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ansehen. Das gilt umso mehr, als Sokrates sich – in unserer Terminologie – als praktischer Philosoph verstand, der auf das Leben und Handeln seiner Mitmenschen Einfluss nehmen wollte.

      Man hat gerade bei den unzähligen philosophisch geprägten Einlassungen zum heutigen Zustand der Welt manchmal den Eindruck, als stünde das Athen des Sokrates tatsächlich als Alternative zur unübersichtlichen und, sagen wir, suboptimalen Situation des hier und jetzt zur Diskussion. Und eine solche Haltung kann nur aus dem mangelnden Wissen darüber resultieren, was als breiter Konsens in der Antike auch von Sokrates geteilt wurde – von der Beschränkung des Wahlrechts auf eine kleine Minderheit über die Legitimität der Haltung von Sklaven bis hin zu der Klassifikation von Frauen als gegenständliche Dinge. – Kurz: Was uns Sokrates heute noch zu sagen hat, beschränkt sich auf die Philosophie, und dabei sollten wir es auch belassen. Zumal das, wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, alles andere als wenig ist und wir uns darüber hinaus bei dem Versuch, ihn als Philosoph zu verstehen, durch die Notwendigkeit, unser eigenes Vorverständnis explizit zu machen, auch immer ein Stück weit selbst den Spiegel vorhalten. Und genau darin sieht auch Platon, zu dem wir jetzt kommen, ein ganz wesentliches Element der Philosophie seines Lehrers:

      Du scheinst eines gar nicht zu wissen: Wer der Rede des Sokrates ganz nahe kommt […], wird von ihm unvermeidlich […] so lange ohne Ruhe in der Rede herumgeführt, bis er dahin gerät, dass er über sich selbst Rechenschaft ablegen muss […].[48]

      Kapitel 3

      Platon (427 – 347 v. Chr.)

      An Platons Lebensdaten ist zu erkennen, dass er zum Zeitpunkt des Todes von Sokrates noch ein junger Mann war. Er hatte seinen Lehrer etwa acht Jahre lang begleitet, dessen Hinrichtung stellte für ihn ohne jeden Zweifel ein traumatisches Erlebnis dar. Es sollte nicht die einzige Enttäuschung in seinem langen Leben bleiben, wenn auch die größte. Und ganz abgesehen von dem persönlichen Schmerz, den Platon aufgrund des Todes seines Lehrers erlitten haben mag, haben ihn sowohl dieses Ereignis als auch dessen Umstände nicht zuletzt als Philosoph geprägt. Die von Platon aus dem Tod von Sokrates gewonnene Einsicht, die sein gesamtes Werk bei allem Facettenreichtum durchzieht, lautet: Mit dieser Welt stimmt etwas nicht.

      Das ist zunächst einmal ganz nahe liegend auf die politischen Verhältnisse in Athen zu beziehen, denen Platon denn auch umgehend für über zehn Jahre entfloh, bevor er im Jahr 387 zurückkehrte und seine berühmte Akademie gründete. Es ist aber noch wesentlich mehr als das gemeint. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, bilden die für uns heute getrennten Bereiche der Gesellschaft und des Staates in der griechischen Antike noch eine Einheit. Die moderne, erst von Thomas Hobbes (1588‐1679) eingeführte Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger ist für Platon folglich genauso wenig relevant wie die zwischen Ethik und Politik. Der Schritt von der Verurteilung der politischen Zustände in Athen (und ganz grundsätzlich aller Staaten, wie er in seinem Siebten Brief erklärt) zu einem Denken, das die Welt überhaupt als im Verfall befindlich ansieht, ist für einen in der griechischen Antike beheimateten Philosophen wie Platon also wesentlich kleiner, als er uns heute erscheinen mag. Und auch wenn die diesbezügliche Gleichsetzung von Athener polis und der Welt insgesamt (wie alle kulturellen Selbstverständlichkeiten) in den Schriften Platons nicht explizit auftaucht, durchzieht seine pessimistische Sicht der Dinge Platons gesamtes Werk. – Dabei belässt er es allerdings nicht bei der Feststellung des Verfallens der Welt, sondern sucht darüber hinaus nach Lösungen hinsichtlich der Frage, wie der Mensch einer solchen zerfallenden Welt gegenüber tritt und treten sollte. Sein Erfolg als Philosoph verdankt sich stark diesem therapeutischen Gesichtspunkt.

