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Kurt bekommt schreckliche Angst, gefolgt von einer dunklen, dunklen Vorahnung. Er will rennen. Er zieht Dad am Ärmel, doch dieser reagiert nicht darauf. Anschließend sieht er nur mehr alles wie in Zeitlupe ablaufen.

       Kurt denkt: „Dad, Dad, muss aufpassen! Er ist in großer Gefahr! Ich spüre es!“ Er fleht, dass seinem Dad nichts passieren darf. Kurt ist starr vor Angst.

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       Er hatte ihn gefunden! Endlich hatte er den Jungen gefunden!

       Er war schon seit Jahrzehnten, vielleicht schon seit Jahrhunderten auf der Suche nach ihm und nun stand er vor ihm, dieser kleine, verängstigte Junge mit seinen glasigen Augen, der alles verändern würde. Oder der, der alles beenden würde.

       Aus dem Augenwinkel sah er seinen eigenen, langen Mantel im Wind flattern und musste an seine unglaublich lange Reise denken, die nun wohl zu Ende war. Hoffentlich. Er war schon gespannt, wie Kurt die erste Prüfung bestehen würde...

       Er sah den Jungen einen Augenblick direkt an und musste kurz lächeln. Er konnte Kurts Panik spüren, wie sie sich langsam in eine dunkle Vorahnung verwandelte.

       Danach wandte er sich Kurts Dad zu, öffnete den Mund und ließ die erste Prüfung beginnen.

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       Es war nichts Sichtbares, aber Kurt war wie vom Blitz getroffen vor Schreck und Neugier und dumpfer Verwirrung. Er blieb stehen und beobachtete den Obdachlosen mit weit aufgerissenen Augen.

       Er fühlte sich merkwürdig, als würde er einem alten Freund begegnen, den er ewig lang nicht gesehen hatte (was in seinem Alter wirklich schwierig gewesen wäre). Als hätte er einen verschwundenen Vater nach unendlich vielen Jahren wieder gefunden. Doch sein einziger, wahrer Vater stand doch zwei Schritte rechts neben ihm!

       Was war nur mit ihm los? ... Dieses Glühen ... Was passierte mit ihm?

       Kurt konnte sich dieses Glühen nicht erklären. Es war wie eine Aura, die um diese Person herum strahlte, wie ein umgekehrter, bösartiger, wissender Heiligenschein.

       Es faszinierte Kurt, er war gebannt, wie eine Motte von einem Lichtstrahl, der der Sonne gleichkam, gebannt sein musste. Sie bewirkte ein unheimliches, wohliges Gefühl in Kurt. Er war unfähig, sich zu bewegen, wie in Trance.

       Sein Verstand sagte ihm, dass es einfach nicht da war, nicht existierte. Er war nicht sicher, ob er sich das nur einbildete, aber er konnte es fast physisch spüren. Es war wie Elektrizität, die von diesem Menschen ausging.

       Die Gestalt fragte Dad, ob dieser nicht ein bisschen Kleingeld für ihn hätte. Kurt hätte sich – trotz seiner impulsiven Angespanntheit - nicht im Traum die kommende Katastrophe ausmalen können...

       Kurts Vater beobachtete die Gestalt für drei Sekunden, überlegend, abtastend, ging einen Schritt auf ihn zu und sagte: „Glaubst du, ich hab für deinen arbeitslosen Arsch auch nur einen Cent übrig, du drogensüchtiges Stück Scheiße?“

       Paul trat hinter Dad ein paar Schritte vor und wartete angespannt, nervös, aber bereit auf die Reaktion der Gestalt. Dieser beobachtete seinen Gegner seinerseits für einen Augenblick, noch immer diabolisch grinsend und ging langsam auf die drei zu. Binnen vier beschleunigenden Schritten hatte er sie erreicht, im dritten ein Klappmesser ziehend. Dad befahl seinen Söhnen, sie sollten rennen.

       Kurt blieb wie angewurzelt stehen – sein Gesicht vor Horror kreidebleich - und starrte die Gestalt an, die mit dem Messer in der Hand weit ausholte und auf Dads Brust zielte.

       Dad wich zurück und verpasste der Gestalt überraschend schnell eine gerade Rechte. Der Angreifer wankte benommen einen Schritt nach hinten und stieß, sich nach vorne lehnend, danach sein Messer in Richtung Dads Bauch. Paul versuchte, die Magengegend der Gestalt - wie ein Footballspieler beim Tackling - mit seiner Schulter zu erwischen, traf aber den flink nach rechts ausweichenden Feind nicht und musste einen harten Stoß von dessen linken Ellbogen einstecken, bevor er bewusstlos zu Boden ging.

