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Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee
Читать онлайн.Название Philosophenkönig – eine Einführung
Год выпуска 0
isbn 9783844232523
Автор произведения Martin Arnold Gallee
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Dieses Reflexionsniveau, wie es auch genannt wird, ist nun einerseits im Anschluss an die von Sokrates erbrachte Differenzierung der Ebenen zum Qualitätsmerkmal allen Denkens geworden[36]!. Das gilt zunächst sicherlich für die Philosophie und ihre Methode des Argumentierens selbst. Darüber hinaus ist die Reflexion aber auch für die Wissenschaft insgesamt zum Charakteristikum schlechthin geworden, durch das sie sich bis heute von allen anderen Teilen der Gesellschaft abgrenzt. Diese haben stets nur ihren jeweiligen Objektbereich zum Thema, die Wissenschaft hingegen umfasst sowohl die Theorie- als auch die Metaebene. Ihre Grenze verläuft sozusagen um beide Ebenen herum, und genau das wird sowohl innerhalb der Wissenschaft selbst[37]! als auch jenseits des Campus[38]! als Merkmal für Wissenschaftlichkeit überhaupt betrachtet. Nicht nur die Philosophie an sich, sondern vielmehr auch und gerade die akademische Philosophie und die Wissenschaft insgesamt haben Sokrates somit sehr viel zu verdanken.
Während diese formale Erweiterung des menschlichen Weltbezugs auf drei Ebenen allgemein anerkannt ist, gibt es bezüglich der Frage, wie Sokrates inhaltlich zwischen wahrem und Scheinwissen unterscheidet, auch in der heutigen Philosophie noch einige Diskussionen. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Platons Denken von dieser Frage aus seinen Anfang nimmt und sich von dort aus sozusagen zu Höhen aufschwingt, von denen es sehr unwahrscheinlich ist, dass der bodenständige Sokrates sie noch als Teil seiner Philosophie betrachtet hätte. Für Platons Lehrer stand nämlich das konkrete Gespräch im Mittelpunkt, also „das, was den Menschen anging”[39] und sein Gegenüber ihm zu sagen hatte, und damit setzte er sich dann – wenn auch oft kritisch – auseinander. Die Art der Kritik, für die sich Sokrates in Athen schnell einen soliden Ruf erwarb, war aber nicht etwa die direkte Gegenrede, sondern vielmehr das gezielte Nachfragen.
Während Sokrates wohl gesonnene Interpreten dieses Vorgehen seiner Bescheidenheit und seinem Reflexionsniveau zuschrieben[40]!, sahen sich seine Gesprächspartner (denen das Ziel der Sokratischen Methode, Scheinwissen zugunsten von wahrem Wissen zu zerstören, in den meisten Fällen nicht klar war) durch dieses Vorgehen mindestens nicht ernst genommen, schlimmstenfalls hingegen komplett lächerlich gemacht. Sie sahen – auch das ist leider bis heute oft zu beobachten – in den von Sokrates gezielt gestellten Fragen nicht nur einen Angriff auf ihr Denken (von dem sie ja überzeugt waren), sondern fühlten sich auch persönlich attackiert. Zumal die Gespräche mit Sokrates (wie auch die entsprechenden platonischen Dialoge) oft aporetisch enden, also ohne irgendeine positive Auflösung oder Beantwortung der gestellten Fragen.
Die wohl sicherste allgemeine Charakterisierung der Sokratischen Methode, durch sein gesamtes Wirken als Philosoph hindurch, ist das Stellen von ‚Was-ist-Fragen’, also zu verlangen, über eine gerade besprochene besondere Situation hinaus anzugeben, was sich hinter dem dabei gestreiften Themenbereich allgemein verbirgt. Vor allem in der Apologie, dem Euthyphron, dem Kriton und (aus Platons mittlerer Schaffensphase) dem Phaidon steht dieses Vorgehen Sokrates´ im Zentrum des Interesses. Mit den Worten Xenophons ging es Sokrates darum, im Gespräch herauszufinden,
was fromm, unfromm, edel, unedel, gerecht, ungerecht sei, was Besonnenheit, Tollheit, Tapferkeit, Feigheit sei, auch, was ein Staat, ein Staatsmann, eine Regierung und ein Regent sei.[41]
Mit dieser beständigen Nachfrage „was jedes Ding sei”[42] verunsicherte Sokrates seine Gesprächspartner regelmäßig – wenn sie denn die Frage überhaupt verstanden. In nicht wenigen Fällen, etwa im Euthyphron, bekommt Sokrates als Antwort nämlich den Verweis auf Beispiele und Einzelfälle. So beantwortet Euthyphron die Frage, was fromm sei, auf die folgende Weise: „Ich sage eben, dass fromm ist, was ich jetzt tue, den Übeltäter nämlich […] zu verfolgen”[43]!. Das aber, so macht ihm Sokrates klar, verfehlt den Sinn der Frage völlig: „Du hast mich […] nicht hinlänglich belehrt auf meine Frage, was wohl das Fromme ist, sondern du sagtest mir nur, genau das sei zufällig fromm, was du jetzt tust”[44]. Um aber das überhaupt sagen zu können, so Sokrates, muss man bereits wissen, was das Fromme an sich ist – und genau darum geht es ihm.
