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erreicht, und damit die Sicherheit, wenigstens in diesem Augenblick.

      Der große Kampf des Tausendjährigen Reiches lag in seinen letzten Zügen. Drunten in der Ebene brannten die großen Städte. Die Wohnung von Anna in Ludwigshafen am Rhein, der Großstadt, die nach dem bayerischen König Ludwig I. benannt war (die Pfalz gehörte sehr lange zu Bayern), wurde durch Brandbomben zerstört. Das Leben und immerhin die Federbetten wurden gerettet. Anna warf letztere unter Lebensgefahr aus dem Fenster des bereits brennenden Schlafzimmers. Wenigsten etwas vom bisherigen Leben sollte noch ihr gehören, so dachte sie in diesem Augenblick und dieser Gedanke verschaffte ihr den nötigen Mut. Beinahe wäre alles vergeblich gewesen, denn die stets anwesenden, plündernden Mitbürger griffen begierig zu. Die bereits auf der Straße stehenden Kinder von Anna sahen, immer noch entsetzt über die Ereignisse nach dem großen Bombardement, nunmehr, kaum dass die Federbetten auf der Straßenoberfläche auftrafen, wie fremde Leute nach diesen griffen. Sie hörten, wie die Mutter von oben aus der brennenden Wohnung fortwährend schrie: „Nein, mein Gott, nein!“ und begriffen unbewusst, dass sie um etwas Wichtiges beraubt wurden. Instinktiv klammerten sie sich an diese Federbetten und begannen laut ebenfalls zu schreien, von Weinen begleitet. Umstehende Menschen erfassten die Dramatik und griffen ein, die Federbetten rettend. Paul behauptet bis heute, dies sei der Moment gewesen, woran er eine erste, bleibende Erinnerung als kleines Kind habe. Daran, wie die weißen Federbetten über den Schutt der zerstörten Häuser, welcher die Straße bedeckte, gezerrt wurden und schnell eine schmutzige Farbe angenommen hätten. Diese verschmutzten Federbetten, die er doch stets blütenweiß gekannt habe, hätten sich unlöschbar, für immer in sein Gedächtnis eingeprägt.

      Der nächste Erinnerungssplitter betraf die weiteren Folgen der Wohnungszerstörung. Mit den geretteten Federbetten und den Kindern hatte sich Anna von der Innenstadt nach dem Vorort Mundenheim durchgeschlagen, in dem ihre Mutter Katharina, welche die Kinder Oma Kati nannten, wohnte. Hier in der Fürstenstraße fanden sie zwar provisorisch eine Bleibe für die kommende Nacht, jedoch waren ins Haus ebenfalls Brandbomben eingeschlagen und hatten zu Zerstörungen geführt (ohne, dass das Haus abgebrannt war), so dass sie nicht länger bleiben konnten. Paul erinnerte sich, wie die Wohnzimmerlampe schief nach unten hing und in ihm ein Gefühl der Angst auslöste, für die er bis heute keine Erklärung finden konnte. Paul war zu diesem Zeitpunkt etwas über zweieinhalb Jahre alt.

      Im Winzerort Maikammer an der Deutschen Weinstraße war eine angespannte Ruhe eingekehrt. Die Verwundeten und die Toten des Tieffliegerangriffes am Morgen waren in den etwas größeren Nachbarort Edenkoben geschafft worden, da es dort ein kleines Krankenhaus gab. In diesem Nachbarort, ebenfalls ein bekannter Weinort, befand sich übrigens, direkt neben der Kirche auf dem zentralen Dorfplatz, das Denkmal König Ludwigs I., diesem bayerischen König, der sich ein Freund der Pfälzer nannte und sich hinter dem Ort am Hang des Haardgebirges ein Sommerschloss bauen ließ. Weit weg von München genoss er von dieser, Ludwigshöhe genannten, Residenz aus, einen großartigen Blick vom umgebenden Pfälzerwald über die Weinberge hinweg in die oberrheinische Tiefebene.

      Das alles war sehr lange her, über ein Jahrhundert. Nun herrschte Krieg im Endstadium. Im Weinort, mit Anna und ihren Kindern, brach die Abenddämmerung herein. Anna kleidete die Kinder vollständig an, ehe sie diese zu Bett brachte. Diese Maßnahme hatte ihre Berechtigung, wie sich noch zeigen sollte. Es war gegen einundzwanzig Uhr, als ein Dröhnen vom Westen her vernehmbar wurde, welches ständig an Stärke zunahm. Die Luftschutzsirenen des Dorfes begannen zu heulen. Anna riss die Kinder aus dem Schlaf und zerrte die schlaftrunkenen Kleinen über den Hof des Gutes. Das Dröhnen in der Luft hatte nun ein gewaltiges Ausmaß erreicht. Paul blickte nach oben in den Abendhimmel, wo dicht an dicht im Pulk die Bombenflugzeuge in Richtung der Großstadt am Rhein flogen, um sie zu vernichten. Paul stand wie verwurzelt da, um dieses gewaltige Schauspiel zu schauen; etwas, was er nie mehr vergaß. Anna riss Paul an sich und stürzte mit ihm die Kellertreppe hinunter, die von außen aus zum Keller des Wohngebäudes führte.

