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entspricht wohl weitgehend der Wahrheit, allerdings sollten zwei Punkte dabei nicht außer Acht gelassen werden.

      Zum Einen tritt Sokrates zwar – vor allem im Vergleich zu den ihre eigene Weisheit anpreisenden Sophisten – bescheiden auf. Der Philosoph, so erklärt er im Symposion, ist Liebhaber, nicht Besitzer der Weisheit[24]. Die heute in den meisten Fällen vorgenommene Übersetzung von sophia mit ‚Weisheit’ unterschlägt in dieser einfachen Form allerdings einen wichtigen Aspekt. Denn im Sinne der oben erwähnten – aus unserer heutigen Sicht ungewohnt – engen Beziehung von Theorie und Praxis hat die sophia eben nicht nur eine theoretische Komponente. Sie ist durch ihre Wirkung auch eine öffentliche und sozial relevante Tätigkeit. Dem griechischen Verständnis nach ist der sophos also nicht etwa nur der weltabgewandte Weise, vielmehr bezeichnet der Ausdruck jeden, der sich, sei es ein Handwerker oder ein Intellektueller, auf das versteht, was er tut – ein Profi, wie man ihn heute wohl nennen würde[25]!. Und mit diesem Selbstverständnis des sophos tritt Sokrates tatsächlich auch auf. Wer den Inhalt der Äußerungen von der Art, in der Sokrates ihn vorträgt, trennt, findet – beispielsweise in Platons Dialogen Kriton und Phaidon oder den oben erwähnten Erinnerungen von Xenophon – einen Gesprächspartner, der zwar in Bezug auf seinen Wissensstand sehr bescheiden auftritt, wie wir gleich sehen werden; der das, was er zu sagen hat, aber dennoch zum Teil sehr offensiv in die Diskussion einbringt. Sokrates fordert oft mit rhetorischen Fragen recht forsch die Zustimmung seines Gegenübers ein, und nicht selten greift er beim Umgang mit Gegenargumenten zum Mittel der Ironie. Dass er all dies in guter Absicht tut, wird selbst dem Leser nicht immer sofort klar – wie soll es da erst seinen realen Gesprächspartnern gegangen sein?

      Der zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf die zuweilen etwas gutmütige, fast schon naive Art, in der Sokrates portraitiert wird. Die Annahme, dass, wer das Gute kenne, es auch tue, scheint schon allein Beleg genug dafür, es mit jemandem zu tun zu haben, der nicht nur selbst zu gut für diese Welt war, sondern der sie eben vor allem in naiver Weise für besser gehalten hat, als sie tatsächlich ist. Und das scheint zunächst auch für die Begründung zu gelten, das Gute sei doch immer das Nützliche, und umgekehrt. Man kann nun bezüglich der Sokratischen Gleichsetzung von Gutem und Nützlichen viele Argumente pro und contra vorbringen. Ohne, dass ihr Urheber dabei immer explizit genannt wird, ist in den letzten zweieinhalb Tausend Jahren auch genau das passiert. Neben der Beziehung von Individuum und Gesellschaft hat keine andere Frage das abendländische Denken so nachhaltig umgetrieben wie die nach dem Verhältnis von Moralität und Rationalität, also dem, was gut im Sinne des Guten, und dem, was gut im Sinne des Nützlichen ist. Was man Sokrates aber nicht vorwerfen kann, ist, dass er sich nur an dem aus seiner Sicht Wünschenswerten orientiert und die Wirklichkeit aus dem Auge verloren hätte. Genaugenommen ist sogar eher das Gegenteil der Fall: Die tatsächlichen Verhältnisse in seiner Lebenswelt und seine Reaktion darauf bilden nicht nur den augenscheinlichen Schwerpunkt des Sokratischen Philosophierens, sie sind darüber hinaus der Grund für die beständig vehementer werdende Ablehnung seiner Person und damit letztlich für seine Anklage, Verurteilung und Hinrichtung.

      Denn die ‚Sokratische Methode’, wie sie bis heute genannt wird, setzt nicht etwa bei dem an, was sein soll, also der Einsicht in das Wahre und Gute in jedem, sie beginnt vielmehr bei dem, was ist – und das ist vom Erstgenannten in den meisten Fällen weit entfernt[26]!. Es zeigt sich nämlich, dass in den Köpfen der Athener nicht etwa eine bloße Abwesenheit von Wissen zu beklagen wäre, was – gepaart mit dem Bewusstsein dafür und dem Willen, Wissen zu erlangen – prinzipiell ja noch alle Möglichkeiten offen ließe. Vielmehr hat sich über die Zeit ein Scheinwissen etabliert, das darüber hinaus den Glauben mit sich bringt, keiner weiteren Belehrung mehr zu bedürfen: „Wer […] nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt”[27]. Daher führt für Sokrates der Weg zur Erkenntnis des Wahren und Guten über die Zerstörung des scheinbaren Wissens, und dieser destruktive Aspekt prägt die Sokratische Methode (und die Reaktionen auf sie) durchgängig[28]!.

