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Windenau und der kleine Erwin von der Schillerapotheke. Diese Mitschüler verhielten sich ganz normal, wie alle anderen in der Klasse; jedoch waren sie für Höheres vorgesehen. Nach der vierten Klasse verließen sie die Volksschule in Oggersheim und besuchten fortan das Gymnasium in Ludwigshafen. Damals war es nur wenigen Volksschülern vergönnt, auf eine sogenannte Oberschule zu wechseln; zumal das Gymnasium Schulgeld kostete. Meierhofers Bernd hatte die Erlaubnis seiner Eltern erhalten, einige Schulfreunde zu einer Abschiedsfeier bei sich zu Hause einzuladen. Paul gehörte auch zu diesem Kreis. Vorauszuschicken ist, dass das Meierhoferbräu an der Schillerstraße sowohl die Privatbrauerei, die Brauereigaststätte sowie die Brauereivilla, als geschlossenes Ensemble mitten im Ort gelegen, umfasste und den Besitzern einen für damalige Verhältnisse im Jahre 1951, beneidenswerten Wohlstand bescherte. Aus seinen bescheidenen Wohnverhältnissen in der Beethovenstraße kommend, betrat Paul an diesem Nachmittag ein Wunderland. Bernd Meierhofers Eltern hatten ihrem Sohn bei dem schönen Wetter im Lampion geschmückten Hof der Villa einen Tisch eingedeckt und die fünf Schüler, die Bernd eingeladen hatte, mit Torte und Limonade traktiert. Es sollte später, wie Paul hörte, noch eine große Feier für Bernd geben, zu welcher Freunde der Familie eingeladen waren und welche im Hause an der langen Tafel im Esszimmer der Villa stattfinden würde. Paul wunderte sich über solch einen Aufwand, nur für den Schulwechsel des kleinen Bernd. Der Höhepunkt für Bernds Schulfreunde bestand dagegen, nach all den Kuchenbergen und vielen Süßigkeiten, darin, dass Bernd die Freunde ins Haus bat, sie durch die prächtigen Räume führte und mit ihnen die Treppe ins Untergeschoß hinab stieg. Gleich bei der ersten Tür im Flur blieb er stehen und sagte: „Ihr dürft mir aber nichts anfassen, sonst könnt ihr sofort gehen.“ Paul rätselte noch darüber, was diese Warnung bedeuten könne, als die Tür aufging. In dem dahinterliegenden Raum tat sich ein Wunderland auf. Die Blicke fielen auf eine riesige Modelleisenbahnanlage, bestehend aus einer Miniaturlandschaft mit Bergen, Häuschen und Straßen, und vor allem mit zahlreichen Eisenbahngleisen, die durch Bahnhöfe und in Tunnels, über Brücken und Weichen, führten. Eisenbahnzüge der Marke Märklin bevölkerten die Gleise und setzten sich plötzlich in Bewegung, nachdem Bernd auf einen großen roten Knopf gedrückt hatte. „Es ist alles automatisiert“, sagte jetzt Bernd zu den anderen. „Gehört das alles dir?“ fragte Paul zurück. Bernd nickte stolz. Die Demonstration dauerte etwa fünfzehn Minuten, die die sogenannte Nacht als High Light hatte, bei der das Raumlicht aus und die vielen Lämpchen der Anlage eingeschaltet wurden. Ein grandioser Anblick, wie die Züge mit beleuchteten Wagen durch die Dunkelheit fuhren! Dann ging das Licht wieder an. Bernds Mutter stand in der Tür und drängte die Fünf zum Aufbruch, ohne Bernd gefragt zu haben. Der sah immer noch stolz aus und erhob keinen Widerspruch. Jeder der Schulfreunde erhielt noch eine Tüte mit Süßigkeiten. Dann schloss sich das große Tor zum Hof hinter ihnen. Paul sollte nie wieder mit Bernd Kontakt haben. Dieser gehörte fortan zu einer anderen Klasse.

      Nach der sechsten Klasse wechselte Paul mit der Hälfte seiner Klassenkameraden von der Schillerschule zur neuen, kleineren Schlossschule, wo man die Konduktion ausprobieren wollte. Aus einer Mädchen und einer Jungenklasse wurden so zwei gemischte Klassen. Es funktionierte erstaunlicherweise gut, vielleicht weil in Pauls Klasse die alten Anführer in der Parallelklasse landeten. Paul empfand jetzt die Harmonie in seiner Klasse, die sich dort schnell zwischen Schülerinnen und Schülern entwickelte, als sehr wohltuend. Wahrscheinlich trug auch der Lehrer, Herr Hansen, viel dazu bei. Dieser, kurz vor der Pensionierung stehender Pädagoge, war von Altersmilde und Verständnis für die Schüler geprägt. Seine Unterrichtsmethode bestand vor allem darin, kleine Gruppen, stets ausgewogen mit der gleichen Anzahl von Mädchen und Jungen, zusammenarbeiten zu lassen. Am beliebtesten war der Sachkundeunterricht bei Herrn Hansen. Beispielsweise mussten die Schüler die Funktionsweise eines Viertakt-Ottomotors an einem selbstgebauten, zweidimensionalen Modell demonstrieren. Paul ging jetzt sehr gern zur Schule. Da beschlossen Pauls Eltern von Oggersheim in die Innenstadt von Ludwigshafen umzuziehen, wo eine vernünftige Wohnung und für Vater Emil ein kürzerer Weg zur Arbeitsstelle in der BASF warteten.

