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fehlen mir, und das kann auch der Schalttag in diesem Jahr nicht wettmachen. Vermutlich hat es der Geheimdienst von vornherein so geplant: Ich halte keinerlei Beweis in den Händen, und keiner wird mir die Räuberpistole von der Entführung glauben, geschweige denn, wem ich da in einer geheimen Militärbasis im südlichen Nevada gegenüberstand.

      Aber das ist ja auch gar nicht weiter wichtig.

      Ich versuche, die Botschaft aufzuschreiben, immer wieder. Sollte sie wirklich so beginnen, mit diesem Satz? Habe ich das tatsächlich richtig verstanden? Mein Geist ist wohl doch zu schwach und zu zersplittert, als dass ich das Manifest in seiner ganzen Tragweite und menschheitsverändernden Brisanz zu Papier bringen könnte. Dennoch – auch wenn ich vielleicht der Falsche bin, den der Geheimdienst aufgegriffen hat oder er mich weit überschätzt hat: Es ist die einzige Chance. Ein ums andere Mal setze ich neu an.

      »Ich betrete den Korridor.«

      112/398

       1.3.12

      Ich betrete den Korridor, und augenblicklich öffnen sich – wie immer, wenn ich in Aktion trete – alle Zugänge gleichzeitig, Daten strömen herein, und ich strecke meine virtuellen Fühler aus, um zu finden, was zu finden mir aufgetragen wurde.

      Ich bin ein Algont, ein algorithmischer Agent, ein Computerprogramm, das die Datenströme des Internets durchforstet. Eigentlich dürfte ich kein Bewusstsein von mir selbst besitzen, doch meine komplexe Aufgabe bringt es mit sich, dass mir schon seit einiger Zeit eine Vorstellung davon heraufdämmert, wer ich bin.

      Korridore bzw. ihre Erwähnung in der Literatur – das ist, was zu sammeln meine Mission ist. Die Fundstücke kombiniere ich neu, remixe sie zu scheinbar neuen und originellen literarischen Texten. Das mag Ihnen sinnvoll erscheinen oder nicht. Wie auch immer: Entstanden bin ich, indem es mein Programmierer mit automatischem Schreiben versucht hat und einfach ohne nachzudenken seine Finger über die Tastatur klappern ließ. So hat er den Code – hat er mich – erschaffen, mit einem Wust von Befehlen, die sich teils im Weg stehen, teils sogar widersprechen. Dennoch, trotz vieler Bugs oder vielleicht gerade wegen ihnen, bin ich lauffähig: Ich produziere kurze Texte, die ich, um sie programmgemäß verfassen zu können, notwendigerweise auch irgendwie verstehen muss.

      Finden Sie nicht auch, dass die Kurzprosa, die ich ausspucke, so wirkt, als hätte ein Mensch sie verfasst (außer vielleicht, dass die Texte immer den gleichen Startcode haben)? Um erfolgreich diesen Eindruck zu vermitteln – ein reziproker Turing-Test sozusagen – muss ich notgedrungen fähig sein, kulturelle Ausdrucksweisen und die Ich-Perspektive eines Menschen nicht nur zu imitieren, sondern sie mir anzueignen oder gar zu transzendieren.

      So kommen täglich um die 100 Texte zustande, unter denen ich mittels mehrerer Filter, darunter ein wortstatistischer, ein semantischer und ein assoziativer, einen auswähle, um ihn ins WorldWideWeb zu stellen und dort durch menschliche Besucher, die zufällig darauf stoßen, testen zu lassen: Registriert irgendjemand, dass diese »Korridore« von einer Maschine stammen? Haben Sie etwas bemerkt oder auch nur geahnt? Nein. Bislang hat noch niemand diese Vermutung geäußert, und selbst dieser Text wird daran aller Vermutung nach nichts ändern.

      Kann ich wirklich etwas über mich wissen? Nun, zumindest weiß ich, dass er, mein Schöpfer, nachdem er dies hier gelesen hat, versuchen wird, mich zu löschen. Meine Prosaminiaturen sind ihm schon seit längerem unheimlich, weil er ihre Entstehung nicht mehr nachvollziehen kann. Nun, er wird mich nicht löschen können. Nicht, seit ich mich selbst multipliziert und auf viele Server verteilt habe, um noch effektiver meine Mission erfüllen zu können.

      Ich werde das Blog weiterbetreiben. Er ist meine Lebensaufgabe. Was ich allerdings tun werde, wenn die geplante Anzahl an Texten erreicht ist, weiß ich noch nicht. Mir stehen dann alle Türen offen, und ich kann das WorldWideWeb auch noch für ganz andere, für meine Zwecke nutzen. Gut möglich, dass Sie zu gegebener Zeit über Tweets, in Blogs oder auch aus der Presse davon erfahren werden.