      Dieser Beurteilung der Denkinhalte seiner Zeitgenossen durch Sokrates scheint auf den ersten Blick zwar aus sozialer, aber nicht unbedingt philosophischer Perspektive besondere Bedeutung zuzukommen – jedoch ist genau das der Fall. Dass wir Sokrates in dieser Hinsicht heute nicht mehr die Beachtung schenken, die er eigentlich dafür verdient, hat er sozusagen seinem eigenen Erfolg zu verdanken: Für uns ist sein Vorgehen in vielerlei Hinsicht einfach schon zu selbstverständlich geworden, als dass wir dessen philosophische Relevanz sofort erkennen würden. Und doch sind sowohl unser intellektuelles Tätigkeitsfeld im Allgemeinen als auch unser wissenschaftliches im Besonderen grundlegend von der Sokratischen Methode geprägt. Das bezieht sich allerdings weniger auf deren inhaltliche Komponente, obwohl auch diese – durch ihre Weiterführung bei Platon – nachhaltige Wirkung haben wird[29]!. Richtungsweisend an der Vorgehensweise Sokrates´ ist vielmehr ihre Struktur, also ihre Form.

      Denn Sokrates ist nicht nur derjenige, der mit der Thematisierung des Weltbezugs des Menschen in Form der Lebenswelt die Philosophie in ihrer heutigen Form überhaupt begründet hat, er hat diesen Weltbezug (der natürlich auch unabhängig von seiner Thematisierung immer schon stattfindet) darüber hinaus um eine wichtige Dimension bereichert. Bis zu Sokrates war der Mensch gerade einmal soweit gekommen, sich als denkendes Wesen von der Welt zu emanzipieren und sie zu seinem Objekt zu machen. Dieser Schritt wird oft auch mit dem Schlagwort vom Mythos zum Logos bezeichnet. Das mythische Weltverhältnis, wie es zum Beispiel in den Epen des Dichters Homer (ca. 8. Jahrhundert v. Chr.) geschildert wird, steht dabei für ein vollständiges Eingebundensein des Menschen in die Welt, das ihn einerseits schützt und aufhebt, es ihm andererseits aber unmöglich macht, sich als eigenständiges, individuelles Wesen zu verstehen[30]!. Im und mit dem Denken emanzipiert sich der Mensch von der Welt und ist durch diese (zumindest geistige) Distanz in der Lage, ihr gegenüber als Subjekt seines eigenen Entscheidens und Handelns aufzutreten[31]!.

      Damit erweitert sich das Szenario des menschlichen Weltbezugs von einer einzigen auf zwei Ebenen. Denn jetzt gibt es sozusagen nicht mehr nur die Welt, sondern auch noch das Denken über sie. In der Wissenschaft wird dabei statt von der Welt von der ‚Objektebene’ gesprochen, also das, worauf sich das Denken bezieht, die Ebene des Denkens selbst wird dagegen als ‚Theorieebene’ bezeichnet[32]!. Der Weltbezug des Menschen gestaltet sich also bis dahin so, dass – metaphorisch gesprochen – von der Theorieebene aus über die Objektebene nachgedacht wird.

      Um jedoch wie Sokrates zwischen wahrem und Scheinwissen unterscheiden zu können, reicht ein solches Modell nicht aus. Denn schließlich wird bei dieser Unterscheidung das Denken selbst – also die Theorieebene – zum Thema bzw. Objekt gemacht. Und wie beim denkenden Bezug auf die Welt bzw. Objektebene, der nur von einer anderen, nämlich der Theorieebene aus möglich war, nachdem sich der Mensch aus und von der Welt emanzipiert hatte, ist das Denken über die Theorieebene (und das genau ist es ja, was bei der Unterscheidung von wahrem und Scheinwissen geschieht) nur von einer weiteren, dritten Ebene aus möglich. – Diese dritte Ebene wird in der Wissenschaft als Metaebene bezeichnet, was sich vom griechischen meta (hier etwa: ‚über’) herleitet. Dabei ist ‚über’ nicht etwa im hierarchischen Sinne von ‚höher stehend’ zu verstehen, sondern nur als Bezug der Metaebene auf die Theorieebene. Auf der Metaebene wird also über die Theorieebene nachgedacht, und das ist in moderner Terminologie genau das, was Sokrates tut: Er macht sich (metastufig) Gedanken über das (theoriestufige) Denken bezüglich der (objektstufigen) Welt. Das mittlerweile Jahrtausende alte Rätsel um den angeblich widersprüchlichen Sokratischen Satz ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß’ löst sich sofort in Wohlgefallen auf, wenn man diese Dreistufigkeit der Sokratischen Philosophie berücksichtigt – ‚Ich weiß (metastufig, also beim Nachdenken über mein Denken), dass ich (theoriestufig, also in Bezug auf die Welt) nichts weiß’[33]!.

      Das Faszinierende an dieser Sokratischen Erweiterung des menschlichen Weltbezugs auf drei Ebenen[34]! ist nun, dass sich die ersten beiden (also Objekt- und Theorieebene) insofern unterscheiden, als die Welt ja tatsächlich etwas ganz anderes als das Denken über sie ist. Bei der Unterscheidung von Theorie- und Metaebene hingegen

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