      Oggersheim

      Oggersheim, das seit etwa dem Jahr 1317 die Stadtrechte besaß, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Man muss sich Oggersheim nach Kriegsende so vorstellen: Der Ort blieb vor Zerstörungen verschont. Es war überwiegend mit kleinen Häusern bebaut, viele renovierungsbedürftig, die oft mit einem niedrigen Sanitärkomfort ausgestattet waren. So lagen viele Plumpsklosetts oft außerhalb des Hauses. Die Straßen waren in der Regel unbefestigt; nur die Durchgangsstraßen nach Ludwigshafen, Bad Dürkheim und Frankenthal trugen eine Fahrbahndecke aus Pflastersteinen. Mittelpunkt des Ortes war der Schillerplatz, der zu Ehren des großen Dichters, welcher auf der Flucht vor seinem württembergischen Landesherrn Herzog Carl Eugen, im Jahre 1782 für siebeneinhalb Wochen in Oggersheim nächtigte, dessen Namen trug. Friedrich Schiller, ein fahnenflüchtiger Regimentsarzt und im Begriffe einer der größten deutschen Dichter zu werden, der bereits mit seinem Theaterstück Die Räuber bei der Uraufführung im Mannheimer Nationaltheater im Januar 1782 einen ersten Erfolg hatte, hoffte auf die Aufführung eines weiteren Stückes: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Leider vergeblich. Während der kurzen Aufenthaltszeit in Oggersheim schrieb er an dem Drama Kabale und Liebe.

      Weiter erwähnenswert war die kleine Schloss und Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt von 1774, die das bedeutendste Bauwerk in Oggersheim darstellte und bis heute der katholischen Bevölkerung als beliebtes Gotteshaus dient, unter anderem dem in der Weimarer Straße wohnenden Exkanzler Kohl, den man früher sonntags dort sehen konnte. Die Kirche überstand übrigens als einziger Teil der Schlossanlage den von französischen Truppen 1794 verursachten Brand. Ja, Oggersheim besaß früher ein Schloss mit einem prächtigen Barockgarten. Hier residierte ab 1768 die Kurfürstin Elisabeth Auguste, die von ihrem Ehemann Kurfürst Karl Theodor nach Oggersheim abgeschoben wurde, damit der im Jahr 1778 ungestört die bayerische Thronfolge antreten und seine Residenz von Mannheim nach München verlegen konnte. Elisabeth Auguste machte das Beste daraus, indem sie das Oggersheimer Schloss zu einem Treffpunkt von Wissenschaft und Kunst entwickelte und viele Feste gab, die von Theater- und Musikaufführungen begleitet wurden. Anfang 1794 war es mit der Herrlichkeit vorbei, als französische Revolutionstruppen Oggersheim erreichten und der Schlosskomplex abbrannte. Elisabeth Auguste war zuvor nach Weinheim an der Bergstraße geflüchtet, wo sie im Sommer des gleichen Jahres verstarb.

      Oggersheim wurde 1938 nach dem etwa sechs Kilometer entfernten Ludwigshafen eingemeindet. Bereits 1853 erhielt der Ort mit der Eröffnung der Bahnstrecke Ludwigshafen Mainz Anschluss an die Eisenbahn und seit 1912 konnte man von Ludwigshafen mit der Straßenbahn nach Oggersheim bis zum Schillerplatz fahren. Eine Besonderheit stellte jedoch die ein Jahr später eröffnete Rhein Haardbahn dar, die von Mannheim kommend, über Ludwigshafen und Oggersheim bis nach Bad Dürkheim fuhr. Bis zum Schillerplatz benutzte sie denselben Gleiskörper wie die Straßenbahn, danach jedoch ging es durch die Schillerstraße hinaus aufs Feld in Richtung Bad Dürkheim. Ab hier bis zu dem bekannten Kur und Weinort hatte sie den Charakter einer Überlandbahn auf Einmeterspur. Auf der anderen Seite des Rheins, in Mannheim, hatte die Rhein Haardbahn übrigens Anschluss an eine ähnliche Bahn, der Oberrheinischen Eisenbahn Gesellschaft, kurz OEG genannt, welche bis Heidelberg fuhr. Es war also möglich, zwischen Bad Dürkheim und Heidelberg die oberrheinische Tiefebene auf der Einmeterspur zu durchqueren. Dies jedoch erst wieder, nachdem die Rheinbrücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim nach Kriegsende hergestellt war.

      Paul liebte dieses eigentlich noch dörfliche Oggersheim wegen mancherlei Dingen, wie sie nur die Nachkriegszeit für Kinder bereithielt. Da waren diese sandigen und steinigen Straßen und Gehwege, auf welchen sich prächtig spielen ließ. Ein beliebtes Spiel war jenes mit Murmeln. Das Klickern ging so, dass ein kleines Loch gebuddelt wurde und die Spieler versuchten, mit einer vorher festgelegten Anzahl von Murmeln aus einem festgelegten Abstand in das Loch zu treffen. Wer nach einer Runde mit den meisten Klicker ins Loch traf oder dessen Klicker dem Loch am nächsten lagen, durfte nun versuchen, nacheinander die einzelnen Murmeln mit einem Schnippen von Daumen und Zeigefinger einzulochen. Ging die Murmel daneben, war der Nächste an der Reihe. Wer die allerletzte Kugel ins Loch beförderte, bekam den ganzen Pott. Besonders begehrt waren die Kugeln aus Glas mit farbigen Streifen und Schlieren, welche gegen mehrere Murmeln aus Ton getauscht werden konnten. Am begehrtesten aber waren die Murmeln aus Stahl, welche

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