      Dabei ist eine solche Bezeichnung von Platon als erfolgreichem Philosophen genau genommen eine starke Untertreibung. Sein Werk beherrschte das westliche Denken bis mindestens ins 12. Jahrhundert hinein, und das, obwohl die meisten seiner Schriften erst nach dem Fall von Konstantinopel 1453 mit einigen der von dort fliehenden Gelehrten nach Mitteleuropa gelangten. Und trotz der Tatsache, dass viele großen Philosophen von Aristoteles bis Nietzsche in zentralen Punkten Platon ausdrücklich widersprechen, ist dessen Denken bis heute relevant, auch wenn die Ansichten darüber, in welchem Grad dies der Fall ist, auseinander gehen. Für Ludwig Wittgenstein steht immerhin fest, dass „die Fragen, die wir diskutieren, dieselben Fragen sind, die Platon diskutierte”[1], und für den Philosophen und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947) ist es sogar „die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas […], dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht”[2].

      Herbert Schnädelbach geht sogar noch weiter. Er bemerkt zu dem wohl berühmtesten Lehrstück der Platonischen Philosophie, dem sogenannten Höhlengleichnis: „[M]an könnte die ganze Philosophiegeschichte auch als Geschichte seiner Interpretation schreiben”[3]. Ob diese Vermutung zutreffend ist oder nicht, kann hier natürlich nicht geklärt werden, es besteht allerdings kein Zweifel darüber, dass damit ein Teil der Philosophie Platons benannt ist, der als Einstiegspunkt ihrer Darstellung sehr geeignet ist. Nicht nur, dass das Höhlengleichnis das Zentrum der Politeia darstellt, die oft als Hauptwerk Platons angesehen wird. Darüber hinaus laufen im Höhlengleichnis (gemeinsam mit zwei ergänzenden Gleichnissen, dem Sonnen- und dem Liniengleichnis) alle Stränge der Argumentation Platons zusammen, sodass es ratsam erscheint, sich sein umfangreiches Denken von dort aus zu erschließen. Zumal die Hauptrolle in der Politeia an einen alten Bekannten vergeben ist.

      Das Höhlengleichnis ist, wie fast alle Schriften Platons[4]!, in Dialogform verfasst. Als Erzähler und souveräne Hauptfigur tritt Sokrates auf, auch dies ein gewohntes Bild in Platons Werken, von dem es allerdings einige bemerkenswerte Ausnahmen gibt, auf die wir noch zu sprechen kommen. Als Gesprächspartner fungiert ein gewisser Glaukon, der sich allerdings weitgehend auf die Rolle des Stichwortgebers beschränkt und nur selten Zwischenfragen stellt – wohl die, die Platon an der jeweiligen Stelle von seinen Lesern erwartete[5]!. Diesem Glaukon präsentiert Sokrates nun die folgende fiktive Situation:

      Stelle dir […] Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang habe, Menschen, die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so dass sie dort unbeweglich sitzen bleiben und nur vorwärts schauen, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen; das Licht für sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen; zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über die sie ihre Wunder zeigen.[6]

      Der Vergleich am Schluss ist nicht zufällig gewählt. Denn Sokrates fährt fort:

      So stelle dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen Leute allerhand über diese hinausragende Gerätschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen lebenden Wesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem Stoffe, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden ihre Stimme hören lassen, andere schweigen.[7]

      Das Feuer am Eingang der Höhle erfasst die Gegenstände, die über die Mauer ragen und wirft ihre Schatten über die Gefangenen hinweg an die Wand der Höhle, die sie gezwungenermaßen anschauen. Anders gesagt: Die gefesselten Menschen sehen immer nur die Schatten der Dinge und nicht die Dinge selbst. Da sie aber nie etwas anderen kennen gelernt haben als die Situation in der Höhle, würden sie „nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde”[8]. Sie verwechseln die Schatten mit den echten Dingen, wobei zu dieser Täuschung beiträgt, dass die Gespräche der Personen hinter der Mauer (die die Gegenstände dort vorbeitragen) von der Wand vor den Gefangenen widerhallen, sodass die Schatten zu sprechen scheinen.

      Bis hierhin scheint Platon zunächst auf eine metaphorische Art nur eine – allerdings wichtige – Unterscheidung zu wiederholen, die schon für seinen Lehrer von großer Bedeutung war: die metastufige Differenz von echtem und Scheinwissen[9]!, also des Unterschieds zwischen den echten Dingen hinter der Mauer einerseits und

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