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Die vom Tod verschmähte Katze. Matthias M. Rauh
Читать онлайн.Название Die vom Tod verschmähte Katze
Год выпуска 0
isbn 9783738091663
Автор произведения Matthias M. Rauh
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Zwei Tage lang ging das Spiel mit den nicht gestellten Fragen und den noch weniger gegebenen Antworten weiter. Zwei Tage, in denen der Alte so tat, als hätte die Auseinandersetzung mit dem aggressiven Widerling nie stattgefunden.
Valentin hatte inzwischen sämtliche Bücher abgestaubt und dabei keine einzige Papierkäferlarve gefunden. Dachte er zumindest. Seine neue Aufgabe bestand nämlich darin, die vielen Lücken in den Bücherregalen mit neuen, oder besser, neuen alten Büchern aufzufüllen. Und kaum hatte ihm der Alte den verdammten Staubwedel in die Hand gedrückt, da passierte etwas, das Valentin nie für möglich gehalten hätte. Seelenruhig ging Herr Zacharias zur riesigen Standuhr und zog einen überdimensionalen Schlüssel heraus. Dieser gehörte zu einer der beiden Kammern - aber es war ganz bestimmt nicht jene, die die Aufmerksamkeit des Landstreichers erregt hatte. Eine wenig meisterliche Schlüsselumdrehung später konnte Valentin sehen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag: Diese Kammer war nur mit weiteren Büchern gefüllt - einem wahren Gebirge aus Büchern.
"Ich habe diese Schriften vor einiger Zeit aus dem Nachlass einer alten Dame erstanden", erklärte Zacharias. "Sie müssen sie entstauben, nach Papierkäferlarven absuchen und dann in diese Regale hier einordnen. Natürlich in alphabetischer Reihenfolge, Herr...äh..."
"So viele?", stöhnte sein Gehilfe leise und ließ die Schultern hängen. "Super..."
In diesem Raum war es noch kälter als im übrigen Laden, so derart eisig, dass die Kälte hier schon förmlich über den Boden kroch. Eine gute Gelegenheit, dem Antiquitätenhändler eine nicht ganz unberechtigte Frage zu stellen: "Warum ist es in Ihrem Geschäft eigentlich immer so kalt?"
Herr Zacharias runzelte die Stirn. "Kalt, sagen Sie? Hier ist es doch nicht kalt, Herr...äh..."
"Na, dann sehen Sie doch mal auf das Wetterhäuschen dort, wir haben hier nur schlappe 13 Grad."
"Nein, nein, nein. Sie irren. Es sind 13, 2 Grad Celsius", verbesserte ihn der Alte.
"Aha. Und warum?"
"Weil dies eine angemessene Temperatur für all diese Gegenstände ist", erklärte sein Gegenüber. "Meine Aufzeichnungen über die Uhren beziehen sich nämlich grundsätzlich auf diese Temperatur. 13, 2 Grad Celsius, wobei die maximale Abweichung nicht mehr als ein halbes Grad betragen darf. Dies wäre nämlich eine Katastrophe."
"Aha."
"Sie müssen wissen, dass mechanische Uhrwerke sehr stark auf Temperaturschwankungen reagieren. Das Material verändert sich bei Wärme, so dass die Uhren dann meist ein wenig länger laufen. Das Chronographenkompendium aber ist auf exakt 13, 2 Grad geeicht. Außerdem ist diese Temperatur gut für das Papier der Bücher. Es altert langsamer. Und Schädlinge wie der Papierkäfer fühlen sich bei dieser Temperatur nicht besonders wohl."
"Aha. Sie benützen also eine Klimaanlage?"
"Wie bitte? Nein, etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen."
"Wie schaffen Sie es denn dann, dass..."
"Vergessen Sie nicht, Herr...äh...", würgte der Mann die Frage einfach ab. "Sie müssen die Bücher sorgfältig entstauben und nach Papierkäferlarven absuchen, bevor Sie sie einordnen. Und äußerste Vorsicht bitte, einige dieser Werke sind noch handschriftlich verfasst."
"Ja, mach ich", stöhnte sein Gehilfe. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn Herr Zacharias bei seinen Antworten ähnlich großen Wert auf Präzision gelegt hätte wie bei seinen Uhren.
So machte er sich wieder an seine Arbeit. Der Alte setzte sich in seinen Ohrensessel und nahm bei Zeiten einen Blick in das Chronographenkompendium, um zu sehen, welche seiner geliebten Schützlinge als nächste mit den Zeichen der Zeit haderten.