      Der Kellerraum war als provisorischer Luftschutzraum ausgebaut, das heißt er war weitgehend leer geräumt und mit Bänken ausgestattet. Obwohl kein eigentliches Ziel des Luftangriffes, war es nicht ausgeschlossen, dass durch vorzeitigen, unvorhergesehenen Bombenabwurf, auch ein fast dreißig Kilometer von diesem Ziel entfernt liegender Weinort, wie etwa Maikammer, in Mitleidenschaft gezogen werden konnte. Der Kellerraum war bereits von den Mitbewohnern des Hauses vollständig belegt. Widerwillig räumte man der Mutter mit ihren drei Kindern etwas Platz frei. Paul machte dieser Raum jedes Mal besondere Angst. Es war weder die drangvolle Enge noch die stickige Luft. Nein, es war diese rote Teufelsfratze, die gegenüber seinem Platz unter der Bank hervorgrinste, welche in ihm großes Entsetzen hervorrief. In Wahrheit waren es rote Feuerwehrschläuche, die hier deponiert waren, um einen etwaigen Brand schneller löschen zu können. Der schwach beleuchtete Raum und die merkwürdig verschlungenen Schläuche konnten in der Tat mit etwas Phantasie an ein Gesicht erinnern; besonders ab dem Zeitpunkt, als das elektrische Licht ausfiel und nur flackerndes Kerzenlicht als Ersatz angezündet wurde.

      Bewegte dieses Gesicht nicht sein hässliches Maul, formten sich nicht etwa die Worte „Komm, komm, komm doch“? Paul drückte sich eng an die Mutter, die ihn mit den Worten zu beruhigen suchte: „Keine Angst Paulchen, es wird uns schon nichts passieren“. Anna versuchte dabei jedoch das leise dumpfe Grollen, das trotz der großen Entfernung des Bombardements im Keller zu vernehmen war, zu übertönen. Als sie das Wort Angst aussprach, die jeder spürte und sich in diesem Verließ mit Händen greifen ließ, zischten einige, man möge doch still sein. Paul kroch in dieser angstdurchtränkten Atmosphäre die Furcht immer weiter hoch und steigerte sich zur Panik. Die Fratze sagte zu ihm schon wieder und immer wieder: „Komm, komm, so komm doch“. Er konnte nicht mehr anders, er schrie es heraus, laut und schrill: „Nein, nein, nein, ich will nicht, ich komme nicht!“ Der ganze Keller war nun in Aufregung, die eigene Furcht brach sich Bahn. Sie schrien Anna an: „Stellen sie ihr Balg sofort ruhig“, oder, „schmeißt doch die Sippschaft raus“ und noch andere bösartige Worte fielen. Die Erlösung kam wie durch ein Wunder von den Dorfsirenen, die Entwarnung meldeten. Alles stürzte nach draußen in die Nacht, die jedoch in der Ferne erhellt wurde durch einen riesigen Feuerschein. In diesem Feuersturm ging dort die Großstadt am Rhein endgültig unter, ganz so als würde ein Höllenschlund sie verschlingen. Paul schaute mit seinen Geschwistern voller Staunen gebannt in die Richtung des grandiosen Schauspiels am Horizont, bis die Mutter sie in die Wohnung zurückholte.

      Nachdem die Wohnung in der nach Ludwig I. benannten Stadt Ludwigshafen am Rhein verloren war und der Aufenthalt bei der Oma Kati nicht von Dauer sein konnte, verfügten die Behörden einen Umzug aufs Land, weg aus der direkten Gefahrenzone. Dabei fiel die Wahl auf Maikammer, den erwähnten Weinort in der Pfalz an der Deutschen Weinstraße, unterhalb der Ludwigshöhe. Dort, und das beförderte die Genehmigung, wohnten nahe Verwandte von Annas Ehemann Emil, dessen Mutter aus diesem Ort gebürtig war, und die Winzer waren. So kam es, dass die kleine Familie (deren Oberhaupt Emil an der Westfront kämpfte, wie es hieß), hilfreich unterstützt von Annas Schwester Margarete, welche die Kinder Marga nannten, sich zu diesem Fluchtort aufmachten.

      Zunächst erfolgte eine Zugfahrt nach der größten Stadt am Fuße des Pfälzerwaldes, der Bezirksstadt Neustadt an der Weinstraße. Dort angekommen gab es ein Problem. Die Überlandstraßenbahn, welche dieses Neustadt mit dem künftigen Wohnort verband und darüber hinaus bis zum Ludwigsdenkmalort führte, war durch die Kriegsereignisse stillgelegt. Eingleisig, neben der Deutschen-Weinstraße verlaufend, war sie durch Tieffliegerangriffe beschädigt worden, die Fahrstromleitungen waren zerstört und die Fahrzeuge ausgebrannt. So waren die zwei Frauen mit den drei Kindern, Eva, Paul und Gerhard, gezwungen, die vielen Kilometer Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen. An diesem heißen Augusttag sah dieser Treck dergestalt aus, dass die zwei älteren Kinder Eva und Paul neben dem kleinen Leiterwagen, der abwechselnd von Anna und Marga gezogen wurde, einher liefen. Auf dem Wagen befanden sich die Federbetten, ein wenig Kleidung und Hausrat und obenauf der Jüngste der Familie, Gerhardle. Die Deutsche Weinstraße führte durch schier endlos scheinende Weinberge und war an diesem Tag kaum befahren. Die Sonne brannte herab auf die heranreifenden Weintrauben, die eine zwar quantitativ gute Ernte, jedoch keine besondere Qualität versprachen. Es fehlte an allen Ecken und Enden die pflegende Hand des Winzers, der in den meiste Fällen an der Front stand. Die kleine Gruppe atmete die klare Luft ein und genoss die friedvolle

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