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Schulzeit. Wir waren beide hier an diesem Gymnasium als Schüler in derselben Klasse. Sein Spitzname war Blümchen. Keiner nahm ihn besonders ernst. Blum kompensierte seine Komplexe wohl durch „ich kann gut rechnen“ er tauchte tief in die Welt der Mathematik ein und nie wieder auf. Jeder Mathelehrer war sein Gott. Er stand immer vor dem Lehrerzimmer und holte sie zum Unterricht ab und schleppte ihnen die Tasche hinterher. Nach dem Abitur studierte er Mathematik in Würzburg. Ich glaube sogar, man hat ihm nach dem Studium, als er nicht wusste welchen Beruf er ergreifen sollte, auf dem Arbeitsamt empfohlen Lehrer zu werden, damit er seine Schüchternheit überwindet. Und seither hat sich kaum etwas geändert. Außer der Mathematik existiert für ihn so gut wie nichts Anderes und mit Menschen kommt er nicht gut aus.“ „Wie war er denn als Lehrer?“ möchte Herr Schneider gerne wissen.

      „Man muss sich das ungefähr so vorstellen. Kleiner Kerl, mit unstetem Blick hinter einer dicken Brille eingesperrt, rast vollkommen konfus in irgendein Klassenzimmer. Wenn er das richtige trifft, ist das Glückssache, denn er hat den Orientierungssinn eines Maulwurfs, den man dem Tageslicht aussetzt. Er wirft die Büchertasche auf sein Pult, murmelt kurz „Guten Morgen“, eine Antwort erwartet er nicht, denn Menschen sind ja wie gesagt nicht sein Ding und dann kritzelt er eine Formel an die Tafel, von der er glaubt, sie wäre selbsterklärend. Anschließend nuschelt er: „So, jetzt schlagen Sie mal das Buch auf, probieren Sie doch einmal aus, ob die Formel greift.“ Erschöpft von der wilden Aktion, setzt er sich ans Pult und ruht sich erst mal aus. Wenn er Noten verkündet, klingt das ungefähr so: „Der Schüler steht im schriftlichen, auf 4,56 und im mündlichen auf einer 4,51. Das ist summasummarum eine fünf. Damit fällt er durch! Wenn ich nach Herrn Blum, Blümchen ist übrigens auch sein aktueller Spitzname bei den Schülern, in eine Klasse komme, brauche ich meistens eine Viertelstunde, bis sich die Schüler von diesem mathematischen Wunderknaben wieder erholt haben. Er ist schon extrem der Meinrad. Aber mathematisch ist er ein Genie.“

      Der Psychologe lobt mich: „Sie können ja wirklich sehr bildhaft erzählen. Sie könnten auch als Komiker arbeiten.“ „Tue ich doch, Animateur ist eine der zusätzlichen Qualifikationen, die ein Lehrer heutzutage mitbringen muss.“ Ich denke noch einmal nach. Dann fällt mir auch noch etwas ein: „Er kann nicht erklären. Das hat ihm an der Uni keiner beibringen können. Vielleicht können Mathematiker auch generell nicht erklären. Was das Erklären betrifft, war er auch schon immer beratungsresistent. Es hat auch schon etliche Gespräche und Mahnungen seitens der Schulleitung gegeben um dem abzuhelfen. Immer wieder haben Eltern und wohlmeinende Kollegen an seine Tür geklopft, um ihn auf dieses kleine Detail aufmerksam zu machen. Aber nein, geändert hat sich nichts. Natürlich gab es auch immer wieder Beschwerden seitens der Eltern. Als Beratungslehrerin musste ich oft zwischen Blum, genervten Eltern und betroffenen Schülern vermitteln. Aber seit G8 ist das weniger geworden. Die Eltern schlucken mehr.“

      Ich lehne mich entspannt zurück und ziehe das Resümee aus meiner langen Rede. „ Die Zahl der pädagogischen Opfer von Herrn Blum geht, wie es der Mathematiker ausdrücken würde, gegen Unendlich. “ Herr Schneider schaut mich wegen dieser Formulierung fassungslos an. „Das haben Sie ja gut auf den Punkt gebracht. Wie war eigentlich das Verhältnis von Fräulein Faber zu Herrn Blum?“, schleust mich der kleine Mann weiter durch sein Interview.

      „Die Carla hatte er auf dem Kieker, wahrscheinlich, weil sie selbst kein Wässerchen trüben konnte. Die Märchenfee vom Godelsberg“, hieß sie bei ihm, Godelsberg, weil sie aus diesem High Society-Stadtteil kommt und Märchenfee, weil sie so nervös in ihren Proben war, dass sie nur Blödsinn gerechnet hat. Und vor lauter Aufregung, ist ihr gar nicht mehr aufgefallen, was sie da verzapft hatte. Sie hat es sogar in die Schulzeitung geschafft mit ihrer Antwort auf eine Frage in einer Physikschulaufgabe:

      Die Frage war glaube ich: Wie lange braucht eine Gewehrkugel, um ein Ziel zu erreichen, das in 200 Meter Entfernung aufgebaut ist? Ihre Antwort war: 4 Tage, 1 Stunde und 33 Minuten.

