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Alptraum

      Nachts plagt mich wieder der Albtraum, den ich schon lange nicht mehr geträumt habe. Ein alter Mann steht vor mir, er spricht in Zahlen. Die Zahlen fallen wie glühende Steine aus seinem Mund. Es fühlt sich alles wie unter Wasser an, alles passiert wie in Zeitlupe. Rote Blitze züngeln um das Haupt des Weißhaarigen. Er explodiert in Zorn und Hass, nimmt eines der Kinder die auf den Schulbänken sitzen, und donnert es mit dem Kopf auf das Pult, der Kopf zerbirst. Dabei schreit er die Rechenaufgabe, die niemand verstehen kann und auf die es keine Antwort gibt. Schweißgebadet wache ich auf, wie jedes Mal wenn ich diesen Traum habe. Diesmal war das Kind nicht mehr ein beliebiges, es war Carla. Und das Kind, das neben ihr auf der Schulbank sitzt, bin ich. Mit einem lauten Schrei fahre ich hoch. Ich zittere am ganzen Körper, ich kann gar nicht mehr damit aufhören. Schließlich gelingt es mir mich über langsam atmen zu beruhigen.

      Ich liege im Bett und denke an Carla. Mir steckt der Schreck in den Knochen. Ich zermartere mir das Hirn was ich hätte anders machen sollen, um zu verhindern, dass sie springt. Hätte ich mit der Mutter von Carla einfach mal Tacheles reden sollen. Ich höre sie noch höhnen, mit ihrem knallroten Lippenstiftmund verächtlich nach unten gezogen. Sie stöckelte in meine Sprechstunde in ihrem blauen Kostümchen und den teuren Schuhen. Jedes Haar in ihrer blonden Frisur an der absolut richtigen Stelle. Der Model Typ, blond, klinisch rein, rational und emotionslos.

      Ich bitte Frau Faber, Carla etwas mehr Raum zu geben, dass sie auch mal Freizeit hat und nicht immer nur lernt: „Mit ihrer Einstellung, liebe Frau Ansorge“, sie musterte mich von oben bis unten, „kommt man nicht sonderlich weit, wie man sieht“, leicht belustigter Blick auf meine Birkenstockschuhe, und meine ungebärdige Frisur und das ungeschminkte Gesicht.

      Mir ist das Herz schwer: „Was ist das für ein System, in dem ein Mensch aus dem Fenster springen muss, weil er ein paar beschissene Aufgaben nicht rechnen kann, die ihm eigentlich nicht erklärt wurden.“

      Mir ist übel vor lauter Grübel. „Hallo, das reimt sich ja, stelle ich fest.“ Ich wälze mich noch ein bisschen hin und her Ich schaue auf meinen Wecker. Halb zwei. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr. Ich beschließe aufzustehen, gehe in die Küche und mache mir einen Tee.

      „Gut, dass ich heute nicht in die Schule muss, das würde ich nicht aushalten. “ Um sieben gehe ich nach unten und hole das Main-Echo.

      Blödes G8, grummle ich, als ich die Schlagzeile in der Zeitung lese. Aschaffenburger Gymnasiastin springt aus dem Klassenzimmerfenster in den Tod. Schulstress bringt unsere Kinder um! Eltern und Schüler fordern: Schafft G8 ab!

      Ich lese gespannt den Artikel. Blums Konterfei prangt auf der Titelseite. Wo sie das wohl so schnell herbekommen haben?

      Carlas Mutter wird zitiert: G8 ist schuld, die nachlässige Schulleitung, der inkompetente Mathematiklehrer und die Krönung ist: „Aber ich wollte doch nur ihr Bestes.“

      Irgendwann übermannt mich der Hunger. Ich habe schließlich seit gestern früh nichts mehr gegessen.

      Natürlich habe ich nichts mehr zu Essen im Haus und wenn es mir nicht gut geht, brauche ich unbedingt Seelennahrung und zwar in stofflicher Form. Das ersetzt den besten Psychologen. Ich schaue auf die Uhr, es ist schon nach acht. Dann raffe ich mich auf und gehe in die Stadt.

      Von der Fischergasse aus, laufe ich den Güterberg hoch, am alten Krankenhaus vorbei. Mein Ziel ist der Schwarze Riese, mein Lieblingskaffee schon seit meiner eigenen Schulzeit. Ich brauche dringend einen guten Kaffee und ein ordentliches Frühstück. Schon als ich am Parkhaus Alexandrastraße vorbei gehe, höre ich lautes Geschrei und Gegröle. Ich wundere mich, was das soll. Ich biege in die Sandgasse ein und werde beinahe von einem Polizeiauto angefahren. Hinter dem Auto her läuft eine wilde, Parolen grölende Menge. Alle sind im Schulalter.