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       Kurt erwachte aus seiner Starre

       (Was soll ich tun, was soll ich nur tun? Bitte Gott, sag' mir, was ich tun soll!)und rannte verängstigt und hilflos auf den Wohnblock zu. Ihr Vater wich selbst nach rechts aus, aber das Messer streifte ihn an seiner linken Seite, unterhalb des linken Brustmuskels, an den Rippen. (Oh nein, Dad beginnt zu bluten... Dad!) Dad verlangsamte geschockt und mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Bewegung. Die Gestalt schaltete schnell und riss das Messer hoch zu Dads Halsschlagader. (Dad wird sterben! Verdammt, was soll ich nur tun?) Dad konnte seinen Kopf gerade noch rechtzeitig nach hinten werfen - sein Hals blieb vorerst verschont - doch das scharfe Messer schlitzte ihm erbarmungslos die gesamte linke Wange auf. Dad schrie vor Schmerzen und Überraschung und sank auf die Knie. (Dad!!! Nein!!!)

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       Dad konnte Blut in seinem Mund schmecken, den verdammten, verhassten, geilen, metallischen Geschmack, der über Leben und Tod entschied.

       Er konnte die Wärme seine Kehle hinab rinnen spüren, das Adrenalin in sein Gehirn schießen und ihn kurz mit neuer Kraft beleben fühlen. Die Zeit, um zu kämpfen, war gekommen. Dieser Bastard durfte nicht lange genug weiterleben, um seinen Triumph auskosten zu können!

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       Kurt sieht – noch immer wie in Zeitlupe - das Blut aus Dads Gesicht laufen, wie einen kleinen roten Wasserfall. Die Gestalt hält für eine Sekunde inne und reißt dann – Dads Schock ausnutzend – das Messer weiter bis übers linke Auge, das mit einem feuchten, schmatzenden Laut entzwei flutscht.

       Kurt sieht, wie Dads Blut von seinem früherem Auge auf seine Brust rinnt und schließlich auf dem Boden eine kleine Pfütze bildet. Die Überreste seines Auges hängen an den Nervenbahnen vor den zwei Hautfetzen herunter, die früher mal seine Wange gewesen waren, und baumeln tot hin und her.

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       Paul lag noch immer etwas abseits bewusstlos am Boden. Dad wollte sich mit letzter Kraft auf den Angreifer stürzen, aber die Gestalt erkannte seine Chance, sprang ausfallend nach links - wie ein Torero während eines Stierkampfs - und riss mithilfe des Messers Dads Kehle entzwei.

       Eine Fontäne von Blut schoss aus seinem Hals, bevor er kläglich noch mit letzter zuckender Kraft versuchte, den Angreifer – röchelnd am Boden liegend - am Knöchel zu packen.

       Danach fiel Dads Kopf bewusstlos mit einem Gurgeln zu Boden.

       Dad bewegte sich nicht mehr, atmete nicht mehr. Sein regungsloser Körper lag in einem See aus Blut, sein Gesicht und Hals grauenhaft verstümmelt. Wie ein antiker griechischer Held, der sein tragisches, aber ehrenvolles Ende gefunden hatte, lag er dort, während die untergehende Sonne ihre letzten, hämischen Strahlen auf seinem glitzerndem Blut tanzen ließ.

       Gute Nacht, süßer Prinz...

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       All das beobachtete Kurt zitternd, hinter einem etwas entfernten Baum versteckt

       (WARUM?! WIESO, VERDAMMT NOCHMAL?! WIE KANN DAS SEIN? DAS KANN NICHT WAHR SEIN!!!)und Tränen schossen ihm in die Augen. Er spürte zum ersten Mal die absolute Hilflosigkeit, die Ungerechtigkeit und die Enttäuschung. Sein Kopf war gähnend leer und gleichzeitig gefüllt mit tausend Gedanken, die jede Sekunde durch die Windungen seines traumatisierten Gehirns rasten. Am liebsten wäre er aufgesprungen, zu Dads Mörder gelaufen und hätte dessen Schädel immer und immer wieder gegen den nächsten Randstein der Straße gehämmert, solange, bis die Sonne untergehen würde. Aber er konnte es nicht. Er konnte sich nicht bewegen. Er wusste nicht wie. Er war wie gelähmt vor Angst, als wäre sein ganzer Körper wegen Blutarmut eingeschlafen. Seine Gedanken kreisten darum, dass Dad nicht tot war, nicht tot sein konnte; nicht tot sein durfte. Zu viel Angst, zu viel Schmerz. Mehr als genug, um die Scheuklappen in Kurts Geist zuschnappen zu lassen

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