hin.

       All das, der Innenhof, die Bierdosen, das Kopftätscheln, und der Tod Dads, alles war nur ein irrsinnig realistischer, entsetzlich langer, schrecklicher Albtraum gewesen.

       Er bekam riesige Angst, als sich eine dumme, aber fürchterlich beständige Ahnung in ihm breit machte: was, wenn dies wirklich geschehen konnte... Was, wenn das ein Zeichen gewesen war... Es war so real für ihn gewesen. Er schüttelte den Gedanken mit einer leichten Ohrfeige, die er sich selbst verpasste, ab und fragte sich selbst, was nur mit ihm los war.

       Er brauchte fünf Minuten, bis er zu verstehen begann, dass das Ganze nur ein Traum gewesen war, dass sein Dad lebte und wohlauf war. Er keuchte und weinte und redete sich ein, dass das alles nicht wahr sei. Trotz allem blieb es nur ein Traum ... richtig?

       Diese fünf Minuten kamen Kurt wie Jahre vor, die er auf seinem Bett saß, weinte und sich selbst ohrfeigte, wie es sein Dad nicht besser hätte tun können.

       Schließlich stand er mitten in der Nacht auf und schlich zum Schlafzimmer seiner Eltern, um wirklich sicher zu gehen. Er drückte die - zu einem Spalt geöffnete – Tür etwas weiter auf und sah beide in der Dunkelheit selig in ihren getrennten, einen Meter auseinander gestellten Betten schlafen.

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       Einen Monat später starb ihr Dad auf genau diese Weise. Auf dem Heimweg ausgeraubt und aufgeschlitzt, Paul allein zurücklassend.

       Paul hatte noch Stunden später wortlos geweint. Kurt war nicht selbst dabei gewesen. Aber er hatte es trotzdem irgendwie geahnt, tief in seinem Bewusstsein vergraben.

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       Kurt dachte damals nicht bewusst daran, dass dies kein Zufall sein konnte, obwohl er es instinktiv ahnte. Er war zu jung, um die wahren Hintergründe zu verstehen. Aber er hatte auch noch Zeit, bis er verstehen musste...

       Er wurde frühzeitig von seinem Schulausflug zum Pentagon von einem Polizeiwagen abgeholt. Darin saß seine Mom, die mit zwei anderen Polizisten gemeinsam versuchte, ihm auf die schonendste Art zu erklären, dass sein Bruder mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag und sein Dad tot war, von einem drogensüchtigen Kriminellen angegriffen und getötet.

       Er wusste es schon, als er den schwarz-weiß gestreiften Ford in seine Richtung fahren und in seiner Nähe halten sah. Er hatte es in seinem Traum gesehen.

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       Paul lief ein paar Wochen später von zu Hause weg und verschwand spurlos, um den Tod seines einzigen, größten Helden zu vergessen und ein neues Leben anzufangen. Die Brüder sollten sich lange, lange Zeit nicht wieder sehen.

       Den Tod seines Vaters hatte Kurt bereits ein Jahr später erfolgreich verdrängt und sollte irgendwie unter starken Depressionen und gelangweiltem Desinteresse durch die Grundschule durchgeschoben werden.

      Kapitel 2: Der Verlust und der Versuch

      1

       Los Angeles, Kalifornien, 1960

       Nicht ganz ein Jahr war vergangen. Kurts zehnter Geburtstag war erst wenige Wochen her und der Grad an Respekt, den ihm die Gleichaltrigen entgegenbrachten, hatte sich nicht im Geringsten verändert; bis auf die Tatsache, dass sie ein Jahr älter waren und nun auf noch grausamere Gemeinheiten kamen, die ihn in noch tieferen Zorn, Trauer und grimmige Wut zu versetzen vermochten. Doch wenigstens wurden die meisten Kinder mittlerweile zu faul für körperliche Erniedrigungen, sondern beschränkten sich auf psychologische, teilweise unbewusste Kriegsführung.

       Das Leben ohne Dad kam Kurt merkwürdig vor. Er vermisste seinen Vater zwar, wusste aber nicht, was ihm eigentlich genau an Dad fehlte. Er wurde nur mehr selten geschlagen, hatte die ungeteilte, traurige und frustrierte - aber nichtsdestotrotz aufopfernde - Aufmerksamkeit seiner Mutter (wie wohl jedes Kind die seiner Mutter hatte, wenn sie nur einen Funken Liebe in ihrer Brust besaß) und keiner machte ihm irgendwelche nervenden Vorschriften, die er sowieso nicht eingehalten hätte.

       Aus Vorsichtsmaßnahmen wurde Kurt für sechs Monate nach dem Tod seines Vaters und dem Verschwinden Pauls in zur langfristigen Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort dröhnte man ihn mit Beruhigungsmitteln und Kinderpsychopharmaka zu und setzte ihn weit verwirrteren Leuten aus, als er selbst es war (zumindest seiner Ansicht nach).

       Das war wohl auch einer der Gründe, warum er ausrastete. Kurt hielt seinen eigenen Psychostress bereits kaum aus und nun bekam er den auch noch von außen durch die restlichen Patienten.

       Während einer der letzten Beobachtungssitzungen mit einem verkrampften Anfänger von Kinderpsychologen, der wirklich mit aller Gewalt cool wirken wollte, brach alles aus Kurt heraus.

       Er sprang von dem mattgelben Plastiksessel auf, begann zu schreien, riss den Sessel in die Höhe und schleuderte ihn direkt in das verhasste Gesicht des Psychologen. Zu dessen Glück traf Kurt nur den übergroßen Schreibtisch aus Eichenholz, an dem sie wochenlang gesessen und leere Belanglosigkeiten besprochen hatten. Der Tisch löste sich sogleich krachend in mehrere Bestandteile auf. Die professionelle Schlussfolgerung

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