      Jetzt verstehe ich auch, was sie da schreien, es ist nur ein Wort. Sie schreien „Carla“ und hauen dabei auf Trommeln, Kochtöpfe und alles was Krach macht. Ich frage den ersten, den ich kenne. „Sag mal, wie habt ihr das so schnell organisiert? “ „Facebook, ist doch klar. Das ist ein Flashmob.“ Ich bin entzückt. Schüler jeden Alters sind dabei, einige vermummt, mit Sturmkappen auf, wie früher bei der RAF, einige sind in Trauer und schwarz angezogen. Sie schleppen große Plakate und bemalte Betttücher mit sich herum: „Dein Tod war nicht umsonst, Carla!“, liest man, oder „Wir wollen eine menschlichere Schule!“ Ein paar Witzbolde haben ein Plakat mit der Aufschrift: „ Stoppt die Verblödung durch Schlaumeierei!“ Eine mir besonders sympathische Gruppe hält ein Plakat hoch, auf dem zu lesen ist, „Mädchen gegen Mathe!“

      Da laufe ich gleich mit. Eigentlich darf ich nicht, weil ich ja Staatsdiener bin, aber in diesem Fall, muss ich da mal eine Ausnahme machen. Ich nehme einem verdutzten Demonstrant die Skimütze mit den Augenschlitzen ab, setze sie auf und reihe mich ein.

      Ach tut das gut, mal so richtig zu grölen. Auch ein Staatsdiener sollte sich ab und zu Luft machen dürfen. Bevor die Kundgebung von der Polizei aufgelöst wird, weil ein paar Krawallos anfangen mit Steinen zu werfen, verdrücke ich mich schnell, damit ich nicht in die grüne Minna muss.

      Danach gehe ich schön frühstücken. Ich habe einen Bärenhunger. Im Schwarzen Riesen laufen schon heftige Diskussionen über die aktuelle Schulsituation und die Demo. Ich diskutiere natürlich mit, denn ich verfüge schließlich über Informationen aus erster Hand.

      Mathematik im Kreuzfeuer

      Am nächsten Morgen können wir nicht in die Schule. Es wird nämlich immer noch gestreikt. Demonstranten versperren den Eingang zur Schule. Sie wedeln wild mit Plakaten auf denen stehen Sachen wie: „Nieder mit G8!“ und „Ihr macht unsere Kinder kaputt!“. Die Polizei hat Absperrbänder aufgehängt, damit niemand der Schule zu nahe kommt. Denn ein paar der Demonstranten sind mit Eiern, Tomaten und Farbbeuteln bewaffnet und würden gerne mal ein bisschen werfen. Ich staune, das ist ja wie in Frankreich! Ich sollte vorsichtshalber mein Auto wegfahren, falls es jemand umwerfen will. Unter Polizeischutz versuchen Herr Herrlich und ein Herr Quast unser Konrektor die Menge zu beschwichtigen. Das hat natürlich die gegenteilige Wirkung und die Schlacht beginnt.

      Wir Lehrer und die nicht demonstrierenden schulwilligen Kinder und Jugendlichen weichen zurück, während die beiden Herren in Deckung gehen. Die Polizei hat Mühe die Lage wieder in den Griff zu bekommen.

      Schließlich grölt ein Polizist durchs Megaphon: „Die Schule bleibt bis Montag geschlossen, bitte verlassen sie sofort das Gelände!“

      Ein Reporter vom Lokalsender macht Interviews. Er versucht uns Lehrer zu Kommentaren zu animieren. Wir sind jedoch gehalten keine Kommentare abzugeben. Schade oder? Er interviewt dann Schüler. Die natürlich allesamt behaupten, dass es schön ist, wenn man schulfrei hat. Mal sehen, ob sich die Lage wieder entspannt.

      Weit gefehlt, die Aschaffenburger Demonstration geht nicht nur weiter, sie hat auch einen richtigen Flächenbrand ausgelöst. Die drei anderen Gymnasien der Stadt und die im Landkreis werden am nächsten Tag ebenfalls bestreikt. Die Protestaktionen dehnen sich im Laufe der Woche sogar auf ganz Bayern aus. In Freising ketten sich zwei Zehntklässler während des Mathematikunterrichts an den Fensterrahmen. Sie stehen den ganzen Vormittag über draußen auf dem Fensterbrett, bis es die Polizei schafft sie wieder loszumachen.

      In Würzburg kann man eine andere Mitbewegte gerade noch daran hindern aus dem Fenster zu springen. Allerdings findet die Aktion im Erdgeschoss statt. Man hätte sie also auch springen lassen können.

      Beides wird im Fernsehen gezeigt. In den gängigen Tageszeitungen und Zeitschriften wird fleißig kommentiert. Man fragt sich zum Beispiel, warum Frau Hohlmeier, deren Kinder ja bekanntlich ohne Stress die Waldorfschule besuchen durften, von der Bildfläche verschwand, nachdem sie G8 durchgefochten hatte. Das ist echt schade, so kann ihr niemand mehr den Hintern verhauen wegen dieser dämlichen G8 Idee.

      Am Wochenende sitze ich mit meiner ältesten Tochter am Küchentisch. Frauke macht mal wieder Urlaub von ihrem Freund: „Mama, der nervt, ständig sitzt er am Laptop und spielt.“

      Sie sitzt bei mir in der Küche und liest mir aus dem Main-Echo vor. „Das hat richtig Wirbel gegeben“, kommentiert sie. „Was?“, ich lese die Schlagzeile,

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