      Herr Blum hat sie damit vor der Klasse bloß gestellt: „Nur, wenn die Kugel dreimal um den Erdball saust, bevor sie ihr Ziel erreicht.“ Das war dann für drei Wochen der Running Gag an unserer Schule. Meine Meinung ist, dass er sie gezielt gemobbt hat. Carla hat außerdem eine sehr ehrgeizige Mutter. Da ich Vertrauenslehrerin bin, durfte ich sie persönlich kennenlernen. In unserem letzten Gespräch zusammen mit Meinrad wollte sie bessere Noten für Carla herausschlagen.“ Ich äffe ihren arroganten Ton nach: „In unserer Familie gab und gibt es ausschließlich Akademiker. Mit weniger werden wir uns auch nicht zufrieden geben. Meine Tochter Carla wird das Abitur selbstverständlich mit Auszeichnung schaffen, dafür werde ich schon sorgen und wenn ich mit dem Anwalt komme!“ Dann hat sie mich noch arrogant von oben herunter angestarrt und hat dann klar gestellt: „Und jetzt möchte ich, dass wir hier alle zusammenarbeiten, damit dieses Mathematikproblem endgültig aus der Welt geschafft wird.“

      Meine Darbietung hat Herrn Schneider gefallen. Der Psychologe schmunzelt. „Wie ist es weitergegangen?“ „Mutter Faber und der Mathematiker haben Nachhilfestunden vereinbart“, erzähle ich weiter. „Ich fand das einfach unmöglich. Die beiden kamen doch sowieso nicht miteinander klar. Es war mir direkt mulmig dabei, dass Carla auch noch privat von ihm unterrichtet wird und habe deshalb einen anderen Nachhilfelehrer vorgeschlagen, jemand, der neutral wäre. Am besten eine Frau, da Frauen oft für Mädchen verständlicher erklären können. Aber Mutter Faber witterte wohl den Vorteil, dass sie den Herrn Blum dazu bringen könnte, mit Carla die Proben vor zu üben. Da hatte sie sich allerdings getäuscht. Dazu ist er zu korrekt und der Mathematik zu sehr ergeben. Falsche Ergebnisse, das ist nichts für einen Mathematiker.“

      Der Psychologe nickt versonnen. „Diese Mutter-Mathematiker Kombination mag mit Sicherheit ein Auslöser für den Selbstmord gewesen sein. Gab es noch andere Komponenten im Leben von Carla, die ihr zugesetzt haben?“ „Ja schon. Carla, war keine starke Persönlichkeit. Sie war der Typ zarte Fee. Sie war schüchtern und wirkte fast durchscheinend. Ich mochte sie, sie war ein einfühlsamer und sensibler Mensch. Außerdem litt sie darunter, dass sie kaum Anschluss in ihrer Klasse hatte, weil sie als überbehütete Tochter aus gutem Hause nicht mit den anderen mitdurfte. Sie musste zuhause bleiben und lernen. Bei den Mitschülern war sie trotzdem beliebt.”

      „Gab es noch andere Vorfälle, Herrn Blum betreffend, an ihrer Schule?“ Ich denke kurz nach. „Ja stimmt, da war schon einmal die Polizei involviert.“ Ich erinnere mich und lächle dabei.

      „Einmal ist uns ein Schüler abgehauen, nach einem Streit mit Herrn Blum. Er lief aus dem Unterricht weg und war nicht mehr auffindbar. Wir schalteten natürlich die Polizei ein und er wurde gesucht. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er geradewegs zum Bahnhof gelaufen war und als blinder Passagier nach Berlin gefahren ist. Nach zwei Tagen meldete seine Oma, dass ihr Enkel eingetroffen wäre und die Familie beschloss, dass Anselm bei seiner Oma in Berlin bleiben würde, um dort an eine freie Schule zu gehen. Es gab noch ein paar unbedeutendere Zwischenfälle, die jedoch keinen Polizeieinsatz zur Folge hatten“, schließe ich meine Rede ab.

      „Und wie ging es ihnen mit Herrn Blum“, fragt mich der Psychologe? „Na ja, ich komme ganz gut mit ihm aus, er hört mir schon zu, wenn wir über einen Schüler sprechen. Aber er setzt nichts um. Ab und zu ärgere ich ihn, weil er immer so schön rot wird“, gebe ich zu. „Das ist er aber noch aus unserer gemeinsamen Schulzeit gewohnt. Das steckt er gut weg.“ Ich bin ganz außer Puste, wegen der Leidenschaftlichkeit meines Vortrags. Was ich wieder mal alles weiß!

      Jetzt scheint der Herr Schneider auch genug gehört zu haben. Er bedankt sich für die Information und verabschiedet mich. Als ich schon an der Tür bin, sagt er: „Sie wissen schon, dass sie etwas verdrängen.“

      Ich schlucke: „Mir geht der Moment, als sie sich umdrehte nicht mehr aus dem Kopf und ich zermartere mir das Hirn, ob ich etwas hätte besser machen können. “

      Der Psychologe nickt: „Das ist ein verbreitetes Phänomen, das geht den meisten Krisenhelfern so. Machen sie sich keine Vorwürfe. Sie haben sicherlich ihr Bestes versucht“. Er steht auf und reicht mir die Hand: „Wenn sie Hilfe brauchen, können jederzeit bei mir vorbeikommen. Ich beraume ihnen sofort einen Termin ein. Hier ist meine Karte.“ Er reicht mir die Visitenkarte über den Tisch. Ich nicke höflich: „Das ist sehr freundlich von Ihnen, wenn ich selbst nicht mehr klar komme,

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