Der tiefere Sinn des Sokratischen Fragens ist, das hatten wir oben gesehen, praktischer Natur: Dem Gesprächspartner soll klar werden, dass er noch nicht einmal erklären kann, worin eigentlich der thematische Bereich dessen besteht, über das er sich gerade äußert. In diesem Einsehen des eigenen Nichtwissens, dieser Reflexion also, besteht für Sokrates der erste Schritt zum wahren Wissen[45]!. Sein beständiges Fragen nach der Sache selbst ist – so könnte man aus heutiger Sicht sagen – das theoretische Mittel zu einem praktischen, lebensweltlichen Zweck: dem Einsehen des eigenen Nichtwissens und dem sich Öffnen für das Wissen um das Gute und Wahre.
Das Problem besteht nun darin, dass weder Platon noch Aristoteles dieses vorwiegend praktische Interesse ihres Lehrers in ihren jeweiligen Darstellungen respektiert haben, sondern ihn als wesentlich theoretischer und abstrakter ausgerichteten Philosophen portraitieren. Dabei stimmen beide darin überein, es sei Sokrates nicht etwa um Einzelfälle, sondern das damit im Zusammenhang stehende Allgemeine gegangen. Sie unterscheiden sich aber deutlich in ihren Meinungen, was dieses Allgemeine genau ist.
Dabei bringt Platon schon recht früh, nämlich im Euthyphron, vorsichtig seine eigenen Gedanken ins Spiel, insofern er Sokrates im Rahmen von dessen Frage nach dem Frommen und Unfrommen die Worte in den Mund legt, „dass alles, was unfromm sein soll, soviel nämlich seine Unfrömmigkeit betrifft, eine gewisse Gestalt hat”[46]. Dabei wird sich die griechische Entsprechung von ‚Gestalt’ – idea – in der Folge zu einem der wichtigsten Begriffe der Philosophiegeschichte entwickeln. Was es genau mit der platonischen Ideenlehre auf sich hat, werden wir im nächsten Kapitel untersuchen, hier ist zunächst einmal relevant, in welcher Hinsicht Platons Darstellung von Sokrates und seinem Denken abweicht. In diesem Zusammenhang gehört es zu den Besonderheiten der philosophisch einmaligen Athener Konstellation, dass die Frage der Adäquatheit der Darstellung von Sokrates durch Platon auch von einem Schüler Platons erläutert wird – der aber eben selbst philosophische Ambitionen hat und Platon nicht zuletzt deshalb hinsichtlich seines Umgangs mit Sokrates kritisiert, weil er sich als dessen wahren Schüler und Bewahrer seiner Gedanken präsentieren will: Aristoteles.
Dabei basiert die generelle Stoßrichtung der aristotelischen Kritik an Platon und seinem Verständnis des Allgemeinen auf einer bestimmten Perspektive, die Aristoteles auf das Werk seines Lehrers hat. Die Kritik, die Aristoteles an der Ideenlehre Platons übt, beinhaltet vor allem den Vorwurf der unangemessenen Vereinnahmung von Sokrates, der das Allgemeine aus Sicht von Aristoteles nicht als jenseitige Sphäre verstanden hat: „Sokrates setzt […] das Allgemeine […] nicht als abgetrennte Wesenheiten an; die Anhänger der Ideenlehre aber trennten es und nannten es Ideen der Dinge”[47]. – Allerdings gibt auch Aristoteles bei der Darstellung von Sokrates und seinem Denken kein glückliches Bild ab. Denn er interpretiert das Allgemeine, um das es diesem ging, schlicht als Begriffe und behauptet, Sokrates habe sich vor allem um deren Sinn Gedanken gemacht. Der Moralphilosoph Sokrates war hingegen nicht an der Begriffstheorie interessiert, sondern letztlich nur an einem: der Praxis des Handelns in der menschlichen Lebenswelt. Die immer aggressiver werdenden Reaktionen von dort sind wohl auch vor keinem anderen Hintergrund wirklich erklärbar.
Gerade diese Gebundenheit an seine Lebenswelt macht aber auch klar, wo die Grenzen dessen liegen, was uns Sokrates heute noch zu sagen hat. Denn, um es sehr milde auszudrücken: Seine Lebenswelt ist nicht mehr die unsere. Und wir bekommen in einer Welt, in der sich verschiedene Kulturen und Lebensentwürfe unversöhnlich gegenüberstehen, einen (immer