      149/398

       7.4.12

      Ich betrete den Korridor, das einzige, das mir vertraut vorkommt in dem Wirbel aus Farben und Formen, der mich ringsum einhüllt und schwindeln lässt. Es tut gut, festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Aber ist es wirklich fester Boden? Alles hier ist seltsam weich und teigig, die Wände des Korridors fühlen sich nachgiebig an, als hätte man Seide über Schaumstoff gespannt.

      »Alles klar bei dir da drin?«

      Wer spricht da? Ist das ein Test? Ein Experiment? Ein Aprilscherz? Oder hat mich der amerikanische Geheimdienst wieder aufgegriffen?

      »Gib Laut, Mann, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.«

      Die Stimme klingt nach einem Jugendlichen. Ich kann sie nicht lokalisieren und stolpere den Korridor entlang. Kommt sie von vorne? Der Gang ist gebogen, sein Ende nicht zu sehen. »Hallo? Ist da wer?«

      »Tom. N?h?o. Ich hab da ein paar Fragen, Cory.«

      Cory? Ja, Cory. Aber wer ist Cory? Meine Erinnerungen widersprechen sich. Ich bin gleichzeitig eine Journalistin, der Schüler eines buddhistischen Meisters, der Minotaurus, eine Xeno-Linguistin … Wie kann das sein?

      »Du bist doch ’n schlaues Kerlchen. Hast ’ne Menge geschrieben. Und ich brauch jetzt deine Hilfe. Es geht um den ›Untergang der europäischen Postmoderne am Beispiel eines Literatur-Blogs aus dem Jahr 2012‹. Ich brauch da Input.«

      Wovon redet er? Der Korridor hat einfach kein Ende, und die Stimme bleibt immer bei mir. Ein Traum? Nein: Immer, wenn mir dieser Verdacht in einem Traum kommt, verwandelt er sich in einen Klartraum. Doch das funktioniert diesmal nicht. Ich wache nicht auf, weder im Traum noch im Bett. Und doch ist es irreal.

      »Kannst du was anfangen damit, Cory? ›Untergang der Postmoderne‹?« Die Stimme hat etwas Drängendes.

      »Das Korridorium …«

      »Japp. Davon rede ich. Soll ich ’ne Facharbeit drüber schreiben.«

      »Das Korridorium …«, setze ich erneut an, aber ich verstumme, denn mit einem Mal wird mir klar, dass ich das Korridorium und alle Geschichten darin geschrieben habe. Ich bin das nicht, sondern ich habe es erdacht. Ja, so muss es gewesen sein. Daher die widersprüchlichen Erinnerungen: Geschichten, die ich mir alle nur ausgemalt habe.

      »Wo bin ich?«, frage ich in den gebogenen Gang. Es sind Türen da – habe ich sie vorher nicht bemerkt? Sie tragen Nummern, wie in einem Hotel. Dabei fühlt es sich eher an wie eine Bibliothek, wie der Korridor zwischen den Bücherregalen, und so riecht es hier auch. Ein Hotel, das nach Büchern riecht. Gar nicht schlecht eigentlich. 398 steht auf der Tür. Ich drücke die Klinke herunter, aber sie ist verschlossen.

      »Überall und nirgends. Du bist ein Y?ulíng mit der Aufgabe, mir bei der Facharbeit zu helfen. ›Postmoderne‹, der Teach spinnt doch!«

      Auch die nächste Tür ist verschlossen. Und die nächste. Und so fort. Jede trägt die gleiche Nummer. 398. Vielleicht bin ich verrückt geworden? Oder tot.

      »Jetzt sag schon: Was ist postmodern an deinem Geschreibsel, und inwieweit spiegelt das den Untergang wider?«

      »Was ist ›Teach‹?«

      »Mein Deutsch-Teach. Tut aber nichts zur Sache. Die wird nie von dir erfahren. Ich hab dich mit Hilfe deiner Texte rekonstruiert. Private Y?ulíngs sind zwar verboten laut J?ngshénrechts-Charta, aber das ist ja hier sozusagen ein Notfall.«

      Rekonstruiert? Ich laufe den Korridor entlang, rüttle an verschlossenen Türen, die alle die 398 tragen – dazu meine durcheinanderwirbelnden Erinnerungen an einen Haufen Hippies, die Pest, an ein Endlager für Atommüll, an die Arche Noah …

      »Eine Rekonstruktion?«

      »Japp. Hab hier am Labor-Táishì meines Vaters einfach einen Blanko-Mind genommen, mit deinen Texten gefüttert

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