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Vielleicht ist es dann sogar noch schlimmer: Er sieht hier, wie es sein könnte.“ Nun war er fast selbst überrascht, von der strengen Logik seiner Argumentation. Oksana war näher gekommen. Sie schien nachdenklich. „Mag ich Wagner, ist nette Mann. Wenn kommt in Eiscafé Roma, ist immer freundlich und lässt auch ganz schön Trinkgeld auf Tisch. Ich verstehe nicht, dass so eine Mann alleine ist. Sieht doch gut aus, ist höflich und – glaube ich – wie sagt man? hat hier ganz schön!“ Sie legte einen Zeigefinger an ihre Stirn. Rehles stutzte. Sieht doch gut aus? Hm. „Ja, er hat schon was im Kopf. Macht auch der Umgang.“ Der Hinweis auf das gute Aussehen von Wagner irritierte ihn. Zugegeben, Wagner sah nicht schlecht aus, aber Vorsicht vor Übertreibungen! Oksana legte ihren kleinen Finger ans Kinn und fügte hinzu:

      „Wenn kommt in Urlaub auf Ukraine, findet bestimmt eine. Sind schön die Frauen dort und… intelligent auch. Muss Urlaub machen in Ukraine, am besten kommt mal mit nach Lemberg. Findet sich leicht Fremdenführerin, zeigt ihm Stadt… und wer weiß…“ Sie lachte schelmisch und verschwand wieder in der Küche. Ihr Mann runzelte die Stirn: Fehlt mir gerade noch, dass er bei unseren Leuten aufkreuzt. Am Ende muss ich mit ihm Vodka trinken oder er plaudert aus dem polizeidienstlichen Nähkästchen…Dann geht der Schuss noch nach hinten los…

      Einige Stunden später – sie waren, auf Oksanas Wunsch, von einem orthodoxen Gottesdienst zum Jahresabschluss aus Kaiserslautern zurückgekommen – deckte Oksana festlich den Tisch. Wegen der Zeitdifferenz zur Ukraine stießen sie mehrmals auf ein Neues Jahr an. Er fürchtete, dass sie – wie schon im Vorjahr – wieder auf die Idee kommen könnte, zu Hause anzurufen und ihm gegen Ende des Telefonats den Hörer in die Hand zu drücken… Kurz vor Mitternacht gab ihr Mann ihr einen Wink, sie in den kleinen Vorgarten zu begleiten. Wie ein kleines Heer waren die Raketen schon postiert und warteten abschussbereit. Eine nach der anderen jagte er in den Nachthimmel. Die Überraschung sparte er sich für den Schluss auf. Er machte es spannend.

      „Oksana, jetzt kommt’s!“ Sie machte große Augen und hielt sich im Sicherheitsabstand. Die Raketen schossen unter Zischen in die Höhe und entfalteten prächtige Farben: Blau-Gelb!

      „Oh, sieht aus wie Flagge von meine Land!“

      Sie war sichtlich gerührt. Als die Gefahr vorüber war, trippelte sie schnell zu ihm. Dafür bekommst du extra Kuss. Was sag ich, zwei: Eine für Blau, eine für Gelb.

      10. Kapitel

      Sie war verschwunden, einfach so, hinterließ noch nicht einmal eine Nachricht auf dem Küchentisch. Sicher traf sie sich nun mit Freunden und Bekannten, um irgendwo eine rauschende Sylvesterparty zu feiern. Von ihrer Katze verabschiedet sie sich immer, krault ihr das Fell: Bin bald wieder zurück! Mich aber ignoriert sie, wie einen Mantel am Haken. Wenn man ihn braucht, benutzt man ihn, wenn er stört, gibt man ihn weg. Fühlte er zunächst Pein, so wich diese bald der stummen und hilflosen Wut eines Mannes, der sich erniedrigt fühlt. Er öffnete den Kühlschrank und schlug ihn wieder zu. Aus den Resten war kaum etwas Vernünftiges zu machen. Wohin jetzt? Er dachte an seinen Bruder, der vor einigen Jahren plötzlich verstorben war. Sein Haus stand immer für mich offen, doch diese Anlaufstelle ist für immer verschwunden. Seine Eltern waren schon länger verstorben. Der Rest der ihm noch verbliebenen Verwandtschaft stellte den Kontakt schon vor längerer Zeit ein oder zeigte offen Desinteresse. : Wohin jetzt? Ob seine Frau mit den Leuten, mit denen sie feierte, über ihn sprach? Vermutlich ignorierte sie ihn auch dort. Wer weiß, am Ende denken sie, dass ich verstorben bin. Das würde ich ihr zutrauen, dass sie eine solche Nachricht verbreitet. Er verließ die Küche und dachte nach. Sinnlos in die Stadt gehen? In den meisten Lokalen waren an solchen Tagen längst Tische reserviert: Geschlossene Gesellschaft, eine Chance, groß abzukassieren. Wer da überhaupt noch einen Platz bekam, von dem wurde erwartet, dass er ständig nachbestellte. Und was sollte er dort? Er durchquerte das Wohnzimmer und betrat die Treppe, die nach oben und in das Zimmer führte, das er als sein Arbeitszimmer deklarierte. Bei seiner Frau löste diese Bezeichnung freilich nur Hohn aus. Aber insgeheim war sie sicher froh, wenn er sich dahin zurückzog. So stand er nicht im Weg, wenn sie Besuch bekam. Manchmal drängte sie ihn dann regelrecht nach oben: Wolltest du nicht gerade hochgehen, in dein Arbeitszimmer? Dabei sprach sie das Wort mit einem Unterton aus, der ihre ganze Geringschätzung erkennen ließ. Wenn Windbeutler mir Arbeit nach Hause gibt…, ziehe ich mich in mein Reich zurück, in meine Höhle…Er trat ein und machte Licht an. Als erstes brauche ich hier einen Computer. Ja! Wenn Windbeutler mich anspricht, werde ich schon so weit sein…Sie wird Augen machen…Am besten, ich bestelle ihn bald…Wenn sie nicht da ist…