Und wie Valentin erneut die Zeit verstaubwedelte, da wurde ihm bewusst, dass Herr Zacharias längst zum Gefangenen seiner tickenden Gesellschaft geworden war. Stunde um Stunde verstrich in diesem Laden, während das wahre Leben draußen vor dem Schaufenster vorbeizog. Es würde sich an diesem Ort nichts, aber rein gar nichts ändern, selbst wenn er noch Jahrzehnte hier verbringen sollte. Er würde Bücher abstauben, nach Papierkäferlarven Ausschau halten, in Windeseile altern und auf die nächste Fuhre Bücher warten. Bis der Tod ihn schließlich, aus reiner Barmherzigkeit...
Der Junge schluckte. Schon wieder so ein Gedanke an den Sensenmann.
Eine gewisse Aloisia Krah war im September 1907 auf ein Pensionat zur Erziehung frommer Mädchen geschickt worden - das war die einzige Erkenntnis, zu welcher er beim Einordnen der Bücher kommen sollte. Frau Aloisia Krah - das war wohl der Name der alten Dame, aus deren Nachlass all die Bücher stammten. Und sie war offenbar tatsächlich wohlerzogen worden, schließlich hatte sie sich die Mühe gemacht, in jedes einzelne Buch ihren Namen zu schreiben - mit Feder und Tinte, in einer äußerst penibel ausgeführten Handschrift.
Doch das nützte ihr nichts mehr. Sie war tot und die Bücher wohl das Einzige, was daran erinnerte, dass sie überhaupt jemals existiert hatte. Gelangweilt ordnete er ihren Nachlass in die Regale ein. Am Ende des Tages war die bemitleidenswerte Dame in insgesamt sieben Bücherregale verteilt worden, wie ein Gespenst, dessen Schicksal es war, die Ewigkeit zeigerweise ertragen zu müssen. Sekunde für Sekunde, Woche für Woche, Jahr für Jahr, tickend, bis ans Ende aller Tage.
Als er am nächsten Tag in das Antiquitätengeschäft zurückkehrte, gab sich Herr Zacharias äußerst wortkarg. Er gab seinem Angestellten eine Aufgabe (Bücher abstauben und nach Papierkäferlarven Ausschau halten) und setzte sich in seinen geliebten Ohrensessel, um zu sehen, was die Tageszeitung vom 28. August 1864 so alles zu berichten wusste. In der Regel dauerte diese Schmökerstunde von Punkt acht bis Punkt neun, mit der kleinen Ausnahme, dass eine Uhr, die in diesem Zeitraum aufgezogen werden musste, natürlich Vorrang hatte.
Diesmal aber legte der Antiquitätenhändler das vergilbte Stück Zeitgeschichte schon nach fünf Minuten zur Seite und stellte sich anschließend an verschiedene Orte seines Ladens. Irgendetwas schien ihn zu stören. Er schien jedoch nicht darauf zu kommen, blätterte mit ernstem Blick im Chronographenkompendium und wiederholte dann seinen Kontrollgang durch alle nur erdenklichen Winkel seines tickenden Gruselkabinetts. "Seltsam", meinte er schließlich.
"Was?", fragte Valentin.
"Hören Sie das nicht, Herr...äh..?"
Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Alte meinte.
"Na, die Uhren", erklärte Herr Zacharias. "Hören Sie das nicht? Sie ticken heute anders."
Sein Angestellter verkniff sich ein Kopfschütteln. Und er war überzeugt, dass es ganz sicher nicht die Uhren waren, die hier nicht richtig tickten. Aber was kümmerte es ihn? Der Alte würde sich schon wieder beruhigen. Dachte er...
"Das ist doch...potztausend!"
Wie von einer Natter gebissen, hechtete Herr Zacharias zu einer Kommode, stürzte sich auf einen kleinen Wecker und starrte dann wie vom Donner gerührt auf dessen Ziffernblatt.
"Stehengeblieben! Stehengeblieben!", zeterte er.
Valentin zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Plötzlich stürzte der Alte zum Tisch der Registrierkasse, wo das Chronographenkompendium lag. Schnell, ja geradezu panisch blätterte er es durch und schimpfte dabei leise vor sich hin. "Das darf doch nicht...das kann doch nicht...so eine Nachlässigkeit...das ist unverzeihlich..."
Das Buch hatte offenbar keine passende Antwort für ihn parat. Völlig verwirrt schlug er es wieder zu, kratzte sich am Kopf und starrte den stillen Wecker erneut mit weit aufgerissenen Augen an.
"Hat man dafür noch Worte? Fälligkeit am 1. September, 17 Uhr 33 und 19 Sekunden!"
Er eilte zum Wandkalender, dann zur Standuhr und rief aufgebracht: "Heute ist der 28. August, acht Uhr 26 und 27 Sekunden!" Und schon hechtete er zurück zum Corpus delicti und kontrollierte zum dritten Mal dessen Zeigerstellung.