      11. Kapitel

      Einige Tage des neuen Jahres waren schon ins Land gezogen, als Hauptkommissar Puhrmann wieder einmal zu seinem schon traditionellen kleinen Sektempfang zum Anfang eines neuen Arbeitsjahres einlud. Den Zeitpunkt hierfür legte er immer auf den späten Nachmittag, so dass dem Genuss von Sekt auch für die ’Kollegen auf Streife’ praktisch nichts mehr im Wege stand. Seine Ansprachen waren berüchtigt. Er bemühte sich um aufrechte Haltung und streckte hierzu den Rücken durch. „…und so darf ich zum Abschluss noch sagen, dass ich…, dass wir wirklich erfreut sind, dass unsere frühere Auszubildende…, Sandra Schneebel − die wir ja alle als sehr lernwillige, verbindliche und …− wie soll ich sagen − Nachwuchskraft, kennen gelernt haben − dass Sandra Schneebel…, kurzum: Ich darf Ihnen allen mitteilen, dass ihre Übernahme durch ist: Ein Applaus!“ Sandra dankte artig und genoss den Beifall. Geschafft…Einer nach dem anderen trat nun alle nach vorn und schüttelte ihr die Hand. Puhrmann dirigierte danach nach vorne zum Ausschank, wo Sekt und Orangensaft in gleichen Mengen warteten. Wer konnte, machte heute sowieso früher Schluss. Als sich die meisten wieder verliefen, ging Wagner nochmals in sein Büro, hängte den alten Kalender ab, brachte einen neuen an. Auf einmal klopfte es. „Herein!“ Unter dem Türrahmen stand Rehles, der, wie es aussah, ein weiteres Jahr eng mit ihm zusammenarbeiten würde. „Auch noch da?“ Der Kommissar trat herein und streckte ihm, zu seiner Überraschung, nochmals die Hand hin: „Alles Gute noch zum Neuen Jahr!“ „Danke, Ihnen auch. Den Anfang gut verbracht?“ Darauf wollte ich eigentlich nicht zu sprechen kommen. Fehlt mir nur noch, dass er mir jetzt erzählt, wie viele Raketen er wieder geschossen hat. „Schön, dass Sandra übernommen wurde.“ „Ja, finde ich auch. Ob sie jetzt ein anderes Zimmer bekommt?“ „Glaube schon. Sie kann ja nicht ewig in diesem Kabuff bleiben.“ Wagner erinnerte sich wieder an Sandras Hilfe im ’Fall Jan Silias’. Er seufzte auf. Das war auch schon wieder eine Weile her, der arme Jan. Dann kehrten seine Gedanken wieder zu Sandra zurück. Ob sie noch ihren ‘Schaich‘ in England hat? Wie hieß der noch: Peter? Er wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu:

      „Gehen Sie auch bald nach Hause?“

      Rehles sah auf die Uhr, nickte, erhob eine Hand zum Gruß und ging seines Weges. Ich glaube, Oksana hat Recht. Für ihn muss das ganz anders sein, als für mich: Wenn er, nach der Arbeit, seine Wohnung betritt, ist niemand da. Was für ein Zuhause hat er?

      12. Kapitel

      Herr Voragin schlug ein Bein über das andere, lehnte sich bequem zurück und vertiefte sich erneut in die ’Süddeutsche’. Nach einiger Zeit setzte er seine starke Brille ab und säuberte sie penibel. Wie schön, so ein Samstagvormittag. Endlich Zeit, um in Ruhe die Zeitung zu lesen. Im Hintergrund hörte man Musik von Mike Oldfield, Tubular Bells. Er setzte die Brille gerade wieder auf, als seine Frau das Wohnzimmer betrat. „Schon vom Markt zurück?“ „Ja, wenn man früher geht, ist es noch nicht so voll und man wird schneller fertig. Immer wieder herrlich diese Fülle an Obst und Gemüse, an Brot- und Käsesorten. Allein schon die Farben!“ Er stimmte beiläufig zu und vertiefte sich wieder in einen Artikel über moderne Pädagogik, für ihn als Pädagogen geradezu eine ’Pflichtlektüre’. Seine Frau hegte eine hohe Meinung von seinem akademischen Fachhochschul-Hintergrund, während sie ihre eigene, halbtags ausgeübte Profession ’Krankengymnastin’ zu bescheiden einschätzte. Daher übernahm sie an Samstagen die Einkäufe meist selbst, wusste sie doch, dass er sich dann

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